Heute in den Feuilletons

Der späte Sieg der Sozrealisten

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.08.2009. Die NZZ liest russische Literatur und findet planes Erzählen und grob vereinfachte Weltbilder. In der FR vergleicht Slavoj Zizek den Gaza-Streifen zwar nicht, aber dann doch mit einem KZ. Die Welt studiert die Programme der Parteien und zweifelt an der Realisierbarkeit eine "Kulturflatrate". Die SZ vermisst Begeisterung fürs wieder aufzubauende Berliner Schloss.

NZZ, 28.08.2009

Es geht bergab mit der zeitgenössischen russischen Literatur, meint Olga Martynova. Keiner orientiere sich mehr am Anspruch der neunziger Jahre, in denen der Literaturbetrieb einer bunt blühenden Avantgardelandschaft glich, in der jeder dachte, schrieb und verlegte, was er wollte: "Die herrschende Literaturästhetik ist im heutigen Russland so geworden, wie sie die offizielle sowjetische Kritik seinerzeit wollte: ein sentimentales und ideologisch beladenes planes Erzählen, das mit grob vereinfachten Weltbildern operiert... Der späte Sieg der Sozrealisten!"

Weitere Artikel: Das Teatro San Materno in Ascona, bekanntestes Baudenkmal des Bremer Bauhaus-Architekten Carl Weidemayer, ist nach dreißig Jahren Verfall endlich renoviert worden, erzählt Antje Bargmann. Manfred Koch liest den Brief von Schiller an Goethe zu dessen 45. Geburtstag im Echtzeit-Blog. Julian Weber erzählt, wie der Deephouse von Pepe Bradock die Techno-Szene wiederbelebt.

Besprochen werden Schumann- und Händel-Konzerte beim Lucerne Festival und zwei Comicbände von Cosey.

Auf der Medienseite stellt Marc Zitzmann neue, innovative Webseiten aus Frankreich vor, die von entlassenen Journalisten französischer Zeitungen gegründet wurden: slate.fr, mediapart, Rue89 und Bakchich.

Welt, 28.08.2009

Wieland Freund hat die Programme der Parteien geprüft und bleibt beim Schlagwort "Kulturflatrate" doch recht skeptisch: "Selbst wenn man die Frage nach dem Einfluss nationaler Gesetzgebung auf ein globales System wie das Internet einmal beiseite lässt, steht eine Kulturflatrate vor gravierenden Problemen - solchen der schieren Durchführbarkeit, solchen der Wirtschaftlichkeit und, vor allem, solchen der Gerechtigkeit." Und: "Eine Kulturflatrate, die Tauschbörsen pauschal sanktionierte, könnte sich als Abwrackprämie aller Bezahlmodelle entpuppen."

Weitere Artikel: Michael Pilz feiert die "runderneuerte" Whitney Houston, die wieder ein offenbar hörenswertes Album vorgelegt hat und Michael Jacksons freigewordene Konzerttermine in London besetzen wird. Hanns-Georg Rodek kommentiert in der Leitglosse die gar nicht so schlechten Zahlen des deutschen Kinos (aber was genau ist deutsches Kino?). Lucas Wiegelmann wirft einen ersten Blick auf den in Hessen gefundendenen bronzenen Pferdekopf aus der Zeit der Varus-Schlacht. Gemeldet wird, dass der Architekt Hans Kollhoff gegen die Vergabe des Auftrags für den Schlossbau in Berlin an Franco Stella klagt. Und Uta Baier besucht das neue Museum für den Maler Emil Schumacher in Hagen.

In ihrer Kolumne auf der Forumsseite warnen Maxeiner & Miersch vor dem "Kleinterrorismus" entfesselter Tierschützer und Kreuzberger Autoabfackler: "Zivilcourage bedeutet nicht nur, wachsam zu sein, wenn der Staat die Bürgerrechte einschränken will. Die gleiche Aufmerksamkeit ist gefragt, wenn zivilgesellschaftliche Gruppen glauben, dass ihre Ein-Punkt-Programme wichtiger sind als die Grundrechte anderer Bürger."

FR, 28.08.2009

Der Allesdenker und jetzt auch Nahostexperte Slavoj Zizek erhebt gegen Israel wegen der Siedlungen im Westjordanland den Vorwurf der "ethnischen Säuberung" und kommentiert auch die Lage im Gaza-Streifen: "Die Palästinenser bezeichnen den Gaza-Streifen oft als 'das größte Konzentrationslager der Welt' - ein ziemlich drastischer und problematischer Vergleich, der aber im Laufe des letzten Jahres der Wahrheit gefährlich nahe gekommen ist. So sieht die Realität aus - was die hehren 'Gebete für den Frieden' im Grunde scheinheilig und obszön erscheinen lässt."

Im Interview mit Thorsten Herdickerhoff plädiert der Hamburger Historiker Bernd Wagner dafür, sich beim Gedenken an den Zweiten Weltkrieg nicht nur auf den 1. September zu konzentrieren: "Der Zweite Weltkrieg war der erste globale Krieg in dem Sinne, dass Konfliktherde in unterschiedlichen Teilen der Welt miteinander verschmolzen, woraus eine ganz neue Dynamik von Gewalt entstand. Und diese Dynamik können wir nur verstehen, wenn wir unseren Blick über die deutsche Kriegführung und das europäische Geschehen hinaus erweitern."

Auf der Medienseite nimmt Jörg Schindler eine Sonder-Ausgabe des Burda-eigenen Qualitätsboulevardblatts SuperIllu aufs Korn, die, gesponsort von der Arbeitgeber-Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, von den blühenden Landschaften im Osten schwärmt.

Besprochen werden die neue Tournee der Perkussion-Truppe Stomp, das neue Album des israelischen Musikstars Aviv Geffen und James Sallis' neuer Krimi "Dunkle Schuld".

TAZ, 28.08.2009

Maximilian Probst berichtet über die durch und durch höfliche Hausbesetzung in Hamburgs altem Gängeviertel unter Schirmherrschaft des Malers Daniel Richters ("Komm in die Gänge"). Besprochen werden das Album "Kings and Queens" des englischen Musiker Jamie T und verschiedene Techno-Alben.

In der tazzwei fährt Martin Reicher mit seinem Mann zum Kaffeetrinken bei Freunden nach Polen. Gordon Repunski kann feststellen, dass auch im Netz kein Wahlkampf geführt wird. Katia Meade und Deniz Tavli werben für Sachsens sympathischere, nicht-rechtsextreme Seite.

Und Tom.

FAZ, 28.08.2009

Andreas Platthaus spekuliert mit den Archäologen, worum es sich wohl genau beim "Sensationsfund" von Waldgirmes handelt: Teile eines Reiterstandbilds von Kaiser Augustus vielleicht? Andreas Rossmann besucht das neue "Kunstquartier" (Website) von Hagen. Für Regina Mönch ging eine Berliner Diskussion über die Kulturflatrate so ziemlich aus wie das Hornberger Schießen. In der Glosse schwärmt heute Johann Wolfgang von Goethe vom Kind an und für sich. Andreas Kilb meldet, dass eine Klage des Architekten Hans Kollhoff gegen die Vergabe des Berliner Schlossneubau-Auftrags Erfolgsaussichten zu haben scheint - damit wäre dann allerdings alles wieder offen. "Hd" berichtet, was die Salzburger Festspiele beim Blick zurück und voraus mitzuteilen hatten.

Besprochen werden die "Hommage to Benny Goodman" von Sabine und Wolfgang Meyer beim Schleswig-Holstein Musik Festival, die Ausstellung "James Cook und die Entdeckung der Südsee" in der Kunst- und Ausstellungshalle Bonn, Bohdan Slamas Film "Der Dorflehrer" und Bücher, darunter Melitta Brezniks Roman "Nordlicht" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 28.08.2009

Der Schriftsteller Durs Grünbein war auf den Spuren des Apostels Paulus in Rom unterwegs und füllt die ganze zweite Feuilletonseite mit den Eindrücken, die er in der dritten Person mitbringt. Hier der Anfang: "Natürlich war er auch darum nach Rom gekommen, um dort den Apostel Paulus zu finden. Das hatte er der alten Frau P., seiner Nachbarin aus Dresdner Kindheitstagen, im Stillen versprochen, dieser guten Seele, die sich in der schulfreien Zeit und in den Sommerferien manchmal um ihn gekümmert hatte. Er war in seinem Leben nie auf einen frommeren Menschen getroffen. Ihr Mann, ein Angestellter bei der katholischen Kirchenverwaltung in Sachsen, war auf einer der seltenen Westreisen, die ihm zugebilligt wurden, einmal in Rom gewesen, aber ohne sie. Seine Frau musste als Geisel zu Hause bleiben, für den Fall einer Republikflucht. Sie hatte die Herrlichkeiten, von denen sie gern erzählte, nie mit eigenen Augen gesehen. Und doch war das Haus, das sie als Hausfrau hütete, bis unters Dach mit Devotionalien vollgestopft, kleinen Marienbildchen und Kreuzen..."

Jens Bisky erklärt, warum das Berliner Schlossrekonstruktionsverfahren schon wieder vor einer juristischen Hürde steht. Das ist aber gar nicht das Schlimmste, meint er. Das eigentliche Problem sei ein Mangel an Enthusiasmus für das Humboldt-Konzept: "Die Architektur hält sich an die Vorgaben, gewinnt aber keinen eigenen sinnlichen Reiz, keine grandezza. Man kann das alles so machen wie geplant, aber es wird wohl wenig mehr dabei herauskommen als Bundestagsbeschlusserfüllung."

Weitere Artikel: Reinhard J. Brembeck bilanziert die diesjährigen Salzburger Festspiele musikalisch: Er ist beeindruckt von den gelungenen Außenseiterinszenierungen, vermisst aber das "Staunen der Erstbegegnung". Egbert Tholls Salzburger Theater-Resümee fällt noch weniger begeistert aus: "Keine Desaster, aber auch keine echte Verzauberung gab es in diesem Jahr." Wolfgang Schreiber macht Entdeckungen bei denLeizpiger Mendelssohn-Festtagen (Website). "Durchaus bemerkenswert" findet Johan Schloemann das in Waldgirmes von Archäologen geborgene Fragment einer antiken Reiterstatue. Catrin Lorch begutachtet nicht ohne Skepsis das teure neue "Kunstquartier" (Website) in Hagen.

Besprochen werden neue Bücher, darunter einiges zu Goethe sowie David Grossmans Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).