Heute in den Feuilletons

Der ideale Partner der textgenetischen Methode

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.04.2009. In der FR erklären Matthias Spielkamp und Florian Cramer etwa 1.300 Gelehrten und Schriftstellern, warum Open Access ihnen nützt. Wie aus einem gut aussehenden Prinzen ein tyrannisches altes Ekel wurde, erzählt die Welt. Der SZ zu Ehren organisiert man in Kapstadt eine Schießerei. Die FAZ warnt vor nahkampftechnisch ausgebildeten russischen Friseusen. Für Kleingeld gibt's keine zweite Hochzeitsnacht, erfährt die taz von Mary in Hamburg.

FR, 21.04.2009

Matthias Spielkamp und Florian Cramer haben das Gefühl, dass die etwa 1.300 Gelehrten und Schriftsteller, die den Heidelberger Apell unterzeichnet haben, vor allem ein "diffuses allgemeines Unbehagen am Internet" dazu bewogen hat. "Genau solches Beharren auf lieb gewonnenen Strukturen wird aber letztlich nur den Global Playern nützen, denen das Internet zurzeit die Chance bietet, ihr Oligopol auch auf die Geisteswissenschaften, Literatur und Künste auszudehnen. Open Access ist jedoch kein 'new economy'-Geschäftsmodell, sondern im Gegenteil der Versuch von Wissenschaftlern, das Heft des Handelns wieder selbst in die Hand zu nehmen und ein Medium für freie Forschung zu schaffen. Der 'Heidelberger Appell' wird da, philologisch gesehen, zur Groteske, mit Potenzial zur Tragödie."

Weitere Artikel: Der Schriftsteller und Journalist Aravind Adiga schickt eine Reportage aus Sri Lanka, wo er den glücklichsten Mann der Welt kennengelernt hat. Sylvia Staude hat die von Barack Obama veröffentlichten Foltermemos aus den Jahren 2002 und 2005 gelesen, in denen genau beschrieben wurde, wie gefoltert werden musste, damit man später nicht belangt werden konnte. (Etwas unglücklich ist in diesem Zusammenhang der Einschub in der Printausgabe "Fotostrecke und Videos zur CIA-Folterpraxis fr-online.de/dafolter").

Besprochen werden Benjamin Brittens Oper "Death in Venice" an der Hamburgischen Staatsoper, Nuran David Calis' Inszenierung von "Romeo und Julia" am Berliner Gorki Theater, die Aufführung von Erich Korngolds Operette "Die stumme Serenade", eine CD von Jan Vogler & the Knights und Liane Dirks' Roman "Der Koch der Königin" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 21.04.2009

Das Blog Lizas Welt kommentiert die gestrigen Geschehnisse von Genf: "Womöglich ist es nur eine besonders üble Laune der Geschichte, dass der Holocaustleugner Mahmud Achmadinedschad just an Adolf Hitlers Geburtstag - der dieses Jahr mit dem Shoa-Gedenktag in Israel zusammenfällt - auf einer Uno-Konferenz gegen Rassismus eine mit neuerlichen Tiraden gegen den jüdischen Staat gespickte Rede gehalten hat. Andererseits könnte nichts den vollkommen grotesken Charakter der Veranstaltung der Vereinten Nationen in Genf deutlicher und anschaulicher machen als genau diese Koinzidenz."

Henryk Broder kommentiert den deutschen Boykott von Durban 2: "Nein, wir sind Frank-Walter Steinmeier für seine Entscheidung, nicht nach Genf zu fahren, keine Dankbarkeit schuldig, so wenig wie wir einem Autofahrer, der an einer roten Ampel stehenbleibt, Dankbarkeit schulden."

Via Immateriblog. Die US-Urheberrechtlerin Pamela Samuelson analysiert sehr kritisch das Google Book Settlement: "The proposed settlement agreement would give Google a monopoly on the largest digital library of books in the world. It ... will have considerable freedom to set prices and terms and conditions for Book Search?s commercial services."

Ein Handelsblatt-Hierarch hat den Niedergang der Presse mal wieder auf das dumme Internet geschoben. Klaus Jarchow in Medienlese sieht die Ursache woanders - in den Verlagsmanagements, aber das traut sich ja kein Journalist zuzugeben: "Es waren keine anonymen Medienblogger, die jene Einheitsredaktion für gleich fünf Wirtschaftstitel in Hamburg geschaffen haben, nach dem Motto: 'Der Leser merkt's schon nicht!' - sondern Ökonomisten und Verlagsgranden im Hause Gruner & Jahr."

TAZ, 21.04.2009

Katharina Finke besucht ein Billigbordell in Hamburg, das sein Geschäftsmodell nach dem Franchisemuster auch auf andere Städte ausdehnen will. Die Huren scheinen nicht so froh, wenn man den von Finke zitierten Äußerungen Marys glauben darf: "'Die Gäste wollen Frust loswerden. Dafür aber möglichst wenig zahlen. Das geht oft zu weit', sagt sie. 'Für einen Pissgroschen erwarten sie eine zweite Hochzeitsnacht! Sie denken, es wäre normal, wenn sie den Finger in die Muschi stecken oder fragen: Kannst du mir mal die Eier lecken?'"

Weitere Artikel: Micha Brumlik bespricht eine Studie die aufzeigt "wie Europa den Mullahs beim Bombenbauen half". Besprochen wird außerdem eine Edition zur Geschichte des Jazz in Deutschland in 12 CDs. Den Nachruf auf JG Ballard schreibt Ekkehard Knörer in der tazzwei: "Ballard verabscheute, was alle Welt doch sehr liebt: Vereinfachung, Nostalgie und Sentiment."

Auf der Meinungsseite präsentiert die taz ein leicht verspätetes Pro und contra zur Durban-Nachfolgekonferenz.

Tom.

NZZ, 21.04.2009

Andrea Eschbach besucht die Stadt Wajima, das Zentrum der japanischen Lackkkunst: "Die Tradition der japanischen Lacktechnik kann auf eine über tausendjährige Geschichte zurückblicken. Urushi-Lack wird als Harz aus dem ostasiatischen Lackbaum (Rhus verniciflua) gewonnen und anschliessend aufbereitet. Mit seinem unnachahmlich tiefen Glanz und der seidenglatten, warmen Oberfläche strahlt der Lack eine ganz eigene Sinnlichkeit aus. Der aussergewöhnliche Charakter des Lacks verblüfft: Er trocknet nicht, sondern polymerisiert wie Kunststoff."

Weiteres: Angela Schader schreibt zum Tod des amerikanischen Schrifststellers JG Ballard, der sich durch die Verwendung "robuster Dosen von Sex und Gewalt" auszeichnete. Besprochen werden die Retrospektive des Konzeptkünstlers Dan Graham im Museum of Contemporary Art in Los Angeles (bei YouTube gibt es einen Ausschnitt aus Grahams "Rock my Religion"), Reinhard Jirgls Roman "Die Stille", Doris Lessings Buch über ihre Eltern "Alfred und Emily" und Tanguy Viels Thriller "Das absolut perfekte Verbrechen" (hier eine Leseprobe).

Welt, 21.04.2009

Vor 500 Jahren bestieg Heinrich VIII. den Thron von England, Thomas Kielinger erinnert auf einer ganzen Seite an den Königskoloss: "Er begann mit den Starqualitäten des gut aussehenden, gebildeten Prinzen und endete als tyrannisches Ekel, immobil geworden ob seiner Leibesfülle und Beingeschwüre, misstrauisch, depressiv und ganz und gar unmajestätisch übel riechend. Allein anhand von Heinrichs Ritterrüstungen, wie sie im Tower of London derzeit zu besichtigen sind, lässt sich die korporale Expansion des Monarchen ablesen. 1,87 Meter groß und damit seinen Hofstaat weit überragend, maß er als 23-Jähriger 106 Zentimeter im Brustumfang, 89 Zentimeter in der Hüfte. Sechs Jahre vor seinem Tod hatte die Brust massive 144 Zentimeter erreicht, die Hüfte gar aufgeblähte 137 Zentimeter."

Weiteres: In der Randglosse deutet Volker Blech an, dass Berliner Dirigenten derzeit nicht so sehr am behaupteten Geldmangel scheitern, sondern an ihren Orchestern. Peter Dittmar besichtigt Lüttich, das mit mehreren neu- und umgestalteten Museen und einem Bahnhof von Santiago Calatrava aufwarten kann. Hanns-Georg Rodek unterhält sich mit Vincent Cassel, der in "Public Enemy No. 1" Frankreichs Oberverbrecher Jacques Mesrine spielt. Matthias Heine liest Christoph Schlingensiefs Tagebuch seiner Krebserkrankung "So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein".

Auf der Meinungsseite fordert Hannes Stein nach dem absehbar vermurksten Auftakt der Genfer UN-Konferenz die Abschaffung der Vereinten Nationen, die seiner Meinung nach nur drei Gruppen befördern: Antisemiten, Pädophile und Völkermörder. "Heute - anlässlich der antisemitischen Schmierenkomödie, die unter Schirmherrschaft der UN in Genf veranstaltet wird - ist die Zeit gekommen, um Konsequenzen zu ziehen."

SZ, 21.04.2009

Die SZ hat Alex Rühle eine Reise nach Kapstadt spendiert, kurz vor den südafrikanischen Präsidentschaftswahlen. Das Land, so berichtet er, ist nach wie vor gezeichnet von weißem Rassismus und Gewalt unter Schwarzen. Er hat sogar ein paar Gangster getroffen: "'Komm morgen früh wieder. Wir organisieren eine Schießerei für dich. Wir müssen eh jemanden umbringen.' Es klingt alles wie im Comic, zugleich sind sie ungeheuer nervös, haben einen flackernden Blick, als hätten sie Amphetamine geschluckt, die Stimmung kippt permanent abrupt zwischen kaum gesteuerter Aggression, ausgelassenen Witzeleien und dumpfem Herumstehen."

Auf der Literaturseite setzt sich Lothar Müller mit den Thesen des allgegenwärtigen Philologen Roland Reuß auseinander, der nur Bücher als vornehm genug für seine kritischen Kleist- und Kafka-Editionen ansieht, während Müller findet: "Der ideale Partner der textgenetischen Methode ist nicht das Buch, sondern das Internet." In einem beistehenden Artikel stellt Johannes Willms eine solche Internetedition von Textskizzen Flauberts vor.

Weitere Artikel: Im Aufmacher schreibt Fritz Göttler über den gerade in den USA angelaufenen Film "State of Play", der für Zeitungsjournalismus in Zeiten der Krise plädiert ("Russell Crowe... ist der Reporter von gestern, und man sieht es ihm an. Cal hat Bücher auf seinem Schreibtisch, er macht Notizen mit dem Stift, verlangt mehr Zeit. Ein Saabfahrer.") Kia Vahland schreibt über fragwürdige Zuweisungen in einer Michelangelo-Ausstellung des Frankfurter Städels. Gemeldet wird, dass die Schäden im Kölner Stadtarchiv nicht so schlimm sind wie befürchtet. Petra Steinberger schreibt zum Tod des britischen Autors J.G. Ballard.

Besprochen werden eine CD der neuen Jazzcombo Fly, eine Dramatisierung eines Dietmar-Dath-Romans in Mannheim und Brittens "Tod in Venedig" in Hamburg.

FAZ, 21.04.2009

Joachim Müller-Jung berichtet von einem Brief des Open-Access- und Google-Books-Kritikers Roland Reuß, der schon 1300 Unterschriften auf seiner Seite hat, an die Bundeskanzlerin. "Was sich Reuß von der Bundesregierung in diesem Fall verspricht, ist offensichtlich ein amtlicher Einspruch gegen den vom Gericht unterbreiteten Vergleichsvorschlag, dessen Widerspruchsfrist am 5. Mai endet. Der Vergleich in diesem bislang wichtigsten Prozess in Urheberrechtsfragen gegen Google betrifft allerdings nur vergriffene Bücher und sieht eine einmalige Digitalisierungsentschädigung in Höhe von sechzig Euro sowie eine dreiundsechzigprozentige Beteiligung des Urheberrechteinhabers am jeweiligen digitalen Verwertungsgewinn vor."

In der Glosse schildert Kerstin Holm ein russisches fait divers der bizarren Art. Kommt ein Mann in einen Friseursalon, um ihn auszurauben. Die nahkampftechnisch ausgebildete Friseurin legt ihn aufs Kreuz und: "Drei Tage bekam er Viagra, wurde mit rosafarbenen Plüschhandschellen an einen Heizkörper gekettet und ausgequetscht wie eine Zitrone - gab er später der Polizei zu Protokoll. Als die Friseuse ihn endlich befreite, ließ der zum Liebesspielzeug erniedrigte Räuber zunächst seine durch Überbeanspruchung lädierte männliche Würde, wie das maskuline Körperteil russisch heißt, behandeln, und zeigte dann seine Domina als Vergewaltigerin an."

Weitere Artikel: Christian Geyer ist sehr erleichtert, dass das geplante Gesetz zur Gendiagnostik allem Missbrauch entschlossen den Riegel vorschiebt und eine "Gesundheitsdiktatur" verhindert. Mark Siemons sammelt Reaktionen auf das nationalistische chinesische Manifest "Unglückliches China". Ausführlich erzählt Alexander Kosenina von einem Brief Heinrich Bölls an FAZ-Redakteur Karl Korn, in dem jener diesen um maßvollen Umgang bittet und ihm "wiederholt" für die Einladung dankt, "für die FAZ zu schreiben". Günter Kowa besucht das sanierte Händel-Haus in Halle. Gina Thomas schreibt zum Tod des Autors JG Ballard.

Besprochen werden Volker Löschs Stuttgarter Inszenierung einer Theaterversion von Max Eipps Drehbuch zum Film "Wut" (mit echten Streetkids - leider kommt aber, findet Martin Halter, nur "Sozialarbeit" dabei raus), Ramin Grays Hamburger Inszenierung von Benjamin Brittens Oper "Death in Venice", eine Ausstellung mit Fotografien von Hannes Kilian im Berliner Martin-Gropius-Bau, eine CD der Lautenistin Christina Pluhar mit schönen Stellen bei Monteverdi und Erwin Kochs Roman "Nur Gutes" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).