Heute in den Feuilletons

Mahlender blauer Schmerz

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.03.2009. Mit der Globalisierung ist es gar nicht so weit her, wie ihre Hohepriester meinen, stellt die FR fest. Der Tagesspiegel beleuchtet den Kulturkampf zwischen Bloggern und Journalisten. Nach dem Brockhaus gibt auch Microsoft seine Enzyklopädie Encarta auf, meldet techcrunch. Und in der FAZ stöhnt Urs Widmer: So einer wie Steinbrück ist in der Schweiz undenkbar.

FR, 31.03.2009

Dass die Globalisierung Schnee von gestern ist und die Musik bald nur noch auf regionalen und lokalen Märkten spielt, hat Arno Widmann in Bruce C. Greenwalds und Judd Kahns Buch "Globalization" gelernt: "Der Grund ist, so die Autoren, einfach: Es ist der steigende Anteil von Dienstleistungen am Bruttosozialprodukt. Die sind nämlich kaum zu transportieren. Es gibt tatsächlich die viel beschworenen indischen Röntgenärzte, die für billigstes Geld im Auftrage amerikanischer Krankenhäuser Röntgenaufnahmen auswerten. Aber es sind nur ein paar hundert, und das seit Jahren. Dienstleistungen sind lokal. Sie müssen lokal erbracht und bezahlt werden. Wenn ihr Anteil an der Weltwirtschaft steigt, sinkt der der globalisierenden Faktoren."

Widmann stellt außerdem in Times Mager fest, dass das Christentum gar keine Mitleidsreligion ist. Daniel Kothenschulte schreibt zum Tod des Komponisten Maurice Jarre.

Auf der Medienseite drängt der scheidende Deutschlandfunk-Intendant Ernst Elitz im Interview bei der Digitalisierung des deutschen Rundfunks zur Eile: "Deutschland tapert hinterher. Wenn nicht bald etwas geschieht, wird die EU-Kommission diese Frequenzen wieder einkassieren und an die private Telekommunikationsindustrie verscherbeln. Dann wird Deutschland das einzige Land sein, das auf Dauer seine Radioprogramme über den Museumsstandard UKW ausstrahlt, mit den Intendanten der ARD als technologischen Museumswärtern."

Besprochen werden die Ausstellung "My berlinczycy. Wir Berliner" im Märkischen Museum Berlin, ein Konzert des Geigers Renaud Capucondie mit dem SWR Sinfonieorchester in der Alten Oper Frankfurt, die Schau "Le Siecle du Jazz" im Pariser Musee du Quai Branly, Lizzie Dorons Roman "Es war einmal eine Familie", Christine Gräfin von Brühls Buch "Noblesse oblige" (für Judith von Sternburg "die kurioseste Langeweile des Frühjahrs") und Christian Mosers Band "Die teuflischen Tricks der Monster des Alltags" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 31.03.2009

Sogar Dubai spürt die Finanzkrise, bemerkt Henrike Thomsen. "Viele Baustellen, auf denen vor einem Jahr eifriger Betrieb herrschte, stehen still. In der Branche herrschen Zahlungsverzögerungen von neun Monaten, berichten die Zeitungen. Pro Monat würden 30.000 Arbeiter in ihre Heimatländer Pakistan, Indien, Sri Lanka oder die Philippinen abgeschoben, erzählt ein Pakistani. Dubai soll inzwischen 60 Milliarden Euro Schulden haben, nicht ganz so viel wie Berlin, aber man nähert sich an. Für die Entwicklung der Kunstszene und des Kunstmarktes hat dies unterschiedliche Auswirkungen: Während sich die Marktdynamik auf der Art Dubai deutlich abgeschwächt zeigte, gewann die inhaltliche Auseinandersetzung auf der Messe und auf der Sharjah-Biennale an Qualität."

Außerdem: Alexander Cammann resümiert eine Tagung in Marbach über Hans Magnus Enzensberger. Julian Weber war beim Kongress "Operation Ton" in Hamburg. Cilli Pogodda schreibt zum Tod des Komponisten Maurice Jarre. Besprochen wird Jonathan Littells Buch über "Das Trockene und das Feuchte" der faschistischen Sprache (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 31.03.2009

Sabine Pamperrien stellt Befremden über das Gutachten zur chinesischen Berichterstattung der Deutschen Welle fest. In dem Gutachten hatte Ulrich Wickert die Reaktion der Politik auf Vorwürfe der Regimefreundlichkeit als übereilt kritisiert (die SZ machte Wickerts Gutachten neulich publik). Pamperrien zitiert die kritisierten Politiker: "Der CDU-Politiker Stephan Eisel spricht von einem 'starken Stück'. Wickert bilde sich ein Urteil über Leute, mit denen er nicht gesprochen habe. Zudem seien die Feststellungen Wickerts entgegengesetzt zu den Äußerungen des Intendanten. Der habe längst journalistische Mängel in der China-Redaktion eingeräumt und personelle Konsequenzen gezogen."

Welt, 31.03.2009

Uwe Wittstock erinnert daran, dass Frankfurt nicht nur die Suhrkamp-Kultur hervorgebracht hat, sondern auch den Versand Zweitausendeins, der inzwischen zwar verkauft ist, aber immer noch "haarsträubende Angebote" macht: "Das Gesamtwerk von Franz Kafka zum Beispiel in einem Band für den Preis einer Packung Kaffee."

Weiteres: Im Interview mit Josef Engels erklärt der Saxofonist Branford Marsalis ein wenig zwischen Tür und Angel, warum er gern Wagner hört: "Es gibt sehr viele nette Menschen, die keine Rassisten sind - und überhaupt keine Ahnung von Musik haben. Soll ich mir die anhören?" Hendrik Werner widmet sich in der Randglosse dem Namensstreit um den "Hermannslauf", der die Welt zwischen Detmold und Bielefeld in Atem hält. Hanns-Georg Rodek gratuliert Regisseur Volker Schlöndorff zum Siebzigsten (der den Pariser Marathon im vorigen Jahr mit einer Zeit von 4:22 gelaufen ist). Florian Stark schreibt zum Tod der Fotografin Helen Levitt. Sophia Seiderer besorgt den Nachrruf auf den Filmkomponisten Maurice Jarre. Eckhard Fuhr verabschiedet den in Ruhestand tretenden Intendanten des Deutschlandradios Ernst Elitz.

Besprochen werden eine Ausstellung zur Künstlerfreundin "Mutter Ey" im Düsseldorfer Stadtmuseum und eine Schau zur 80-jährigen Geschichte des Vatikanstaats.

Auf der Meinungsseite sieht der britische Ökonom Robert Skidelsky ernsthaft unseren "Gesellschaftsvertrag" in Gefahr, nach dem sich die Eliten bereichern dürften, wenn sie das Land nur gegen die äußeren Feinde verteidigen und die Lebensbedingungen verbessern.

Tagesspiegel, 31.03.2009

Einen Tag vor Beginn der Berliner Internetkonferenz Republica macht sich Gregor Dotzauer Gedanken über den "Kulturkampf zwischen Bloggern und Journalisten". Keine der beiden Seiten sieht dabei gut aus: "Gegenwärtig stehen nicht so sehr rationalisierbare Überzeugungen gegeneinander. Es geht um den Aufstand eines um Hipness bemühten Lebensstils von digital natives gegen ein System, das selbst in seinen namhaftesten Qualitätsprodukten manchmal nicht mehr vermitteln kann, wo die intellektuelle Latte liegt und der Unterschied zwischen einer professionellen und einer amateurhaften Äußerung."
Stichwörter: Kulturkampf, Republica

Aus den Blogs, 31.03.2009

(via turi2) Microsoft ergeht's auch nicht besser als dem Brockhaus. Nach 16 Jahren gibt das Softwarehaus seine Enzyklopädie Encarta auf - wegen Wikipedia, meldet das Technikblog techcrunch: "In the 2000?s Encarta?s popularity died out, largely due to the incredible growth of Wikipedia, the free web-based encyclopedia."
Stichwörter: Microsoft, Wikipedia

NZZ, 31.03.2009

Andrea Köhler hat schon Susan Sontags Tagebücher "Reborn" gelesen, die Sontags Sohn David Rieff nun herausgegeben hat und in denen sie sich "intellectual 'wanting' like sexual wanting" nennt: "Sontags oft hastig hingeworfenes Konvolut aus endlosen Leselisten, guten Vorsätzen und kryptischen Einträgen ist das Logbuch eines ebenso leidenschaftlichen wie egomanischen und frühreifen Intellekts. Die Sicherheit ihres Urteils - 'sein Werk besitzt eine Aktualität, die beim Lesen einen mahlenden blauen Schmerz verursacht', heißt es beispielsweise über Franz Kafka - und die Unabhängigkeit ihres Denkens verraten schon die spätere Essayistin. Es ist jedoch vor allem die harsche Kritikerin, die sich hier mit einem rigiden Erziehungsprogramm zur Ordnung ruft: 'Was ich an mir selber verabscheue: ein moralischer Feigling, eine Lügnerin, indiskret gegenüber mir selbst und anderen, angeberisch und passiv zu sein.'"

Barbara Villiger Heilig lauscht fasziniert den Gastvorlesungen des italienischen Schriftstellers Gianni Celati in Zürich. Michael Wenk gratuliert Volker Schlöndorff zum Siebzigsten.

Besprochen werden die offenbar wider Erwarten zustande gekommene "Tosca"-Inszenierung im Opernhaus Zürich, Florian Werners Kulturgeschichte "Die Kuh" und eine Aufführung von Poulencs "Les Dialogues des Carmelites" im Theater Basel.

SZ, 31.03.2009

Im Feuilletonaufmacher zieht Thomas Steinfeld eine Parallele zwischen der Glaubenskrise im Spätmittelalter und der jetzigen Finanzkrise, die darum logischerweise in eine Reformation der Märkte münden sollte. Für die Literaturseite besucht der designierte Co-Feuilletonchef der Zeit Ijoma Mangold den katholischen Philosophen Robert Spaemann in seinem Stuttgarter Eigenheim und fühlt sich "sehr rasch wie ein Schüler des Sokrates". Alexander Menden berichtet über eine britische Gesetzesnovelle zur Regelung der Rückgabe von geraubter Kunst an Erben verfolgter Juden. Stefan Koldehoff schreibt zum Tod der Fotografin Helen Levitt. Gottfried Knapp würdigt den ebenfalls verstorbenen Filmkomponisten Maurice Jarre. Und Fritz Göttler gratuliert Volker Schlöndorff zum Siebzigsten.

Auf der Medienseite berichtet Claudia Fromme, dass die International Herald Tribune ihre Website abschafft, um sie mit der des Mutterhauses New York Times zu fusionieren (die Redirects von Links zu IHT-Artikeln führen aber leider immer nur zur Homepage der Times, nie zu den den entsprechenden Artikeln, spottet Gawker). Und cbu/flex berichteten über gelöste Stimmung bei den Redakteuren der nun vom älteren Bruder Dieter übernommenen Holtzbrinck-Blätter, bei dem die Sparmaßnahmen doch süßer schmecken.

Besprochen werden ein Album der Band Who Made Who, "Leonce und Lena" in Köln und Konzerte mit Musik des von der arabischen Tradition beeinflussten Komponisten Klaus Huber in Salzburg.

Im Politischen Teil berichtet Thorsten Schmitz, dass ein palästinensisches Jugendorchester aus dem Flüchtlingslager Dschenin aufgelöst wurde, weil es in einem Versöhnungskonzert vor israelischen Holocaustüberlebenden gespielt hat. "Der Sprecher des Flüchtlingslagers, Adnan Hindi, rechtfertigt die drakonische Maßnahme mit harten Worten. Er leugne nicht, dass es den Holocaust an den Juden gegeben habe, 'aber wir Palästinenser werden bis heute von den Juden verfolgt. Wir haben unser Land verloren, wir mussten fliehen und wir leben in Flüchtlingslagern.'"

FAZ, 31.03.2009

Der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer erklärt zum Mitschreiben allen mitlesenden Deutschen und Schweizern nochmal den Unterschied zwischen Schweizern und Deutschen: "Mir, der ich mit vielen deutschen Wassern gewaschen bin, kommt Herr Steinbrück völlig vertraut vor, wie der alltägliche deutsche Kunde, der in die Bäckerei kommt und sagt: 'Ich krieg' das Brot da.' Natürlich kriegt er's , zahlt und geht. So ein Vorgang ist für einen Schweizer unvorstellbar, und wer ihn zum ersten Mal erlebt, steht noch stundenlang unter Schock. Wir sagen, wenn wir eine Bäckerei betreten und ein Brot kaufen wollen: 'Könnte ich vielleicht so ein Brot wie das dort kriegen, wenn's recht ist, bitte?' Dann kriegen wir's auch und zahlen noch mehr als der Deutsche in Deutschland, der inzwischen längst auch beim Schlachter eine Wurst und beim Gemüsehändler ein Kilo Kartoffeln gekriegt und seinen ganzen Einkauf hinter sich hat."

Weitere Artikel: Hans-Christian Rössler porträtiert die Pianistin Elisabeth Leonskaja, die gerade Konzerte in Palästina gibt. Tobias Rüther denkt über den Schokoriegel in Zeiten der Krise nach. In der Glosse verabschiedet sich Jürgen Kaube gern von Bahnchef Mehdorn und seinen Arbeitsmethoden des "management by anblaffing and outspioneering". Karol Sauerland berichtet von Diskussionen in Polen über das Jahr 1989 und insbesondere darüber, "ob man den Runden Tisch als Gründungsakt einer 'Dritten Republik' bewerten kann". Dieter Bartetzko fürchtet, dass Saarbrücken mit seinen Plänen für eine neue Kulturmeile zum "Präzedenzfall blinder städtebaulicher Hektik" werden könnte. Michael Althen schreibt zum Tod des Filmkomponisten Maurice Jarre. Einen knappen Nachruf auf die Fotografin Helen Levitt hat Verena Lueken verfasst.

Besprochen werden Jan Bosses "Leonce und Lena"-Inszenierung in Köln, Robert Carsens Inszenierung der "Tosca" in Zürich, Darius Ruckers neue CD "Learn to Live" und Mary Ann Shaffers Roman "Deine Juliet" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).