Heute in den Feuilletons

Schweigen ist anstrengend

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.05.2009. Für die Welt liest Hubertus Knabe die Akten der Stasi-Verhöre Jürgen Fuchs'. Bundesjustizministerin Brigitte Zypries stimmt dem "Heidelberger Appell" zu, will ein Leistungsschutzrecht für Zeitungen und fordert strengere Kontrolle im Netz, berichtet Heise. Die FR druckt ein Youtube-Interview mit Condoleezza Rice, die ganz genau erklärt, warum Waterboarding gar keine Folter sein kann. Die SZ besucht die europäische Google-Zentrale. Im Tagesspiegel erklärt Jury-Mitglied Thomas Brussig, warum es mit dem Einheitsdenkmal nicht werden konnte.

Tagesspiegel, 08.05.2009

Der Schriftsteller Thomas Brussig gehörte zur Jury für ein Einheitsdenkmal, die unter 532 Entwürfen nichts Realisierbares fand, und schreibt im Tagesspiegel etwas kleinlaut, nicht die Künstler, sondern die Jury hätte versagt. Auf die selbstgestellte Frage, ob die Vorgaben für das Denkmal überfrachtet gewesen seien, antwortet er: "Freiheits- und Einheitsstreben der Deutschen seit der Varusschlacht bis in die Zukunft, wobei auch die europäische Komponente nicht vernachlässigt werden darf, in einem gleichermaßen zeitgenössischem wie zeitlosen Entwurf darzustellen - das in etwa wurde erwartet."

Aus den Blogs, 08.05.2009

In einer Rede auf einer Berliner Urheberrechtskonferenz hat die Bundesjustizministerin Brigitte Zypries in allen Punkten die Internetkritiker aus den alten Medien unterstützt, berichtet Heise: Sie stimmte dem "Heidelberger Appell" gegen das Einscannen vergriffener Bücher zu, forderte ein Leitungsschutzrecht für die Zeitungen und drohte mit strengerer Zensur und Kontrolle: "Angesichts der 'zahlreichen Verletzungen des geistigen Eigentums im Internet' fragte sich die Ministerin auch, ob beispielsweise eine stärkere Regulierung des Netzes erforderlich ist. So werde es die Politik sicher 'die nächsten Jahre beschäftigen', was aus den geplanten Sperren kinderpornografischer Seiten 'folgen wird', schloss sie eine Ausweitung auf illegale Angebote geschützter Werke zumindest nicht komplett aus."

(Via Indiskretion Ehrensache) Der Silicon Alley Insider mag Google News:"Why? Because when Google News lists one of our stories in a prominent position, our servers start smoking as thousands upon thousands of global readers immediately start reading it. When this happens, we don't wail and moan about those sleazy thieves at Google. We shout, 'Yeah, baby!'"

Owen Thomas zeichnet in Valleywag die neuesten Wendungen in zwei möglichen Antitrust-Verfahren gegen Google nach. Das eine könnte die Buchsuche betreffen, das andere Googles Verbindung zu Apple: Im Vorstand von Google und Apple sitzen zum Teil dieselben Leute. "Google makes an operating system for mobile phones, but it's free, so it's hard to argue that, say, T-Mobile's G1 Googlephone competes with Apple's iPhone. But that's a red herring. The real problem is the potential for collusion in mobile search. Google used to brag about how much search traffic the iPhone generated for it - 50 times more than any other handset, Google executives said last year. One hasn't heard Google trotting out those kinds of statistics lately."

Welt, 08.05.2009

Vor zehn Jahren starb Jürgen Fuchs. Hubertus Knabe, Leiter der Gedenkstätte Hohenschönhausen, hat die Akten seiner Vernehmung durch die Stasi gelesen, die ihn in den Jahren 1976 und 77 monatelang verhörte - ohne Erfolg: "Der Schriftsteller entwickelte nämlich eine ungewöhnliche Gegenstrategie und verfiel monatelang in Schweigen. Die Aussageverweigerung bedeutete eine enorme psychische Belastung. In seinem Roman 'Magdalena' schrieb er später: 'Schweigen ist anstrengend und auch gefährlich. Die Psychose winkt, der eigene geschlossene Raum, der Einschluss nach innen.' Im Dezember 1976 erlitt er einen Kreislaufkollaps und kam ins Haftkrankenhaus."

Weitere Artikel: Berthold Seewald zitiert neue Forschungsergebnisse zur Varusschlacht. Eckhard Fuhr schlägt in der Leitglosse eine kleine Reise nach Thüringen zu den Schiller-Gedenkorten vor. Arnulf Baring liest Jan Fleischhauers Bekenntnisbuch "Unter Linken". Rainer Haubrich liest den Abschlussband der monumentalen Reihe "Berlin und seine Bauten". Und Uta Baier zitiert eine Recherche der Zeit, wonach die Preußen-Stiftung den sogenannten "Welfenschatz" mit religiöser Kunst des Mittelalters an die Erben jüdischer Kunsthändler wird zurückgeben müssen.

Besprochen werden die große Ausstellung mit Van-Gogh-Landschaften in Basel, Ereignisse der Kurzfilmtage in Oberhausen und eine neue CD des Balladensängers Robin Proper-Shepard.

FR, 08.05.2009

Die FR druckt ein Interview ab, bei dem zwei Studenten Condoleezza Rice mit Fragen zu Guantanamo und Folter ganz schön in die Mangel nehmen: "Frage: 500.000 starben im Zweiten Weltkrieg, und trotzdem haben wir damals keine Kriegsgefangenen gefoltert! - Und wir haben diesmal auch niemanden gefoltert. - In Guantanamo wurde aber gefoltert. - Nein. Nein, mein Lieber. Das stimmt nicht. Wir haben niemanden gefoltert. Übrigens wurde Guantanamo von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa als ein vorbildliches Gefängnis der mittleren Sicherheitsstufe bewertet. Haben Sie das gewusst? (...) OK. Ist Waterboarding Folter? - Ich habe gerade schon gesagt, dass man die Vereinigten Staaten, dass man uns angewiesen hatte, nichts zu unternehmen, was gegen die Antifolterkonvention verstößt. Deswegen ist es also per Definition so, dass eine Anordnung, die vom Präsidenten kam, gar nicht gegen die Antifolterkonvention verstoßen konnte."

Zu sehen ist das Ganze auch auf YouTube:



Weiteres: In Times mager hat Christian Schlüter die Nase voll von von Kleinaktionären und anderen Klugscheißern. Julia Kospach berichtet von einer Tagung zu schwedischer Literatur in Wien. Erik K. Franzen begrüßt das neue Besucherzentrum der KZ-Gedenkstätte Dachau.

Besprochen werden der eine nun auch in Frankfurt Inszenierung von Tschechows "Onkel Wanja" von Thorsten Lensing und Jan Hein und ihrem Theater T!, die Uraufführung von Daniel Schnyders semi-afrikanischem Heldenepos "Sundiata Keita", Mauro Bigonzettis Händel-Choreografie beim Movimentos Festival in Wolfsburg und Irene Disches Roman "Ein Job".

NZZ, 08.05.2009

Auf der Medienseite begrüßt Heribert Seifert sehr, dass Zeitungen ihre Archive jetzt online zugänglich machen (was sich bei 200 Jahre Geschichte wie der Times und New York Times auch wirklich lohnt). So einfallsreich sind natürlich nicht alle: "Als Google sein Google News Archive startete und ankündigte, künftig weltweit Zeitungsarchive zu digitalisieren und kostenfrei anzubieten, attackierte die FAZ dieses Vorhaben heftig als parasitär. Die Zeitung vermarktet bis anhin ihr Archiv allein, wenngleich ohne sonderliche Marketinganstrengung. Andernorts scheint man in Zeiten, in denen die Gegenwart der Blätter eher düster umwölkt ist, sich mit mehr Engagement an die prächtigen Schätze in den Archiven zu erinnern."

Günter Seufert berichtet im Feuilleton von dem Prozess, der dem türkischen Schriftstellers Nedim Gürsel wegen "Verunglimpfung religiöser Werte" in der Türkei gemacht wird. Gürsels jüngster Roman "Allahs Töchter" soll den Propheten und alle monotheistischen Religionen beleidigt haben. "'In Frankreich und anderen zivilisierten Ländern gibt es solche Prozesse seit 200 Jahren, seit der Zeit Voltaires, nicht mehr', sagte Nedim Gürsel vor der türkischen Presse. Zivilisiertheit und Islam stehen sich wieder einmal gegenüber."

Weiteres: Roman Hollenstein lobt sich den spanischen Hang zum Spektakulären, der Madrid nun ein extravagantes Tenniszentrum von Dominique Perraults beschert hat, "wie ein Weidenkorb in einem Teich zu schwimmen" scheine. Marion Löhndorf berichtet von einhellig positiven Reaktionen auf die Ernennung von Carol Ann Duffy zur Poet Laureate. Thomas Schacher blickt auf die Ära Armin Brunners bei den Schweizer Klubhaus-Konzerten zurück.

Besprochen werden ein Beethoven-Konzert des Kammerorchesters Basel in der Tonhalle Zürich, eine Aufführung von "Dear Wendy" nach Lars von Trier am Theater Basel, das neue Album "I Feel Cream" von Peaches und Tobias Rüthers Buch über David Bowie in Berlin "Helden".

TAZ, 08.05.2009

Äußerst zwiespältig findet Cristina Nord Mark Hermans Film "Der Junge im gestreiften Pyjama", der aus der Perspektive des kleinen Sohns des Lagerkommandanten von Auschwitz über die Freundschaft zum gleichaltrigen Schmuel erzählt, der auf der anderen Seite des Zauns leben muss. "Hermans Film versucht sich an einer merkwürdigen Kombination. Er will zeigen und es zugleich unterlassen, den Schrecken der Vernichtung darstellen und sich zugleich in Diskretion üben, das Bilderverbot, das die Schoah umgibt, brechen und zugleich beachten."

Besprochen werden das Album "I feel cream" der kanadischen Künstlerin Peaches, die CDs "Atavism" des Duos Snd und das Soloalbum "Attack on Silence" seiner einen Hälfte Mark Fell und eine Neuauflage von Tom Wolfes Reportage "Der Electric Kool-Aid Acid Test". (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Auf den Tagesthemenseiten liefert Thomas Macho aus gegebenem Anlass einen Essay zur Kulturgeschichte des Schweins. Die Medienseite berichtet über Äger im Vorfeld der Verleihung des Henri-Nannen-Preises.

Und Tom.

SZ, 08.05.2009

Alle reden über Google, Alex Rühle fährt jetzt einfach mal hin. Und zwar, um genau zu sein, ins größte europäische Entwicklungszentrum des umstrittenen Konzerns, das in Zürich liegt. Er begegnet in den Traumbüros der Firma unter anderem einem ihrer Produktmanager: "Raphael Leiteritz tritt tatsächlich auf wie ein Unternehmer seiner selbst, ein alerter junger Mann, sympathisch, versiert im Googlesprech, durch seine Ausführungen strahlen der 'Benutzer', das 'Miteinander', 'das Glück, hier arbeiten zu dürfen', und ein allumfassender Altruismus: 'Wir wollen den Menschen helfen'." Alles ganz fabelhaft, findet Rühle. "Fragwürdig wird es nur, wenn sich Leiteritz und Graf als selbstlose Bastler gerieren, indem sie sagen, keiner frage hier 'je primär, wie sich eines seiner Produkte monetarisieren lasse'. Was für ein Unsinn."
Eingefasst ist der Artikel in Zitate aus George Dysons Artikel über Google bei edge.org, den man hier nachlesen kann. Dyson hatte Google 2005 besucht und sich dort von einem Mitarbeiter über das Google Book Project sagen lassen: "'We are not scanning all those books to be read by people,' explained one of my hosts after my talk. 'We are scanning them to be read by an AI.'" Sehr empfehlenswert auch ein anderer Artikel, aus dem Rühle zitiert: Jo Bager erklärte 2006 in der c't in einer auch für den informierten Laien verständlichen Art, wie und in welchem Umfang Google unsere Daten sammelt.

Weitere Artikel: Gustav Seibt fragt sich, was es mit dem von der Politik entdeckten "kreativen Bürgertum" (mehr hier) wohl auf sich hat. Eva-Elisabeth Fischer unterhält sich mit Martin Schläpfer, dem zukünftigen Ballettchef der Oper am Rhein. Egbert Tholl informiert über die Pläne für die nächste Spielzeit der Münchner Kammerspiele. Der Theologe Friedrich Wilhelm Graf fordert, sich ernsthaft mit dem Phänomen des Kreationismus (bzw. der Kreationismen, wie er differenzieren möchte) auseinanderzusetzen. Hans-Peter Kunisch hat ein Seminar beim Schriftsteller Richard Powers besucht, der als Gastprofessor an der FU über das Thema "faktische Fiktionen and fiktive Fakten" nachdenkt.

Besprochen werden eine Ausstellung über den "Schatten" in Madrid, eine Ausstellung über die "Friedliche Revolution - 1989/90" auf dem Berliner Alexanderplatz, neue Dokumentarfilme, darunter Hans-Christian Schmids "Wundersame Welt der Waschkraft" und Bücher, darunter Karl-Heinz Bohrers neue Studie über "Das Tragische" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 08.05.2009

Schlecht geht es, klagt Gerhard Stadelmaier, dem schönen Land Baden-Württemberg in der Krise - und bald womöglich noch schlechter: "Der (...) Ministerpräsident des Landes kündigt (...) schon mal an, man müsse eventuell, wenn das so weitergehe, demnächst an der Kultur kürzen - dem Besten, was dieses Land überhaupt noch hat."

Weitere Artikel: In der Glosse erklärt Patrick Bahners anlässlich der Papstreise nach Israel, welch extreme Wertschätzung der Theologe Joseph Ratzinger dem Judentum ausweislich seiner Schriften entgegenbringt. Regina Mönch macht Stimmung für die Beseitigung des Marx-Engels-Forums in Berlin und die Wiederanähnelung des Orts an seine historischen Dimensionen. Jürg Altwegg informiert, dass sich in Frankreich Beistand für den in der Türkei wegen "religiöser Hetze" angeklagten Autor Nedim Gürsel formiert. Patrick Bahners schwärzt den Kollegen Stefan Koldehoff an, der sich unterstand, seine Recherchen zum "Welfenschatz" sowohl in der Zeit als auch im Deutschlandradio zum Besten zu geben. Auf der Medienseite gibt Michael Hanfeld dem FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle ein Forum für seine Klage über das im Fernsehen geplante "Kanzlerduell" zwischen Kanzlerin und Stellvertreter.

Besprochen werden Frank Hoffmanns Inszenierung eines Exposes zu Ingmar Bergmans Film "Schreie und Flüstern" bei den Ruhrfestspielen ("kreuzbraves Theater", klagt Andreas Rossmann), ein Abend zur Hundertjahrfeier der Ballets Russes im Londoner Covent Garden, eine Ausstellung zur Avantgarde-Zeitschrift "Labyrinthe" in Genf, eine Ausstellung zur Keramikfamilie della Robbia in Arezzo, und Bücher, darunter Friederike Mayröckers neuer Gedichtband "Scardanelli" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).