Heute in den Feuilletons

Vergesst die Ökumene

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.05.2009. Große Debatten über das Internet. Ist es gut, ist es böse? Die Zeit verteidigt die Intellektuellen gegen alle, die zugeben, sie nicht zu verstehen, zumindest aber gegen muehl500. Kann es sein, dass die Intellektuellen selbst die Entkoppelung von Text und Medium durch das Netz nicht verstehen?, fragt der Freitag. In der FAZ antwortet Stefan Niggemeier auf Miriam Meckel: Die Zeitungen haben die Autoren schon vor Google enteignet. In der FAZ kriecht auch Kardinal Lehmann keineswegs zu Kreuze.

Freitag, 20.05.2009

Joachim Losehand, Althistoriker, Freitag-Blogger und Open-Access-Aktivist singt die im hiesigen kulturkritischen Zähnekirschen längst mal wieder fällige Hymne auf den freien Zugang und aufs Netz, das er als Medienrevolution nicht nur mit dem Aufkommen des Buchdrucks, sondern gar mit der Schrift vergleicht. Den von vielen Intellektuellen artikulierten Phantomschmerz des verlorenen Priesterstatus kann er darum psychologisch erklären: "Rund 6.000 Jahre dialektische 'Einheit von Form und Inhalt' haben ihre Spuren hinterlassen, Tragendes (Buch) und Getragenes (Text) werden von vielen Menschen nach wie vor als Eins empfunden, das für sie untrennbar miteinander verbunden ist. Besonders geisteswissenschaftliche Autoren und ihre Verlage tun sich oftmals schwer mit der Entkoppelung von Text und Medium, deren Auswirkungen sie als negative 'Entfesselung' ablehnen. Der vom gebundenen Buch befreite Text gilt ihnen, da scheinbar unkontrolliert und dem kritischen Auge des Verlages entzogen, für qualitativ minderwertig."

Aus den Blogs, 20.05.2009

Die CDU scheint sich im Wahlkampf als Anti-Internet-Partei profilieren zu wollen - die familienpolitischen Internetsperren sind dafür ein Zeichen, ein anderes, dass man ausdrücklich Zeitungen und Zeitschriften fördern will. Robin Meyer-Lucht kommentiert in Carta: "Die Aufgabe von Medienpolitik ist es, Vielfalt und Qualität sicherzustellen, nicht einzelne Medienträger zu protegieren. Statt nur alte Medienstrukturen zu beamten, sollte sich Medienpolitik mindestens ebenso sehr dafür interessieren, wie sie die strukturellen Voraussetzungen für Qualitätsinhalte im neuen Medium fördern kann."

Ebenfalls in Carta stellt Wolfgang Michal den Dienst Scribd.com vor, eine Art iTunes für Texte: "Nach Angaben von Scribd wächst das Archiv täglich um 50.000 neue Texte. Wenn das neue Geschäftsmodell Erfolg hat, könnte es den Markt für Autoren radikal verändern."

(Via Immateriblog) Die Open-Access-Zeitschrift Libreas befasst sich in ihrer neuesten Nummer mit "Open Access und Geisteswissenschaften". Die Kunsthistorikerin Lilian Landes setzt sich mit Open Access in den Geschichswissenschaften auseinander, stellt einen ganz anderen Publikationsrhythmus als in den Naturwissenschaften fest und sieht doch Chancen für Open Access: "Nicht zu übersehen ist aber, dass es auch in den Geisteswissenschaften Genres gibt, die auf schnelle und möglichst internationale, fachspezifische Sichtbarkeit angewiesen sind, gerade im Hinblick auf eine solcherart kritisch aufeinander Bezug nehmende Wissensakkumulation: Gemeint ist vor allem die Rezension."

Schluss mit den Total-Buy-Out-Verträgen für freie Autoren, fordern die Freischreiber: "Der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) fordert ein Leistungsschutzrecht für Verlage, um sich gegen die unentgeltliche Ausnutzung ihrer Angebote im Internet wehren zu können. Mit der Praxis der so genannten Buy-Out-Verträge verhalten sich die Verlage aber kaum besser als Google. Sie nutzen ihre Marktmacht, um Fakten zu schaffen, die die Urheber praktisch enteignen."

Die deutsche Regierung hat die "Durban 2"-Konferenz zwar boykottiert, nun aber erkennt sie ihr Abschlussdokument an, berichtet das Blog Lizas Welt, das die Website der deutschen UN-Vertretung zitiert: "Dieses Dokument ist auch nach deutscher Auffassung eine akzeptable Grundlage für den weiteren Kampf gegen rassische Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit." Das Dumme ist, dass sich dieses Papier positiv auf Durban 1 bezieht: "Im Schlussdokument von Durban wurde Israel damals als einziges Land explizit erwähnt und für seine 'Besatzungspolitik' verurteilt; zudem wurde ein generelles Rückkehrrecht für die palästinensischen Flüchtlinge gefordert, für das sich alle Staaten dieses Planeten gefälligst einzusetzen hätten."

FR, 20.05.2009

Peter Michalzik wirft einen Blick auf die kommenden Programme deutschsprachiger Bühnen und sucht nebenbei nach "Germanys Next Top Theatre". In der Auswahl: Burgtheater, Deutsches Theater, Thalia Theater, Schauspiel Frankfurt. In Times mager kommentiert Ina Hartwig aus der Perspektive der vom "Verlassenheitssyndrom" geplagten Stadt Frankfurt den wahrscheinlichen Abgang der Suhrkamp-Archive nach Marbach. Daniel Kothenschulte berichtet aus Cannes über Almodovar und Bellocchio. Christian Schlüter gratuliert Hans Traxler zum Achtzigsten. Der hessische SPD-Abgeordnete Michael Roth kommentiert die Kermani-Affäre als "beschämendes Zeichen des Kleinmutes". Und das CDU-Vorstandsmitglied Yasart Bilgin empfiehlt eine Auszeichnung Kermanis.

Besprochen werden Atom Egoyans neuer Film "Simons Geheimnis" und Eckart Conzes Geschichte der Bundesrepublik Deutschland "Die Suche nach Sicherheit" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 20.05.2009

Ein wirklicher Dialog der Religionen findet noch gar nicht statt und hat im Prinzip auch nicht allzu viel Chancen, meint Gernot Facius zur Causa Kermani. Manuel Brug porträtiert den erfoplgreichen jungen Tenor Jonas Kaufmann, der am Samstag auch am Brandenburger Tor singen wird. Der Historiker Michael Stürmer erinnert an den französischen Spitzel und Polizeichef Joseph Fouche. Kai Luehrs-Kaiser gratuliert dem Oboisten und Komponisten Heinz Holliger zum Siebzigsten. Hanns-Georg Rodek findet den neuen Film von Pedro Almodavar in seiner Cannes-Kolumne "wunderbar komisch".

Besprochen werden Filme, darunter Lars Jessens Komödie "Die Schimmelreiter".

NZZ, 20.05.2009

Sind Kardinal Lehmann und Peter Steinacker wirklich die richtigen Preisträger für den Hessischen Kulturpreis, fragt sich Uwe Justus Wenzel, nachdem er die ganze Geschichte noch einmal hat Revue passieren lassen. "'Repräsentanten' der abrahamitischen Religionen hat man mit einem Kulturpreis ehren wollen. Das ist keine schlechte Idee. Aber ob es eine gute war, christlicherseits kirchliche Würdenträger ins Auge zu fassen? 'Laien' geraten vielleicht weniger schnell in Gefahr, Kultur - und sei es Religionskultur - auf ein Glaubensbekenntnis zu reduzieren."

Weitere Artikel: Alexander Pereira wird neuer Intendant der Salzburger Festspiele, meldet Peter Hagmann. Christoph Egger schreibt - noch ganz im Bann des "Antichrist" - aus Cannes. Joachim Güntner berichtet über das Urteil des Landgerichts Frankfurt zum digitalen Kopieren von Büchern durch öffentliche Bibliotheken. Ludger Lütkehaus schreibt zum Tod des Psychoanalytikers und Ethnologen Paul Parin. Christoph Funke resümiert das Theatertreffen in Berlin.

Besprochen werden Niall Fergusons Buch "Der Aufstieg des Geldes" und Irina Korschunows Roman "Langsamer Abschied" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 20.05.2009

Auf der Medienseite fasst Blogger und FAZ-Autor Stefan Niggemeier seine im eigenen Blog bereits ausführlich aufgearbeitete Kritik am Selbstverständnis der Zeitungs-Journalisten noch einmal bündig zusammen. Explizit genannt wird die FAZ in seiner Kritik nicht, die Stellen, an denen sie sich auch gemeint fühlen darf, sind freilich unübersehbar: Die Zeitungen "fordern, als sei es ein Menschenrecht, dass Autoren selbst entscheiden, was mit ihren Texten geschieht, wo sie veröffentlicht werden, wer an ihnen verdient. In diesem Empörungsgetöse blenden sie fast vollständig aus, dass die meisten freien Journalisten schon deshalb nicht von Google enteignet werden können, weil die Verlage das längst erledigt haben."
(Hier ein pdf-Link zu einem solchen Vertrag. Niggemeiers Artikel antwortet auf einen Artikel der Medienwissenschaftlerin Miriam Meckel.)

Im vorderen Teil erklärt sich nun Kardinal Lehmann in der Affäre um die Nichtverleihung des Hessischen Kulturpreises an "Dr. habil. Navid Kermani". Man wird nicht sagen können, dass er zu Kreuze kriecht. Es sieht sich vielmehr als Kämpfer gegen relativistische Gleichgültigkeit und findet, eher als ihm fehle es allen anderen in der Angelegenheit an "echter" Toleranz und Liberalität: "Das Ausmaß von Fehlinformationen und Indiskretionen, Beleidigungen und Schmähungen hat mich trotz mancher Erfahrungen sehr überrascht. Wenn nicht eine grundlegende Achtung vor der Glaubensüberzeugung anderer und Respekt vor der Andersheit des Anderen bestehen, steht es schlecht um ein wirkliches Gespräch der Religionen untereinander... 'Politische Korrektheit' ist für ein aufrichtiges interreligiöses Gespräch kein Mittel."

Im Feuilleton erklärt der Sozialwissenschaftler Gunnar Heinsohn, warum für seine Begriffe das Absenken der Kreditzinsen der Wirtschaft gar nichts bringt - außer steigende Preise aller Vermögensanlagen. Dirk Schümer hat den Regisseur Peter Stein auf seinem Grundstück in einem Städtchen im südlichen Umbrien besucht, wo dieser, nach einer finanzbedingten Absage des Turiner Theaters, seine Inszenierung von Dostojewskis "Dämonen" nun quasi privat aufführen wird. In der Glosse informiert Gina Thomas - unter der sehr schönen Überschrift "Fadfinder" - über Streit in der Royal Geographical Society, der sich an der programmatischen Abkehr von großen Expeditionsunternehmungen entzündet (mehr hier). In ihrem Bericht aus Cannes findet Verena Lueken den neuen Almodovar-Film "Los Abrazos Rotos" zwar "stilsicher", allein es fehlt die "Seele". Jordan Mejias liest in amerikanischen Zeitschriften verschiedene Artikel zur Auswirkung der Finanzkrise. Felicitas von Lovenberg hält fest, dass sowohl das Literaturarchiv Marbach als auch die Universität Frankfurt sich für das Suhrkamp-Archiv, sollte es denn tatsächlich zum Verkauf stehen, interessieren würden. Martin Kämpchen informiert über Intellektuelle, die sich bei der Wahl in Indien mit mehr oder weniger Erfolg engagierten. Jürg Altwegg meldet, dass die NZZ offiziell gegen die Wieder-Aberkennung des Hessischen Kulturpreises an Navid Kermani protestiert. Er schreibt auch zum Tod des Psychoanalytikers Paul Parin.

Besprochen werden die Nijinski-Ausstellung "Tanz der Farben" in der Hamburger Kunsthalle und Bücher, darunter die "Philosophischen Texte" des Jürgen Habermas in fünf Bänden im Schuber (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Spiegel Online, 20.05.2009



Im Interview mit Spiegel Online gibt Heinrich August Winkler eine glasklare Antwort auf die Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei: "Ich glaube, der Begriff Unrechtsstaat lässt sich klar definieren. Ein Unrechtsstaat ist nach meiner Überzeugung gegeben, wenn in einem Land die Menschen- und Bürgerrechte nicht gewährleistet sind, wenn keine Gewaltenteilung, also auch keine unabhängige Justiz existiert - wenn man also sein Recht nicht einklagen kann und auch keine Möglichkeit hat, in freien Wahlen gegen die Regierung zu stimmen. Alle diese Voraussetzungen waren in der DDR nicht gegeben - also würde ich die DDR als Unrechtsstaat bezeichnen."

Zeit, 20.05.2009

Im Internet ist der Intellektuelle dem "Neid der Amateure" ausgesetzt, klagt Adam Soboczynski, den diese "Bildungsfeindlichkeit" an die "beiden sozialistischen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts" erinnert. Anlass dieses Artikels ist offenbar der Kommentar eines Zeit-Lesers, der unter dem Namen muehl500 eine Buchbesprechung Soboczynskis als "seelenlos und gefühlsarm" (Kommentar 6) und "akademisch anmutende Wortakrobatik" (Kommentar 7) kritisiert hat. Soboczynski informiert muehl500 nun, wen er eigentlich vor sich hat: "Da der Intellektuelle aus der Mehrheitsdemokratie geistesaristokratisch herausragt, ist er der Einzige, der die Bedingungen der Staatsform, in der er lebt, zu reflektieren vermag. Er stabilisiert Demokratie, indem er sich ihr wesenhaft entzieht."

Weitere Artikel: Thomas Assheuer bezieht im Streit um den Hessischen Kulturpreis Position für Navid Kermani. Der argentinische Schriftsteller Alberto Manguel denkt über Folter, Barack Obama und Dante nach. Ulrich Raulff erklärt in einem sehr diplomatischen Interview, warum es äußerst sinnvoll wäre, wenn das Suhrkamp-Archiv nach Marbach käme. Katja Nicodemus schickt einen Zwischenbericht aus Cannes. Hanno Rauterberg findet das Brandhorst-Museum in München "staatstragend". Klaus Harpprecht empfiehlt dem Evangelischen Kirchentag: "Vergesst die Ökumene" - jedenfalls so lange Papst Benedikt die Protestanten nicht anerkennt. Peter Kümmel besucht anlässlich der Festwochen die "lebenswerteste Stadt der Welt", Wien. Alexander Cammann begutachtet die Hinterlassenschaft des Historikers Reinhard Koselleck in Marbach und Marburg. Im Zeit-Museumsführer widmet sich der Kunsthistoriker Frank Zöllner Werner Tübkes Selbstporträt "als bulgarische Ikone" - Tübke, der eine echte Ikone übermalt hat, wäre im Internetzeitalter als grauenvolles Beispiel eines blutsaugenden Plagiators gegeißelt worden. Benedikt Erenz schreibt zum Tod des österreichischen Karikaturisten Paul Flora. Josef Bierbichler schreibt zum Tod der Schauspielerin Monica Bleibtreu.

Besprochen werden Rene Polleschs neues Stück "Wenn die Schauspieler mal einen freien Abend haben wollen, übernimmt Hedley Lamarr" mit Harald Schmidt, der Briefwechsel zwischen Jünger und Scholem, der in Sinn und Form abgedruckt ist, und Bücher, darunter Walter Kappachers Roman "Der Fliegenpalast" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Außerdem: Im Dossier fragt Wolfgang Uchatius: Warum brauchen wir Wirtschaftswachstum? Und Günter Grass erinnert sich in der Reihe "Mein Deutschland" an die Beerdigung Heinrich Bölls 1985.

SZ, 20.05.2009

Aus Anlass des Vatertags unterhält sich Alex Rühle mit dem Psychoanalytiker und Kollegen Alexander Mitscherlichs Helmut Thomä (88), seinem Sohn Dieter Thomä, der ein Buch über die Geschichte des Vaterbegriffs geschrieben hat, und seinem Sohn Jakob, der in London studiert, über Vaterschaft einst und jetzt. Petra Steinberger liest eine UN-Studie über den Zusammenhang von Urbanisierung und Naturkatastrophen. Matthias Drobinski schreibt über eine Annäherung zwischen bayerischen Baptisten und Lutheranern, die nun die Kirchengemeinschaft anstreben. Susan Vahabzadeh schreibt in ihrer Cannes-Kolumne über die neuen Filme von Pedro Almodovar (Trailer auf Youtube) und Marco Bellocchio (Trailer). Heribert Prantl gratuliert dem Zeichner Hans Traxler zum Achtzigsten. Gemeldet wird, dass sich Uwe Tellkamp in einem Rundschreiben an Medien gegen die Wiederveröffentlichung seines Erstlingsromans "Der Hecht, die Träume und das Portugiesische Cafe" durch den Verlag Faber und Faber wehrt. Gerhard Matzig schreibt zum Tod Ragnar Tessloffs, des Erfinders der "Was ist was"-Reihe. Alexander Pereira wird neuer Intendant der Salzburger Festspiele, meldet Reinhard J. Brembeck.

Besprochen werden der Film "Public Enemy No. 1 - Todestrieb", der zweite Teil des Films über Jacques Mesrine, Atom Egoyans neuer Film "Simons Geheimnis" (dazu gehört auch ein kleines Interview), Bücher, darunter Nicolas Dickners Roman "Nikolski" (hier eine Leseprobe) über Quebec und seine Einwanderer und eine Jenny-Holzer-Installation in New York.

TAZ, 20.05.2009

Die taz präsentiert auf ihrer Webseite noch die Ausgabe von gestern. Hier die Zusammenfassung von heute, ohne Links:

Alessandro Topa porträtiert den piemontesischen Folksänger Gianmaria Testa. Cristina Nord schickt ihre Cannes-Kolumne. Ira Mazzoni besichtigte das Museum Brandhorst. Und Katrin Bettina Müller schreibt den Nachruf auf Paul Parin.