Heute in den Feuilletons

Man kann sich nirgendwo beschweren

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.09.2009. In der SZ spricht Ai Weiwei über das eigentliche Problem in China. In ihrem Blog beschreibt die E-Book-Verlegerin Kassia Krozser, warum sie aufgibt und warum es sich lohnt weiterzumachen. Die Welt erklärt, warum Faruk Hosni als Unesco-Präsident problematsich ist, nicht nur wegen seiner antisemitischen Äußerungen. In der Zeit nimmt Thea Dorn gegen den Freitag-Aufruf zum Abzug aus Afghanistan Stellung. Die FAZ erinnert an die "Beutepartnerschaft" zwischen Hitler und Stalin vor siebzig Jahren.

NZZ, 17.09.2009

Der Sinologe Helwig Schmidt-Glintzer, der bereits auf dem Buchmessen-Symposium den Chinesen keinen "Gesichtsverlust" zumuten wollte, wirbt um Verständnis "China wollte und will immer noch Berge versetzen und die Wasser regulieren wie der Urkaiser Yugong, will ein Fünftel der Menschheit beschleunigt in die Moderne befördern - und sieht auch erste Früchte seiner Anstrengungen. Die Ungeduld des Herzens schlägt in Empörung um, wenn diese Anstrengung von außen nicht oder zu wenig gesehen wird."

Claudia Schwartz berichtet vom finanziellen Debakel, zu dem sich Michael Steiners Film vom "Sennentuntschi" entwickelt hat. Beim Tuntscheli handelt es sich laut Schwartz - und deswegen würden wir doch gern einen fertigen Film sehen - um etwas Selbstgebasteltes, mit dem sich Älpler in ihrer sexuellen Not vergnügen. Peter von Matt erinnert an den vor hundert Jahren geborenene Mediävisten Max Wehrli.

Besprochen werden eine Ausstellung zur architektonischen Antikenrezeption in der Skulpturhalle Basel, Irfan Orgas Erinnerungen "Das Haus am Bosporus" sowie auf der Filmseite der neue Animationsfilm aus dem Hause Pixar "Oben" und Hirokazu Kore-edas Familiengeschichte "Still Walking" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 17.09.2009

(via bewegliche lettern). Kassia Krozser hatte versucht, zusammen mit Kollegen einen Verlag für elektronische Bücher zu gründen. Es hat nicht geklappt. In ihrem Blog beschreibt sie die Probleme und meint am Schluss: "What we learned was that any financial model one builds for the ebook world must throw away traditional assumptions. Yeah, if you build everything around the belief that that those crazy customers will embrace your internal $26.99 price point model, then, yes, when Amazon and others start demanding better terms - and they will, they will - it?s going to kill some of your business. So it?s easier to start from the bottom, figure out what it?s going to cost, and then build the model." Und noch was: "One thing I took away from my summer of digital publishing ... is independent publishers, small press, has so much opportunity in the digital marketplace."

Es gibt neue Ideen zum Kopierschutz von Büchern, berichtet Nate Anderson auf ars technica. Eine Gruppe am Institute of Electrical and Electronics Engineers (IEEE) hat sich überlegt, wie man die Sorge um die Kopie vom Verlag auf den Käufer übertragen kann, so dass es in dessem Interesse liegt, dass sowenig Kopien wie möglich zirkulieren.

Richard Wagner interveniert in der Achse des Guten im Streit um den Freitag-Aufruf, aus Afghanistan so schnell wie möglich abzuhauen, und greift einen Satz Jakob Augsteins auf: "'Der Universalismus der Menschenrechte droht unter den Bedingungen des globalen Kapitalismus leicht zum Kultur-Imperialismus zu werden.' Habe ich etwas verpasst, in den letzten Jahren? Gab es eine von mir unbemerkt gebliebene feindliche Übernahme von Aufklärung und französischer Revolution durch das Kapital? Und ich Ahnungsloser dachte immer, da sei was mit Stalin gewesen oder gar mit Mao. Mao? Bei den Taliban, wo sogar die Pekingoper verboten war, wäre der ja ein Dissident!"

Welt, 17.09.2009

Nicht nur wegen seiner antisemitischen Äußerungen ist Faruk Hosni als Kandidat für die Unesco-Präsidentschaft problematisch, meint Sascha Lehnartz und weist darauf hin, dass Hosni "seit 22 Jahren Kulturminister einer Quasi-Diktatur ist... Man könnte ja mal den Blogger Karim Ameer fragen, der seit zwei Jahren wegen 'Missachtung der Religion' und 'Präsidentenbeleidigung' im Borg-Al-Arab-Gefängnis von Alexandria sitzt, was er von Hosnis Kandidatur hält."

Weitere Artikel: Im Aufmacher porträtiert Gabriela Walde den Fotografen Thomas Demand, dem in der Nationalgalerie eine große Ausstellung gewidmet wird. Michael Stürmer liest eine Studie der Bertelsmann-Stiftung über kulturelle Konflikte. Hannes Stein hat sich den neuesten Schmöker von Dan Brown zu Gemüte geführt. Gernot Facius schildert neueste Winkelzüge der Pius-Brüder vor den unmittelbar bevorstehenden Gesprächen mit der Katholischen Kirche.

Besprochen werden Filme, darunter Steve Jacobs' Verfilmung von J.M. Coetzees Roman "Schande".

FR, 17.09.2009

Angesichts der überraschend unprominenten Shortlist für den Buchpreis sorgt sich Ina Hartwig um den Buchmarkt, der von diesem Preis schon abhängig geworden sei: "Von der großen Herta Müller abgesehen, die über den Preis erhaben sein dürfte, eher undurchgesetzte bis unbekannte Namen. Das spricht für den Eigensinn der Jury, vielleicht sogar für ihren feinen Geschmack, aber es spricht gegen den common sense. Die auffallend hochkarätige Jury wollte offenkundig ein Zeichen setzten. Mit einer Anti-Liste."

Weiteres: Bernhard Bartsch berichtet nun auch, dass Chinas Großkünstler Ai Weiwei in München operiert werden musste, vermutlich haben die Schläge, mit denen ihn chinesische Polizisten malträtiert hatten, zu Gehirnblutungen geführt. Felix Ehring meldet, dass der Mousonturm ein eigenes Tanz-Ensemble ins Leben rufen will.

Besprochen werden Steven Jacobs Coetzee-Verfilmung "Schande", Pixars neuer Animationsfilm "Oben", Wong Kar-weis leichte revidierter Filmklassiker "Ashes of Time", eine Ausstellung zur Rückkehr der Frankfurter Schule im Jüdischen Museum und Brigitte Kronauers neuer Roman "Zwei schwarze Jäger" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Zeit, 17.09.2009

"Pazifismus, der darauf abzielt, die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen, ist ein moralischer Taschenspielertrick", bescheidet Thea Dorn die Intellektuellen, deren Forderung im Freitag nach einem Abzug aus Afghanistan beinahe ohne Reaktion verklungen wäre. Vor allem aber bringt sie das von Richard David Precht (im Spiegel) und Martin Walser (in der Zeit) angebrachte Argument auf die Palme, mit dem Einsatz werde die Sicherheit der Bundesrepublik "fahrlässig" aufs Spiel gesetzt: "Zwar hält man den Westen en gros für eine so fragwürdige Kultur, dass man ihm pauschal das Recht abspricht, sich auch mit Gewalt gegen die zu verteidigen, die ihn ihrerseits mit äußerster Skrupellosigkeit attackieren. En detail möchte man in Berlin, Köln und am Bodensee seinen Rotwein aber auch weiterhin in Ruhe genießen. Und ich frag mich, wieso der aktuelle Pazisfismus nicht ohne seinen Schatten, den Antiamerikanismus, auftreten kann. So klassifiziert etwa Precht in seinem Essay den American Way of Life als 'die erfolgreichste Massenvernichtungswaffe des 20. Jahrhundert'."

Josef Joffe kommentiert das Frankfurter Buchmessen-Debakel mit Salman Rushdie: Meinungsfreiheit existiert nicht, "ohne die Freiheit zu kränken".

Im Feuilleton zeigt sich Katja Nicodemus gar nicht einverstanden mit den beiden Siegerfilmen von Venedig, Samuel Moaz' "Libanon" und Shirin Neshats "Women without men" und fordert: "Filme, die von Opfern nur als Opfer erzählen, sollten von der Teilnahme an Festivals ausgeschlossen werden, da sich Jurys zu leicht zu Betroffenheitsgemeinschaften verbinden."

Weiteres: Für Iris Radisch ist keines der neuen Bücher über den Krebs und den Tod eines zuviel: "Warum soll in einer Gesellschaft, die sich über das Wehwehchen jeder Talkshow-Tante endlos verständigt, ausgerechnet der Tod versteckt werden?" Peter Kümmel beschleicht auf einer Tour durch das deutsche Kabarett der gespenstische Verdacht, dass zwar "Obrigkeiten und Elektorate" wechseln, nicht aber die Reflexe der Kabarettisten. Viel befreiungskämpferischen Geist spürte Hanno Rauterberg auf der Biennale von Istanbul. Von Alexander Kluge ist ein Auszug aus seinem Buch "Das Labyrinth der zärtlichen Kraft" zu lesen. Und Evelyn Finger erinnert sich an die großen Demonstrationen von 1989 in Berlin und Leipzig.

Besprochen werden Thomas Demands Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie in Berlin, die Pixar-Produktion "Oben" und auf den Literaturseiten unter anderem Bücher zum Klimawandel (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 17.09.2009

Auf der Meinungsseite erklärt der in Berlin lebende Medienunternehmer und Musiker Dmitri Paranyushkin, wie der Markt mit einem neuen System etwa aus "Creative Commons"-Lizenzen, Open Source und Filesharing Communities mit dem bevorstehenden Ende des Urheberrechts umgehen könne - und durch einen Blick nach Osten, wo Russland, "eines der weltweit größten Soziallabors" in den 1990er-Jahren ein gutes Beispiel dafür geliefert habe, inwiefern derartige Transformationen des Umgangs mit Copyrights von gesellschaftlichem Nutzen sein können. Dennoch: "Eine Welt ohne Urheberrecht ist nur dann erstrebenswert, wenn sie den Künstlern ausreichend Anreize bietet und realisierbare Geschäftsmodelle für Unternehmen bereithält, die die kreative Arbeit distribuieren und bewerben. Doch dies wird nicht dadurch erreicht werden, dass man blind veralteten Gesetzen folgt und fortschrittliche Technik verbietet."

Im Kulturteil stößt Uwe Rada in seiner Reportage über die litauische Hauptstadt Wilna, von der man hofft, sie könne zum "Straßburg des Ostens" werden oder zum litauischen Sarajevo, auf so viele Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, wie es dort Nationalitäten gibt. Spannende, junge Kunst auf der Höhe der Zeit entdeckt Dominikus Müller in der Ausstellung der vier für den Preis der Nationalgalerie für junge Kunst Nominierten im Hamburger Bahnhof. Überraschenderweise dann doch überrascht zeigt sich Dirk Knipphals von der Shortlist zum Deutschen Buchpreis, die ganz im Sinne des Preises tatsächlich drei Bücher aus dem Frühjahrsprogramm führt.

Besprochen werden die DVD von Rolf de Heers Film "Bad Boy Bubby" von 1993, die Redux-Fassung von Wong Kar Wais "Ashes of Time" und geradezu euphorisch der neue Animationsfilm "Oben" aus dem Hause Pixar.

In tazzwei ist ein Text von Elke Schmitter über männliches Turniergehabe zu lesen, ein Vorabdruck aus dem Buch "Herrschaftszeiten!". Der israelische Rockstar Aviv Geffen hofft im Interview, dass Obama Druck auf die israelische Regierung ausübt, die Siedlungen im Westjordanland zu räumen.

Und hier Tom.

SZ, 17.09.2009

SZ-China-Korrespondent Henrik Bork interviewt Ai Weiwei in einem Einzelzimmer der Neurochirurgie im Münchener Klinikum. Nicht die Schläge, die ihm die chinesische Polizei verabreichte, sind das eigentliche Problem, meint er: "Exzessive Polizeigewalt gibt es in jedem Land. Das Problem ist, dass Chinas Rechtssystem nicht unabhängig ist. Man kann sich nirgendwo beschweren, wenn man geschlagen wurde."

Und Holger Liebs erzählt, wie Ai zum politischen Künstler wurde: "Er kann vermutlich schon deshalb nicht Kunst und Regimekritik voneinander trennen, weil bereits sein Vater, der unter Mao zu Ruhm gelangte chinesische Poet Ai Qing, Ende der fünfziger Jahre in Ungnade fiel und mit seiner Familie in Arbeitslager in die Mandschurei und nach Xinjiang verbannt wurde. Der 1957 geborene Ai Weiwei musste betteln gehen und erleben, wie Passanten ausspuckten, wenn sie ihn sahen."

Im Feuilleton richtet Joseph Hanimann das Augenmerk auf die Wahl des Unesco-Präsidenten, die eigentlich nur wegen des umstrittenen ägyptischen Kandidaten Faruk Hosni ein Thema ist. Thomas Avenarius zeichnt ein Profil des Mannes, der vom ägyptischen Präsidenten Mubarak unterstützt wird. Thomas Steinfeld liest Dan Browns neuesten Verschwörungshit "The Lost Symbol". Thomas Haberkorn meldet, dass das französische Hadopi-Gesetz nun erlassen wurde, Raubkopierern droht somit die Sperrung des Internetzugangs: "Um die geschätzten 50.000 Verstöße gegen das Urheberrecht pro Jahr zu bewältigen, will die Regierung zwei Dutzend neue Richter berufen." Andrian Kreye sucht im Gespräch mit dem Musikproduzenten und Organisator einer alternativen Musikmesse Tim Renner nach Geschäftsmodellen für die Musikindustrie. Hans-Peter Kunisch berichtet vom Berliner Literaturfestival.

Besprochen werdem Andrzej Wajdas Film über das "Massaker von Katyn", Wong Kar-Wais Frühwerk "Ashes of Time", Judd Apatows Film "Funny People / Wie das Leben so spielt" über das harte Leben von Stand-Up-Comedians, zu dem Anke Sterneborg den Regisseur Judd Apatow auch interviewt, eine Retrospektive des Fotografen Max Scheler in Hamburg und Bücher, darunter Norbert Zähringers neuer Roman "Einer von vielen" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

Porsche feiert hundertsten Geburtstag, wenn man die zwölf Jahre zwischen 33 und 45 mitrechnet, die Porsche bei der Feier aber ausblendet: Das SZ-Magazin lässt den ehemaligen Zwangsarbeiter Antonius Scholte zu Wort kommen.

FAZ, 17.09.2009

Der Historiker Daniel Koerfer erzählt, wie es zur "Beutepartnerschaft" zwischen Stalin und Hitler kam, die nach ihrem Pakt gemeinsam über Polen herfielen: "Entscheidendes Signal war Anfang Mai die Ablösung Maxim Litwinows als Volkskommissar des Auswärtigen. Der verbindliche Litwinow galt als Vertreter des Konzepts der Westorientierung und 'kollektiven Sicherheit', war mit einer Engländerin verheiratet - und Jude. Stalins Schachzug, Litwinow durch Molotow zu ersetzen, verstand Hitler sofort."

Weitere Artikel: Andreas Platthaus greift Ai Weiweis Kritik am chinesischen Regime auf, dessen Polizisten ihn fast ins Koma geprügelt hätten. Weiwei wird nun in München ärztlich behandelt (wie wir gestern aus der hier ungenannten Süddeutschen Zeitung erfuhren), und beklagt eine allzu große Sympathie der westlichen "China-Experten" für ihren Gegenstand. Christian Geyer kritisiert in einem weiteren Artikel den Buchmessenchef Jürgen Boos als "Marketingphilosophen". In einer Meldung wird die Shortlist für den deutschen Buchpreis präsentiert. Kerstin Holm glossiert die Meldung, dass entlassene Arbeiter russischer Autowerke künftig mit Unterstützung der Regierung Spielzeugautos fertigen sollen (die ja auch wesentlich weniger umweltschädlich sind). Hubert Spiegel sondiert die Lage bei der Unesco, wo die Wahl des neuen Präsidenten nun unmittelbar vor der Tür steht - sie war durch die Kandidatur des Ägypters Faruk Hosni und wegen dessen antisemitischer Äußerungen ins Gespräch gekommen. Julias Spinola fragt streng, wie ernst es die Stadt München mit ihrer neuen Bereitschaft zum Gespräch mit Christian Thielemann meine. Thomas Brechenmacher schreibt zum Tod des Vornamenforschers Wilfried Seibicke. Marco Schmidt berichtet vom Festival Deauville, das Harrison Ford eine Retrospektive widmete.

Auf der Medienseite resümiert Harald Staun eine Potsdamer Tagung über Muslime in den westlichen Medien, wo es mal wieder um die Mohammed-Karikaturen ging ("der britische Journalist Peter Kellner wies auf die miese Qualität der Karikaturen hin, die man schon aus professionellem Ethos hätte verhindern müssen", schreibt Staun, der sie wahrscheinlich noch nicht gesehen hat, sonst wüsste er, dass sie nicht mieser sind als das, was sonst auch in dieser Zeitung gedruckt wird, mehr dazu hier: "Wie albern waren die Mohammed-Karikaturen?".) Und Friederike Böge berichtet über eine Streik afghanischer "Fixer", also Übersetzer und Journalisten, die ausländische Journalisten begleiten, nachdem der New-York-Times-Reporter Stephen Farrell aus den Fängen der Taliban befreit, sein Begleiter, Sultan Munadi, aber dabei erschossen wurde (zum Tod Munadis gab es einen bitteren Essay von George Packer im New Yorker: "It's always the fixer who dies". Auslandskorrespondenten der New York Times erinnern sich an ihre Zusammenarbeit mit Munadi. Stephen Farrell beschreibt die "Befreiung" in der Times. Und hier noch ein Link auf einen Blogeintrag von Munadi, in dem er erklärt, warum er nicht aus Afghanistan weggeht.)