Heute in den Feuilletons

Kollektiv zusammengezuckt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.03.2009. In der FAZ beklagt der Schweizer Autor Thomas Hürlimann den schlechten Oberförsterstil des Peer Steinbrück. Die SZ hat bei Ulrich Wickert recherchiert: Es gibt kein Problem mit dem chinesischen Dienst der Deutschen Welle. Im Perlentaucher wird der "Heidelberger Appell" auseinandergenommen: Open Access ist nicht Teil des Problems mit dem Internet, sondern Teil der Lösung.

FAZ, 25.03.2009

Der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann erklärt den deutschen Waldbewohnern, warum die markigen Worte Peer Steinbrücks zum Bankgeheimnis im Schweizer Bergland nicht gut ankommen:

1.4.09: Das Zitat wurde aus Kostengründen entfernt.

1.4.09, etwas später und mit freundlicher Genehmigung des Urhebers: "Nur an der Urne hat unser Staat etwas Hehres, sonst darf es weder Throne noch Altäre noch Hochsitze geben, und wenn es einem von uns gelingt, sein Steuerschnäppchen zu verbergen, halten wir ihn nicht für einen Sünder. In solchen Kategorien denken nur Sie. Denn Ihnen ist der Wald, der Sie in der großen Ebene beschirmen soll, immer noch heilig. Die Sehnsucht nach dem 'quantitativ totalen Staat' (Carl Schmitt) hat sich in Deutschland erhalten. Bürger und Parteien geben ihre partikulären Interessen an das große Ganze ab, um dann als Hartz-IV-Bezieher oder als subventioniertes Großunternehmen ihre Untertanenfrömmigkeit ausleben zu können. Natürlich muss ein solcher Staat stark sein, gesund wie ein gut gehegter Forst, und machtbewusst, kenntlich in Worten und Taten, lieben Sie den Oberförster und seine Gesellen. Wir nicht. Ganz und gar nicht. Deshalb sind wir kollektiv zusammengezuckt, als uns Ihr Herr Müntefering mit den 'Soldaten' und ein gewisser Herr Steinbrück mit der 'Kavallerie' und der 'Peitsche' gedroht hat. Das halten wir für schlechten Oberförsterstil. Mit Mundgeruch. Widerlich."

Weitere Artikel: In der Glosse mokiert sich der Gesine-Schwan-Fan Christian Geyer über Horst Köhlers Berliner Rede. Gina Thomas informiert über den Ärger, den der britische Dramatiker Richard Bean mit seinem satirisch gemeinten, von manchem als rassistisch verstandenen Stück "England People Very Nice" hat. Wie China in der Krise seiner Kulturindustrie unter die Arme greift, weiß Mark Siemons. Regina Mönch erinnert sich in einer kurzen Anekdote an ihren Überwacher bei einem DDR-Besuch nach 29 Jahren Abwesenheit. Auf der Medienseite fürchtet der Journalistik-Professor Michael Haller, dass die Zeitschriftenverlage, die den Streit ums Pressegrosso angezettelt haben, die publizistische Vielfalt gefährden.

Besprochen werden gleich zwei "Tristan und Isolde"-Aufführungen, eine in Wiesbaden, eine in Köln (und beide entsetzen sie Christian Wildhagen ob ihrer Mittelmäßigkeit), Inszenierungen von Tschechows "Kirschgarten" und Horvaths "Kasimir und Karoline" in Paris, der Omnibusfilm "Deutschland 09" (Michael Althen will sich dem Berlinale-Chor der Verächter nicht anschließen) und Bücher, darunter Adrienne Thomas' wiederentdeckter Tagebuchroman "Die Katrin wird Soldat" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 25.03.2009

Wenn schon Hürlimann in der FAZ, dann weisen wir wenigstens noch nachträglich auf einen Artikel des Schweizer Schriftstellers Alex Capus am Samstag im politischen Teil der SZ hin. Er schrieb zum Bankgeheimnis: "... gewiss ist gerade die Schweiz gut beraten, wenn sie sich aller Anspielungen auf die Zeit des Nationalsozialismus enthält; sonst müsste sie es sich auch gefallen lassen, dass in der Debatte ums Bankgeheimnis wieder einmal die Rolle der Schweiz und der Schweizer Banken im Zweiten Weltkrieg thematisiert würde. Und eines muss jeder aufrichtige Schweizer zugeben: dass Steinbrück in der Sache recht hat. Selbstverständlich weiß jeder Schweizer, dass das Bankgeheimnis in seiner bisherigen Form den Steuerbetrügern dient - nicht nur, aber auch. Jeder weiß, dass es nicht recht ist, wenn reiche Leute ihre Steuern nicht bezahlen, und unausgesprochen ist allen klar, dass die schweizerische Unterscheidung zwischen Steuerhinterziehung und Steuerbetrug eine Schlaumeierei war."

Aus der SZ von heute: Ulrich Wickert hat als Gutachter im Auftrag der Deutschen Welle die Vorwürfe gegen den chinesischen Dienst des Senders untersucht und herausgefunden: Das ganze war die Ente zweier freier Journalisten (ihhh!), denen eine interessierte Öffentlichkeit aufgesessen sei, berichtet hochzufrieden Hans Leyendecker auf der Medienseite und zitiert den Ex-Anchorman: "Es zeigt sich hier, wie in Zeiten einer gesteigerten Gefühlslage (Olympische Spiele, Fackellauf, Tibetunruhen) es ehrenwerten, meinungsstarken Personen, einigen Dissidenten, Vereinsträgern, Journalisten gelingt, vorschnelle Verurteilungen in den Medien zu platzieren und damit Politiker, die gern in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, zu unbedachten Äußerungen und Vorverurteilungen zu verführen."

Weitere Artikel: Bei Gelegenheit der Bonuszahlungen für die Manager maroder und verstaatlichter Konzerne notiert Andrian Kreye im Aufmacher des Feuilletons eine Renaissance des Volkszorns in den USA. Jörg Häntzschel berichtet über Spekulationen, dass der Hedgefondsmanager und Sammler Steve Cohen das Auktionshaus Sotheby's übernimmt. Hans-Peter Kunisch schickt eine Reportage aus dem jetzt von der Krise besonders hart getroffenen Irland. Henning Klüver berichtet über den neuesten Stand in dem römischen Prozess gegen die ehemalige Kuratorin des Getty-Museums Marion True und den Antikenhändler Robert Hecht. Und Katharina Buess guckt sich auf Youtube holprige Privatmitschnitte aktueller Popkonzerte an.

Besprochen werden Barry Levinsons Filmsatire "Inside Hollywood" (zum Artikel gehört ein Hotelzimmerinterview mit Darsteller Robert de Niro und Produzent Art Linson), ein Konzert der Mezzosopranistin Elina Garanca in München, Yael Ronens Stück "Dritte Generation" an der Berliner Schaubühne, Pavel Haas' Oper "Der Scharlatan" in Gera, die Ausstellung "Visit Pictopia" im Berliner Haus der Kulturen und Bücher, darunter Rawi Hages Roman "Als ob es kein Morgen gäbe" über den Libanonkrieg 1982 (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Perlentaucher, 25.03.2009

Der Literaturprofessor Roland Reuß hat in den letzten Wochen häufiger gegen "Open Access" polemisiert und einen von vielen Prominenten unterzeichneten "Heidelberger Appell" lanciert. Matthias Spielkamp erklärt im Perlentaucher, warum Open Access eine Alternative zu kommerziellen Fachzeitschriften ist, die von den Bibliotheken exorbitante Abogebühren fordern: Und "um in Zeitschriften solcher Verlage zu veröffentlichen, müssen Wissenschaftler in vielen Fällen den Verlagen die exklusiven Nutzungsrechte an ihren Artikeln abtreten. Das bedeutet, dass sie ihre eigenen Beiträge anschließend nicht mehr an anderer Stelle veröffentlichen dürfen, weder auf der eigenen Website noch der ihrer Universität. Ein Honorar erhalten sie dafür nicht; im Gegenteil, die Peer Review, also die Begutachtung der Forschungsergebnisse, übernehmen Wissenschaftler ebenfalls ehrenamtlich, also in den meisten Fällen auf Kosten ihrer Arbeitgeber. Also auf Kosten der Steuerzahler, wenn sie an öffentlich geförderten Institutionen arbeiten, wie etwa Universitäten. Der Steuerzahler zahlt, der Konzern schreibt Gewinne: Wer enteignet hier wen?"

Aus den Blogs, 25.03.2009

Alan Posener macht sich in der Achse des Guten Gedanken über Götz Alys abschließenden Artikel zu 68 im Perlentaucher: "Die 68er-Bewegung war vermutlich keine romantische Revolte in einem unmittelbaren Sinne. Denn der von den Romantikern betriebene Ästhetizismus stand dem Wunsch nach möglichst direkter politischer Aktion diametral entgegen. Die blaue Blume, jenes wohl am häufigsten für die Romantik genannte Symbol, sollte nicht zitiert, sondern eingefärbt und damit - wie eines der damaligen Modewörter lautete - 'umfunktioniert' werden. Nicht ohne Grund lautete daher eine der eher gruseligen Parolen: 'Schlagt die Germanistik tot, färbt die blaue Blume rot!' Für einen bloßen Träumer wollte niemand gehalten werden. Es sollte gerade nicht darum gehen, auf irgendeinem Traumpfad der Welt zu entfliehen, sondern eher umgekehrt dem Geträumten zur Wirklichkeit zu verhelfen."

Richard Metzger, zur Zeit Gastblogger bei BoingBoing, hat bei Youtube ein wunderbares Video über Faust ausgegraben, einer Krautrockband aus den 70ern, die in GB verehrt und in Deutschland verlacht wurde.

FR, 25.03.2009

Oliver Herwig hat das Architekten-Manifest "Vernunft für die Welt" gelesen, das am Freitag dem Bundesbauminister Wolfgang Tiefensee überreicht werden soll, damit er die Rahmenbedingungen für einen "Öko-Schutzschirm für Städte" schafft. Stephan Hilpold stellt das Programm von Martin Heller, Intendant der Kulturhauptstadt Linz vor. Auf der Medienseite berichtet Ninette Krüger über die 42. Mainzer Tage der Fernsehkritik, auf der sich offenbar alle bestätigt haben, wie wichtig und unverzichtbar sie sind.

Besprochen werden Mark Ravenhills Stück "Over there" an der Berliner Schaubühne, ein Konzert des dänischen Elektro-Trios WhoMadeWho im Wiesbadener Schlachthof und Robert Castels Buch über die Aufstände in den Pariser Banlieues, "Negative Diskriminierung" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 25.03.2009

Bei der Berliner Zeitung ist wieder alles in Ordnung, das Blatt fest in lockerer Verlegerhand. Ralf Mielke und Björn Wirth berichten, wie Alfred Neven DuMont gestern seine Aufwartung machte: "Konstantin Neven DuMont, Sohn des Verlegers und ebenfalls Vorstandsmitglied, erklärte es zur Notwendigkeit, die journalistische Qualität der Zeitungen weiter zu stärken. 'Wir wollen künftig noch mehr Journalisten für große recherchierte Geschichten einsetzen', sagte er. 'Die Zeitungen brauchen mehr exklusive Inhalte.' Die Redaktionen der einzelnen DuMont-Blätter könnten dabei kooperieren, einzelne Texte in allen Titeln zugleich erscheinen. 'Wir haben die Chance, uns qualitativ abzusetzen', sagte er und kündigte Investitionen in den Online-Bereich an. Alfred Neven DuMont ergänzte: 'Wir brauchen starke Redaktionen und starke Chefredakteure, alles andere ist sinnlos. Wenn man diktiert, ist es kein Journalismus.'"

NZZ, 25.03.2009

Sichtlich beeindruckt zeigt sich Marcus Stäbler vom "Vinterfest", einem klassischen Musikfestival im schwedischen Mora am Orsa-See. Er lobt nicht nur das unkonventionelle Programm und die "ausgesprochen familiäre Atmosphäre", sondern auch das Publikum: "Mit welcher Disziplin die Konzertgänger beim Vinterfest den anspruchsvollen Programmen lauschen und auch ungewohnte Klänge förmlich aufsaugen, ist beeindruckend; eine geringere Hustenfrequenz als hier dürfte sich in Mitteleuropa kaum finden lassen, erst recht nicht in dieser Jahreszeit."

Brigitte Kramer berichtet über den irren Erfolg, den "2666", der letzte Roman des verstorbenen chilenischen Schriftstellers Roberto Bolano, in der englischsprachigen Welt hat (hier die Kritiken in The Nation, dem Economist, der NYRB, NYT, Slate, Newsweek, Prospect, Time Magazine, Village Voice.)

Besprochen werden die Ausstellung "Van Dyck & Britain" in der Londoner Tate, Mark Ravenhills neues Stück "Over There" an der Schaubühne Berlin und Bücher, nämlich Thomas Stangls Wien-Roman "Was kommt", Franziska Augsteins Biografie über Jorge Semprun und zwei Anthologien zur orientalischen Lyrik (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 25.03.2009

Annabelle Hirsch unterhält sich mit dem belgischen Kurator Chris Dercon, der eine Martin Margiela-Retro ins Münchner Haus der Kunst gebracht hat. Er will Mode-Ausstellungen, die sich mit "Mode als Handarbeit auseinandersetzen, aber auch mit Phänomenen der Widersprüchlichkeit wie Mode und Vergänglichkeit, Mode nicht nur innerhalb des Designs, sondern auch Mode in Verbindung mit anderen Bereichen. Es gibt wirklich sehr viele Aspekte, an denen man arbeiten kann, deshalb denke ich, man muss Mode wahnsinnig ernst nehmen, als Handarbeit und als eine Form von Biopolitik, aber auch als eine Form der permanenten Revolution des Selbst."

Besprochen werden Ereignisse des Grazer Diagonale-Festivals und ein Biopic über den Rapper Notorious B.I.G. (mehr hier).

Und Tom.

Welt, 25.03.2009

Wolf Lepenies erinnert an die Rolle, die deutsche Emigranten bei der Modernisierung der Türkei spielten. In Deutschland sei es heute genau umgekehrt: "In Deutschland ist die Modernitätsverweigerung junger Türken, die sich mit der Rückwendung zum islamistischen Fundamentalismus nicht vollständig deckt, zu einem drängenden gesellschaftlichen Problem geworden. Diese jungen Türken entstammen zum größten Teil Familien aus den ländlichen Gebieten der Türkei, die sich den Modernitätsbestrebungen Atatürks lange widersetzten und es zum Teil heute noch tun. Ihre Weigerung, sich der deutschen Mehrheitsgesellschaft einzupassen, ist Folge einer misslungenen Integrationspolitik, für die Fremde und Einheimische verantwortlich sind. Dass diese Abwehr der Moderne durch türkische Migranten in Deutschland geschieht, wirkt wie eine Ironie der Geschichte."

Weiteres: Sven Felix Kellerhoff erzählt die Geschichte des Berliner Alexanderplatzes, den seit heute ein weiteres Einkaufszentrum "von atemberaubender Schlichtheit" ziert. Holger Kreitling stellt den Autor Volker Kutscher vor, dessen Krimis am Alex der dreißiger Jahren angesiedelt sind. Besprochen werden der Omnibus-Film "Deutschland 09", die beiden Ausstellungen zu Maria Lassnig in Wien und Köln, eine Opernaufführung von Peter Eötvös in Chemnitz, Frankfurt und München und das ARD-Drama "Kinder des Sturms".

Auf der Magazin-Seite berichtet Elisalex Henckel von Vorwürfen gegen Wiens früheren Bürgermeister Helmut Zilk, für den tschechoslowakischen Geheimdienst StB gearbeitet zu haben.