Heute in den Feuilletons

Ich spürrre nichts

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.05.2009. In der Welt meldet die Autorin Julia Franck literarische Bedenken gegen das Internet an. Die FR hat David Attenborough nach den Kreationisten gefragt. Die Antwort kriecht als Wurm durch das Auge eines afrikanischen Kindes. Den Leipzigern soll eine Demokratieglocke schlagen, berichtet die NZZ. Stefan Niggemeier platzt der Kragen über die Qualitätsjournalisten. Alle Zeitungen freuen sich auf das krisenbedingt ein wenig gerupfte Festival von Cannes.

FR, 13.05.2009

Julia Kospach unterhält sich mit dem großen alten Tierfilmer David Attenborough, der eisenhart daran festhält, dass Darwins Theorie der "natürlichen Selektion" der Wahrheit entspricht. Kreationisten, die ihn kritisieren, antwortet er: "Die Kreationisten haben immer schöne Lebewesen wie Kolibris im Kopf, wenn sie an die Schöpfungsgeschichte denken. Ich antworte dann immer, dass ich an ein Kind in Ostafrika denken muss, in dessen Augapfel sich ein Wurm eingegraben hat. Dieser Wurm kann nur auf diese eine Weise existieren - indem er sich durch Augäpfel gräbt. Ich finde es ziemlich schwierig, das mit der Vorstellung von einem gütigen, göttlichen Schöpfer in Einklang zu bringen."

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte schreibt den Eröffnungsartikel über Cannes. Besprochen werden die Verfilmung der "Illuminati" und eine neue CD der Band Maximo Park. Auf der Medienseite berichtet Bernd Buder über die schwierige Lage der Medien in Georgien, die von der Politik drangsaliert werden.

NZZ, 13.05.2009

Joachim Güntner berichtet über den Wettbewerb für ein Einheitsdenkmal in Deutschland. Nicht nur in Berlin, auch in Leipzig soll eins aufgestellt werden. Und das ist noch nicht alles! "Fest steht schon jetzt, dass die Innenstadt eine 'Demokratie-Glocke' erhält, die dann regelmäßig schlägt. Das Ding in der Form eines Eis wird in der Fußgängerzone stehen und nach Auskunft der Stifter aus einer Tonne spezieller Bronze gefertigt sein, 'die das Objekt sehr goldig aussehen lassen wird'. Die Demokratie, ein goldenes Ei. Müssen wir uns die Montagsdemonstranten als Hühner vorstellen? Da ist niemand unter den Leipziger Kommentatoren, den wir 'Wahnsinn!' stöhnen hören."

Weitere Artikel: Christoph Egger stellt das Festivalprogramm von Cannes vor. Fakhri Saleh fasst arabische Reaktionen auf den Papstbesuch im Nahen Osten zusammen. Klaus Bartels untersucht die Etymologie des Worts "Oase".

Besprochen werden Händels von Rene Jacobs dirigierte Oper "Orlando paladino" in Berlin (zieht sich schwer in die Länge, meint Peter Hagmann) und Bücher, darunter Carsten Jensens Seefahrer-Roman "Wir Ertrunkenen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 13.05.2009

Die neueste Zeitungspropaganda in eigener Sache geht auch Stefan Niggemeier mächtig auf die Nerven, der in seinem Blog (aber nicht in der FAZ!) auf den FAZ-Artikel von Miriam Meckel zu den großartigen Qualitäten unseres Qualitätsjournalismus antwortet: "Wenn der Zeitungsjournalismus so wäre, wie er in den vielen Zeitungsjournalismus-Verteidigungstexten beschrieben wird, dann müssten Zeitungen zum Beispiel in der gegenwärtigen Auseinandersetzung um die Zukunft des Urheberrechts der Ort für die gepflegte Debatte sein, allen begründeten Standpunkten ihren Raum geben, abwägen und differenzieren und die eigenen Interessen deutlich machen. Ich sehe stattdessen an vielen Stellen Zeitungen als Propagandainstrumente in eigener Sache, die einseitig und penetrant Stimmung machen und dabei grotesk übertreiben. Es ist das Gegenteil einer vertrauensbildenden Maßnahme."

Das Wirtschaftministerium veranstaltet zur Zeit Hearings der sogenannten Kreativindustrien, wo es sich brav von den Lobbyisten behämmern lässt. Diesmal war die Musikindustrie dran. Das klingt in Robin Meyer-Luchts Stimmungsbericht auf Carta so: "Ausgerechnet die Musikindustrie: Ausgerechnet eine Branche, die über Jahrzehnte das Aufbegehren verkauft hat - sie hadert nun damit, nicht mehr zu technologischen Avantgarde zu gehören und den Staat anzurufen. Sie wäre so gerne die glanzvolle, postindustrielle Zukunftsindustrie. Doch an diesem Tag ist die Musikindustrie 'Leitbranche für die Kreativindustrie' nur beim Thema Ratlosigkeit über die Digitalisierung."

In Frankreich ist die Loi Hadopi verabschiedet worden. Downloadern von Musik kann jetzt das Internet abgeschaltet werden, ohne dass France Telecom auf ihre Abogebühren verzichten muss. Im Blog Rue89 meldet sich unter Pseudonym ein Manager der Musikindustrie zu Wort, der meint, dass die Autoren des Gesetzes auf dem falschen Planeten leben: "Der musikalische 'Content', so ist das nun mal, ist nichts mehr wert. Aber die Musik selbst hat einen Wert. Als Radiohead ein Album ins Netz stellte und die Fans entscheiden ließ, wieviel es ihnen wert ist, kamen sechs Dollar heraus, obwohl sie es kostenlos hätten haben können... Der musikalische Wert hat sich vom 'Content' auf die Beziehung zwischen einem Künstler und seinen Fans verlagert. Sie ist es, die heute rar und nicht reproduzierbar ist. Sie hat einen ökonomischen Wert."

(Via BoingBoing) Jeremie Zimmermann, Mitbegründer von La Quadrature du Net erklärt, warum das gerade verabschiedete Loi Hadopi eine Totgeburt ist: "HADOPI is legally dead because it opposes to fundamental principles of French and European law, including the respect of a fair trial, principle of proportionality and separation of powers. European Parliament has also for the 4th time recalled its opposition to the French text by voting again amendment 138/46, thus voiding the French HADOPI. The law is also not respecting requirements of French constitution regarding a due process, equality in front of the law, and legality of the law, which the Constitutional Court will now have to judge." Hier die französische Version.

Welt, 13.05.2009

Nicht nur dass sich im Internet Kinderpornografen, Amokläufer, Raubkopierer und Kannibalen tummeln, es wimmelt auch noch von literarischen Banausen, die Qualitätsautorinnen wie Julia Franck das Leben schwer machen. Im Interview mit Uwe Wittstock schildert sie die neue Lage so: "Für jeden,der schon immer darunter gelitten hat, dass seine Manuskripte von Verlagen abgelehnt werden, ist das ein grandioses Versprechen. Wer will sich schon von einer qualitativen Auslese ausgegrenzt sehen? Anders als Luft und Wasser haben sich Ästhetik und kulturelle Qualitätsmerkmale nur durch jahrtausendelange Zivilisation herausgebildet. Beides könnte implodieren." Darum hat Franck den "Heidelberger Appell" unterzeichnet.

Weitere Artikel: Uta Baier besucht das Museum für die Sammlung Brandhorst in München. Berthold Seewald bringt zwiespältige Nachrichten aus dem Kölner Stadtarchiv - es ist mehr erhalten als befürchtet, aber zehn bis 15 Prozent sind nicht zu retten, und vor allem ist die Ordnnung des Archivs dahin. Hanns-Georg Rodek schreibt den Einführungsartikel für das beginnende Festival von Cannes, das die üblichen Autorenfilmer und in diesem Jahr besonders wenig Filme aus den USA präsentiert. Dankwart Guratzsch berichtet über die Entdeckung eines antiken Schlachtfelds bei Northeim. Manuel Brug porträtiert den Regisseur Guy Cassiers, der zusammen mit Daniel Barenboim an der Lindenoper einen neuen "Ring" inszenieren wird.

Besprochen wird die Uraufführung eines neuen Werks von Salvatiore Sciarrino (nach Kafka) in Wuppertal.

Auf der Magazinseite unterhält sich Peter Zander mit Michael Ballhaus, der einen Dokumentarfilm über Berlin, die Stadt, in der er geboren wurde, dreht. Auf der Forumsseite erkennt der gerade in Hangzhou weilende Hans-Christoph Buch Anzeichen für eine entstehende Zivilgesellschaft in China (eine Nachricht, über die sich einsitzende Dissidenten und Falun Gong-Anhänger sicher freuen werden).

TAZ, 13.05.2009

Der "Heidelberger Appell" dient nur dazu, unter dem "Deckmantel des Urheberrechts ... überkommene Geschäftsmodelle der Verlage" zur retten, schreibt der Kunst- und Medienwissenschaftler Stefan Heidenreich. "Dabei geht es nicht um das Urheberrecht, sondern darum, es kaufen und nutzen zu können. Und zwar zu dem einfachen Zwecke, die Zirkulation der Texte künstlich zu beschränken. Nun treten wir aber in eine Zeit ein, in der das Kopieren und Verteilen von Texten wenig Mühe macht und keinerlei Kosten mehr verursacht. Das Urheberrecht kam aber unter anderen Vorgaben und vor allem unter ganz anderen technischen Gegebenheiten zustande. So zu tun, als könnten wir es einfach auf das Internet übertragen, verlangt im Kern, die Verbreitung der Daten insgesamt zu kontrollieren und gegebenenfalls anzuhalten. Das wäre ungefähr so, als hätte man bei der Erfindung des Buchdrucks verlangt, es dürften nie mehr Bücher gedruckt werden, als sich von Hand in der gleichen Zeit schreiben lassen."

Weiteres: Cristina Nord schickt einen Vorabbericht aus Cannes. Besprochen werden Jazz-CDs des Trios Codona und Ron Howards Verfilmung der "Illuminati".

Schließlich Tom.

Perlentaucher, 13.05.2009

Nach den Heidelberger Appellierenden hat nun auch die Berliner Akademie der Künste ein Papier zum Urheberrecht vorgelegt. Thierry Chervel schlägt eine Diskussion zum Thema in der Akademie vor, die ausnahmsweise auch mal die Rolle der Verwerterindustrien miteinbezieht: "Das Urheberrecht sollte dazu dienen, die Urheber zu schützen, aber nicht dazu, etwa durch Mästung der Verwerter mit immer längeren Schutzfristen, die freie Zirkulation der Ideen zu verhindern. Ist es hinnehmbar, dass ausgerechnet jene Industrien, die in ihrer Eigenschaft als Säule der Demokratie neuerdings Artenschutz verlangen, die Zirkulation der Ideen durch immer neue Copyrightregeln und -gebühren erschweren?"

FAZ, 13.05.2009

Dietmar Dath war beim Frankfurter Metallica-Konzert und berichtet beseligt: "Überhaupt verschenkt das Quartett zwischen den schweren Stiefeltritten, für die es bezahlt wird, gar nicht so selten Augenblicke, die man rührend, womöglich sogar lieb nennen muss: 'Broken, Beat and Scarred', ein Stück über echte Schmerzen (wie in: Trink mal Säure, iss mal Glasscherben, dann weißt du, was echte Schmerzen sind!), wird von Hetfield angekündigt als Bekenntnis zum heiligen Bund zwischen Metallica und uns, dem krawalltrunkenen Pöbel - es tut weh, aber es ist Liebe, ihr Hunde! "

Online freut sich Jürg Altwegg darüber, dass in Frankreich jetzt Raubkopier-Wiederholungstätern der Internet-Zugang abgeklemmt werden darf - und weigert sich nach wie vor, zur Kenntnis zu nehmen (bzw. zu geben), dass das "Hadopi"-Gesetz sehr wohl auch unter Kulturschaffenden extrem umstritten ist. Aber solang man komplexe Problemlagen auf schöne Merksätze bringen kannn: "Solange eine Gesellschaft an ihrer Freiheit und am Privateigentum festhält, sollte sie die Autorenrechte schützen."

Auf Seite 1 der FAZ sieht der ehemalige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm die Presse in "Gefahr", und meint, man müsse über "staatliche Hilfen" nachdenken. Die FAZ hat auch schon eine Auswahl von zu subventionierenden Zeitungen getroffen: "Subventionen kämen nur für Blätter in Frage, welche die Funktion deretwegen man sie erhalten wolle, auch erfüllten." (Könnte es sein, dass diese Zeitung dazu gehört? Das Interview lässt sich nach einigem Suchen unter diesem Link auch als Video betrachten.)

Weitere Artikel: Verena Lueken blickt voraus auf ein etwas abgespecktes Filmfestival, das in Cannes heute Abend beginnt. In der Glosse hat Edo Reents Spaß mit der Vertwitterung von Weltliteratur. Andreas Rossmann berichtet von einem Info-Empfang für die Leihgeber des Kölner Stadtarchivs. Kurz gemeldet wird, dass nach Volker Weidermanns FAS-Artikel zur Nazi-Vergangenheit seiner Autoren das u.a. Tucholsky-freie Handbuch "Daten deutscher Dichtung" nun endlich aus dem Verkehr gezogen wird. Auf der Medienseite äußert Oliver Jungen gewichtige Zweifel (mindestens) an der Wirksamkeit der Pläne Ursula "Zensursula" von der Leyens zur Zwangsumleitung potenzieller Besucher kinderpornografischer Seiten. Auf der DVD-Seite werden Henri-Georges Clouzots "Picasso", Luis Bunuels "Dieses obskure Objekt der Begierde", Abel Ferraras "Begräbnis" und Yasujiro Ozus letzter Film "Ein Herbstnachmittag" zur Anschaffung empfohlen.

Besprochen werden drei Uraufführungen (Pollesch: "JFK", Hilling: "Radio Rhapsodie", Bärfuss: "Amygdala") in der langen Nacht der Autoren am Hamburger Thalia Theater, eine Aufführung der Barockoper "Argenore" der Markgräfin Wilhelmine als "Diner-Spectacle" in Bayreuth (Jan Brachmann beklagt sich übers Publikum, in dem "einige Damen ihre Gurgeln betätigten wie Ziergeflügel in einer fürstlichen Parkvoliere"), die Ausstellung "Karl Bodmer. Ein Schweizer Künstler in Amerika" in Zürich und Bücher, darunter Jonathan Coes Roman "Der Regen, bevor er fällt" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 13.05.2009

Jesus! "Das Filmfest in Cannes, von deutschen Visionen dominiert?" So lautet die Unterzeile zu Tobias Kniebes Vorabbericht. Aber dann sind es doch nur drei Filme, die mit Deutschland zu tun haben: Lars von Trier drehte im finstren Wald von Nordrhein-Westfalen, Michael Haneke erzählt ein Bauerndrama aus dem protestantischen Norden, kurz vor Ausbruch des ersten Weltkriegs, und Quentin Tarrantino zeigt "Inglourious Bastards", einen Film über Naziskalpjäger mit Brad Pitt als Anführer: "Beim Dreh in Babelsberg, hört man, habe Tarantino durchaus lustvoll mit dem Feuer gespielt. So soll er zum Beispiel eine Originalbrille Hitlers aus einer Privatsammlung in den USA organisiert haben, um sie seinem Hitler-Darsteller Martin Wuttke aufzusetzen. 'Ich spürrre nichts', sprach der darauf - im Originalton des 'Führers'."

Weitere Artikel: Jeanne Rubner besucht die französische Elitehochschule ENA, die Nicolas Sarkozy mit ein paar Abkömmlingen aus der Banlieue aufmischen will (unnötig, findet Rubner, das gehobene Bürgertum habe sich schon längst selbst modernisiert). Gustav Seibt war dabei, als der Spiegel-Redakteur Jan Fleischhauer seinen (schon dank der Beihilfe der Kollegen) programmierten Bestseller "Unter Linken" vorstellte und fand das Buch "gut geeignet für die nächste Sendung bei Anne Will oder Frank Plasberg". Thomas Steinfeld informiert uns über die Ausgabe von "The Legend of Sigurd und Gudrun" aus dem Nachlass Tolkiens (mehr im TLS). Alex Rühle berichtet kurz über ein kleines Scharmützel um Wikipediaart.org. Christine Dössel berichtet vom Stückemarkt des Berliner Theatertreffens. Bettina Ehrhardt erinnert an die "nobelste und berühmteste" Mäzenin der Neuen Musik, Betty Freeman, die Anfang des Jahres starb. Fritz Göttler gratuliert Harvey Keitel zum, schluck, Siebzigsten.

Für die Medienseite hat Willi Winkler herausgefunden, dass man auf Spiegel.de über den kooperierenden Buchhändler libri.de (wie bei jedem anderen Buchhändler) auch Bücher rechtsextremen Inhalts erwerben kann.

Besprochen werden Ron Howard Verfilmung des Dan-Brown-Bestellers "Illuminati", die Uraufführung von Rupert Hubers "Mein Venedig" durch den br-Chor, Peter Konwitschnys Bühnenprojekt mit dem Bariton Dietrich Henschel zur Bach-Kantate "Ich habe genug" in Leipzig (Wolfgang Schreiber ist absolut hingerissen) und Bücher, darunter Richard Holmes' bisher nur auf Englisch erschienenes Buch "The Age of Wonder - How the Romantic Generation Discovered the Beauty and Terror of Science. Harper Press" und Eric-Emmanuel Schmitts Roman "Als ich ein Kunstwerk war" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).