Heute in den Feuilletons

Sieh an, ein waidwundes sterbendes Rehkitz

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.03.2009. Die NZZ wundert sich über den Umgang der deutschen Presse mit dem Thema Rechtsextremismus. In der FR erklärt der Romancier Alfred Neven-Dumont, warum er nebenbei noch Zeitungen macht. Und Niall Ferguson sagt die Reihenfolge der aus der Krise folgenden Revolten an. Die taz räumt mit Mythen des Internets auf: Open Access in der Wissenschaft sei teurer als die Zeitschriften der Konzerne. Die FAZ räumt mit Sasha Waltz auf: Kitsch-Verdacht. In der Welt fordert Grand Master Flash mehr Respekt vor alten Werten.

NZZ, 20.03.2009

Geradezu unseriös findet Heribert Seifert auf der Medienseite die Berichterstattung deutscher Qualitätszeitungen und Regionalblätter über den Forschungsbericht "Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt" (pdf). Die Kernaussage der Studie, dass die Jugendgewalt entgegen der öffentlichen Wahrnehmung weiter zurückgeht, sei völlig ignoriert worden, statt dessen habe man die angebliche Ausländerfeindlichkeit unter deutschen Jugendlichen hochgespielt, ohne die Zahlen nachzurecherchieren. "Ebenso erweist sich der angeblich große Zulauf zu gefährlichen Jugendbünden als alarmistische Windbeutelei, wenn man bedenkt, dass die 4,9 Prozent der männlichen Jugendlichen, die sich hier versammeln sollen, sich laut einer Selbstauskunft dort verorten. Wie verlässlich ist das? Und warum ist hier plötzlich von 'rechten Gruppen' die Rede, wo es doch um Rechtsextremismus gehen sollte? Die Zahlen können nicht stimmen, wie die Berliner taz feststellte. Nach Pfeiffers Angaben müssten insgesamt 34.000 15-Jährige rechtsextrem organisiert sein, während doch der Verfassungsschutz die Gesamtzahl der organisierten Extremisten aller Altersklassen nur mit 31.000 angibt."

Usahma Darrah berichtet, wie das arabische Fernsehen einem jungen Publikum den modernen Islam näherbringen möchte - mit muslimischen "TV-Scheichs" wie Ahmad ash-Shukairi: "Als gutaussehender, sportlicher 35-Jähriger verbindet Shukairi anscheinend mühelos religiöse Glaubwürdigkeit mit weltlich-ausgelassenem Humor. Der Absolvent einer Wirtschaftsschule in den USA nennt den Islam manchmal 'ein exzellentes Produkt, das eine bessere Verpackung braucht'."

Fürs Feuilleton hat Andrea Köhler in New York den Schriftsteller Michael Greenberg getroffen, der in seinem Buch "Der Tag, an dem meine Tochter verrückt wurde" von deren psychischer Erkrankung erzählt: "Sally, die nächtelang Shakespeares Sonette mit Kommentaren versieht und ihre Tagebücher mit bizarr schönen Hieroglyphen füllt, versteht die unterirdische Verbindung zwischen ihren beiden poetisch geprägten Wahrnehmungsschärfen genau. 'Ich glaubte allen Ernstes, dass meine Visionen dich zermalmen würden', sagt Sally, nachdem sie aus dem Wellental des Wahns wieder aufgetaucht ist. 'Ich bin von Sallys Wahnsinn im doppelten Sinne des Wortes betäubt: berauscht und vergiftet', schrieb der Vater seinerzeit ins Notizbuch."

Weiteres: Anlässlich von Pedro Almodovars neuem Film "Los abrazos rotos" freut sich Brigitte Kramer über die Wiederentdeckung der männlichen Seele. Martin Schäfer ist auf der Suche nach dem wahren Blues. Susanne Ostwald schreibt zum Tod der Schauspielerin Natasha Richardson, die den Verletzungen eines Skiunfalls erlag. Roman Bucheli liefert den Nachruf auf die österreichische Autorin Gertrud Fussenegger.

Besprochen werden eine Ausstellung über portugiesische Architektur in der Berliner Galerie Aedes und eine Aufführung von Bachs Matthäus-Passion in Zürich.

FR, 20.03.2009

Alfred Neven-Dumont, Verleger der FR und neuerdings auch der Berliner Zeitung, hat einen Roman geschrieben: "Reise zu Lena". Heute erscheint in der FR das Haupt- und Staats-Interview, das sich aber (schon dank des Interviewers Arno Widmann) recht kurzweilig liest. Eine "schreckliche Altersneugier" treibe ihn, sagt Neven-Dumont, und spricht dann auch mehr über die Zeitungen als über den Roman: "Ich möchte ein neues Leben, nicht nur das alte führen. Da ist eine neue Zeitung oder gar ein paar neue Zeitungen genau das Richtige. Ich bin ja ein leidenschaftlicher Zeitungsmann und sehe natürlich den Niedergang der Zeitung und glaube, dass man sich gerade deswegen jetzt um notleidende Kinder kümmern muss. Mein Sohn meinte völlig zu Recht: Ob man zwei, drei oder vier Zeitungen hat - das Problem bleibt dasselbe. Gut, sagten wir: Dann kaufen wir das eben noch dazu."

Krise? Hat noch nicht mal angefangen, meint der Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson: "Wirtschaftliche Instabilität, ethnische Konflikte und zerfallende Großreiche - eine in der Geopolitik absolut tödliche Kombination. Alle drei Bedingungen sind inzwischen erfüllt. Das Zeitalter des Aufruhrs hat begonnen. Meine Achse des Aufruhrs:
1. Demokratische Republik Kongo
2. Simbabwe
3. Somalia
4. Israel (Gaza)
5. Irak
6. Iran
7. Afghanistan
8. Thailand
9. Ukraine"

Weitere Artikel: Harry Nutt schreibt zum Tod von Gertrud Fussenegger. Besprochen werden Bücher, darunter Olga Tokarczuks neuer Roman "Unrast" (Leseprobe).

TAZ, 20.03.2009

Für Rudolf Walter ist "Open access" nichts als Betrug. Das habe der Philologe Uwe Jochum nachgerechnet: "Im Jahr 2005 kostete es die Universität Yale noch 4.648 Dollar, ihren Forschern einen einzigen Artikel aus einer digital erscheinenden hochspezialisierten biomedizinischen Zeitschrift zugänglich zu machen. Ein Jahr später verlangten die Quasi-Monopolisten 31.625 Dollar pro Artikel." (Das stimmt nicht ganz, in Roland Reuß' Artikel, auf den sich Walter bezieht, heißt es: "So hatte Yale im Jahre 2005 4.648 Dollar investieren müssen, um interessierten Hochschulangehörigen die Publikation ihrer Arbeiten in Biomed Central zu finanzieren. Im Jahre 2006 waren es dann schon 31.625 Dollar und 2007, dem Jahr des Abbruchs, bis Juni 29.635 Dollar, mit weiteren 34.965 Dollar an erwarteten Kosten bis Jahresende, zusammen also 64.600 Dollar für 2007.")

Weiteres: Im Interview erzählt die iranische Künstlerin Simin Keramati, deren Arbeiten gerade im Rahmen des Iranfestivals in Karlsruhe gezeigt werden, vom "ewigen Kampf" in einem Land, das von Zensur und Männern dominiert wird. Besprochen werden CDs von DJ Koze, Omar S und DJ/Rupture & Andy Moor.

Und Tom.

Welt, 20.03.2009

Kunst war immer schon "vor allem eins: Broterwerb", lernt Uta Baier in der großen Niederländer-Ausstellung "Der Meister von Flemalle und Rogier van der Weyden" in der Berliner Gemäldegalerie: "Wenn schnell viel Geld für Brot verdient werden musste, wurden Bilder einfach aus vorhandenen Figuren nach einem bereits erprobten Schema zusammengesetzt. Manchmal funktionierte das, manchmal nicht. So fasst Johannes der am Kreuz zusammenbrechenden Maria auf einem Kreuzigungs-Triptychon aus Bern (dem so genannten Abegg-Triptychon) aus der Werkstatt Rogier van der Weydens nicht helfend unter den Arm, sondern direkt an den Busen. Das passiert, wenn Figuren in einer Werkstatt kopiert und mehrmals verwendet werden."

Weitere Artikel: "Mehr Respekt vor alten Werten", fordert Grand Master Flash im Interview mit Sascha Krüger von der Jugend von heute, die sich nur noch für Frauen und dicke Autos interessiert, aber nicht mehr für die Straße und den DJ. Frank Weigand berichtet von Protesten gegen ein Stück der israelischen Autorin Yael Ronen an der Berliner Schaubühne: Isaak Behar, der Gemeindeälteste der Jüdischen Gemeinde Berlin, "ist erbost darüber, dass dabei die Shoa und die Vertreibung der Palästinenser auf der gleichen Ebene verhandelt werden". In der Randspalte meldet Gerhard Charles Rump vom Kunstmarkt, dass immer noch genug Geld zum Ausgeben da ist. Ulrich Weinzierl schreibt zum Tod der österreichischen NS-Autorin Gertrud Fussenegger.

Besprochen werden ein Programm des Niederländischen Nationalballetts, eine Geschichte des Verlags DuMont, der ZDF-Zweiteiler "Kampf um Germanien" und die arte-Produktion "Heute trage ich Rock" mit Isabelle Adjani.

Weitere Medien, 20.03.2009

Der Islamologe Olivier Roy erklärt im Gespräch mit Le Monde die Herkunft und den Zweck der Begriffe "Islamophobie" und "Verleumdung von Religionen": "Die Muslime werden hier als eine neo-ethnische Gruppe definiert. Man sagt 'die Muslime', man sagt nicht mehr 'die Araber' oder 'die Türken'. Es ist eine Neukonstruktion: Man nimmt ein religiöses Untescheidungsmerkmal, den Islam, um eine Gruppe zu definieren, die in den Augen der Menschen als ethnisch anders gilt. Die Debatte über die Kritik an der Religion, die nach dem Karikaturenstreit aufgeflammt ist, ist keine Debatte über den Islam an sich. Sie ist in bezug auf die muslimischen Minderheiten in Europa aufgetaucht. Da Gotteslästerung kein aktueller Begriff mehr ist, ziehen sie sich auf Gesetze gegen den Rassismus zurück. Der Begriff der Islamophobie wurde in der europäischen Debatte geprägt, bevor er von politischen Führern der muslimischen Welt aufgegriffen wurde."

SZ, 20.03.2009

Afrikanische Erweckungskirchen mit ihrer Mischung aus Ekstase und rigider Moral finden auch unter schwarzen Europäern immer mehr Anhänger, berichtet Judith Raupp, die eine solche Gemeinde in München besucht hat - in Afrika sind diese Kirchen stärker als traditionelle Protestanten oder Katholiken: "Die Erweckungskirchen kommen in Afrika so gut an, weil sie eher an die afrikanische Kultur anknüpfen... Zudem stärken die Erweckungsgemeinden das Selbstbewusstsein, weil nach deren Versprechen jeder Einzelne Wohlstand und Gesundheit erreichen kann, wenn er nur das Wort Gottes befolgt. Diese Betonung des Individuums ist besonders attraktiv für aufstrebende junge Afrikaner. Sie begreifen die herkömmliche Verpflichtung, dass jemand, der zu Geld gekommen ist, den ganzen Familienclan unterstützen muss, zunehmend als Fessel. Deshalb sind sie erleichtert, wenn jemand predigt, jeder könne sein Schicksal selbst in die Hand nehmen."

Weitere Artikel: Simon Frith, Professor für Popmusik an der Universität Edinburgh, ruft uns entgegen: "Hey-ho, es wird Frühling und hier kommen die Pet Shop Boys, lässig posieren sie für jede Musikzeitschrift, Neil und Chris, schick wie wir es gewohnt sind, vielleicht ein wenig onkelhaft inzwischen. Grau sind sie geworden und weltgewandt, und sie haben ein neues Album zu verkaufen." Hier was zum Hören. Michael Tschernek führt ein begleitendes kleines Interview mit dem Pet Shop Boy Neil Tennant. Andreas Zielcke erklärt, was es genau mit den Bonuszahlungen bei der maroden amerikanischen Versicherungsgesellschaft AIG auf sich hat. Kristina Maidt-Zinke schreibt zum Tod von Gertrud Fussenegger. Fritz Göttler schreibt zum Tod von Natasha Richardson.

Besprochen werden Sasha Waltz' Choreografie zur Einweihung des Neuen Museums in Berlin ("eine grandiose Weihehandlung, die das theatralische Moment der Chipperfieldschen Konzeption zum Vorschein bringt", schwärmt Dorion Weickmann), Paul Hindemiths Oper "Cardillac" in Dresden, eine Ausstellung mit Mode und Mode-Experimenten von Martin Margiela in München ("irgendetwas muss es sein, jenseits von schlechtem Wetter und gutem Essen, das in Belgiern den Sinn für das Surreale wachsen lässt", grübelt Georg Diez) und Bücher, darunter Niklas Holzbergs Studie "Horaz - Dichter und Werk".

FAZ, 20.03.2009

Wiebke Hüster muss sich erst mal zur Ordnung rufen, bevor sie über Sasha Waltz' neue Choreografie schreibt: "Es ist die absichtsvolle Kunstlosigkeit, mit der sich ihre Tänzer auch hier im Neuen Museum in Berlin in die Ecke werfen und plötzlich die Zehen eines in die Luft erhobenen Fußes spreizen. Sieh an, ein waidwundes sterbendes Rehkitz, ein vom Sockel gefallenes antikes Statuettchen - ach nein, es ist ja abstraktes deutsches Tanztheater. Streichen wir also das Wort Kitsch durch, stellen wir uns vor, die Wörter Kunsthandwerk und Kitsch existierten in einem anderen Begriffssonnensystem als dem unseren."

Weitere Artikel: Giuliano Soria sitzt im Knast, berichtet Dirk Schümer: Der Präsident des renommierten italienischen Literaturpreises "Premio Grinzane Cavour" soll nicht nur Angestellte sexuell belästigt, sondern auch 900.000 Euro Subventionsgelder für sich abgezweigt haben. Peter Sloterdijk hat auf der Litcologne aus seinem neuen Buch "Du musst dein Leben ändern" vorgelesen, erzählt Andreas Rossmann atemlos in der Leitglosse. Tobias Rüther stellt Jay Ashers demnächst in Deutschland erscheinenden Bestseller "Tote Mädchen lügen nicht" vor. Es geht um den Selbstmord einer Schülerin. Angesichts von Winnenden meint Rüther allerdings: "Und deshalb beginnt in diesem Buch auch eine andere Geschichte, die jetzt weitererzählt werden muss, jenseits des Papiers, und die handelt von Jungs." Sarah Elsing resümiert eine etwas abstrakte Berliner Diskussion über Kunst und Natur. Jordan Mejias fasst die - zumeist positiven - amerikanischen Reaktionen auf die Kippenberger-Schau im Moma zusammen (New Yorker, New York Times, New York Magazine). München, die "Hauptstadt der Bewegung", baut ein NS-Dokumentationszentrum, berichtet Hannes Hintermeier. Walter Hinck schreibt zum Tod der Schriftstellerin Gertrud Fussenegger. Gina Thomas schreibt zum Tod der Schauspielerin Natasha Richardson.

Auf der Medienseite ist Robert von Lucius froh, melden zu können, dass das Landgericht Braunschweig die Überwachung dienstlicher und privater Telefonanschlüsse von Journalisten der Wolfsburger Allgemeinen Zeitung für rechtswidrig hält. Das Internet-Fernsehen Joost kommt nach Deutschland, meldet ht.

Besprochen wird Luca de Fuscos Inszenierung von Goldonis "Impresario von Smirna" in Venedig.