Heute in den Feuilletons

Wenn man nicht so viel drauf dekoriert

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.03.2009. Die taz ist erleichtert: Zumindest zur Inspiration für Elfriede Jelineks neues Stück hat die Finanzkrise getaugt. Der Amoklauf ist ein relativ neues Phänomen, meint die Historikerin Dagmar Ellerbrock in der FR. In der Welt zweifelt die israelische Historikerin Rachel Elior an der Existenz der Essener (während die Existenz der Bochumer nach wie vor als gesichert gilt). Die SZ schaudert über das schlechte Verhalten der Broker, die uns alle in die Krise führten. Die FAZ freut sich über Jil Sander: Sie entwirft wieder.

TAZ, 18.03.2009

Für Elfriede Jelineks neues Stück "Die Kontrakte des Kaufmanns" hat sich die Finanzkrise fast schon gelohnt, befindet Robert Misik: "Das ebenso lustige und wuchtige Stück kreist um die Glaubensstruktur eines Systems, das kleine Leute dazu bringt, an ihrer eigenen Enteignung mitzumachen, und die ihre Verluste am Ende nicht einmal als Raub und Plünderei erleben, sondern als Ausweis ihres unternehmerischen Unvermögens, wie jener Axtmörder, der seine Familie auslöschte, weil er ihr die Schande der Fehlinvestition ersparen wollte. So mündet Jelineks Kapitalismusanalyse in ein hübsches, blutiges Massaker. Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll vom Amoklauf schweigen."

Anlässlich des Kinostarts von "Slumdog Millionär" erklärt Dorothee Wenner die Erzählstruktur von Bollywood-Filmen: "Ans Ziel gelangen die Liebenden zwar oft gebeutelt, aber innerlich sind sie immer noch genauso toll wie schon zu Beginn des Films."

Weiteres: Jan Völkers schickt einen kurzen Bericht vom Londoner Kommunismus-Kongress mit Alain Badiou, Toni Negri und Slavoj Zizek. Besprochen wird eine Ausstellung mit Werken von Sigmar Polke aus den Siebzigern in der Hamburger Kunsthalle.

Und Tom.

NZZ, 18.03.2009

Joachim Güntner bewundert die entspannte Haltung des Imams der von Türken gegründeten Centrum-Moschee im Hamburger Stadtteil St. Georg. Dieser hat den Künstler Boran Burchardt verpflichtet die beiden Minarette des Gebetshauses neu zu bemalen - in Fußballoptik. "Der stellvertretende Vorsitzende der islamischen Gemeinde, der dem Gespräch beiwohnte, soll dem Vernehmen nach zunächst gewarnt haben: Minarette im Fußball-Design? Verschmitzt indes habe der Imam reagiert: Er sehe bloß Sechsecke - und Grün, die Farbe des Propheten. Seit Jahrhunderten ein symbolisches Element des Islams, ist das regelmäßige wie auch das unregelmäßige Sechseck Teil der Ausgestaltung einer jeden Moschee. Das Projekt wurde in der Gemeinde lebhaft diskutiert, Burchardt erhielt den Auftrag zur Neugestaltung."

Weiteres: Die neue Skanderbeg-Biografie des Schweizer Südosteuropa-Historikers Oliver Jens Schmitt hat in Albanien eine Welle der Entrüstung ausgelöst, berichtet Ekkehard Kraft. In dem Buch über den albanischen Nationalhelden, der wesentlich die nationale Identität prägte, hat der Historiker einige Details aus dem Leben Skanderbegs korrigiert. Eine Meldung informiert uns über den Gewinner des diesjährigen arabischen Booker-Preises: Yusuf Zaydan für sein Buch "Azazil".

Besprochen werden eine Hut-Ausstellung im Victoria & Albert Museum in London (die Marion Löhndorf trotz aller Begeisterung für Stephen Jones' Kreationen, der gleichzeitig als Kurator fungiert, für Selbstbeweihräucherung hält), das Buch "Die Akte Karl Barth", Stewart O'Nans neuer Roman "Alle, alle lieben dich" (ebenso ein Interview mit dem Autor) und ein Band mit vier kurzen Erzählungen von Jonathan Littell aus den 90ern.

FR, 18.03.2009

Dass Jugendliche mit Waffen hantieren, ist kein Phänomen des 21. Jahrhunderts, verkündet die Historikerin Dagmar Ellerbrock; nur Amokläufe gab es nicht, weil sie früher kein denkbares Verhaltensmuster darstellten. "Enttäuschte Liebe, ein Bier zu viel oder schlichtweg Langeweile - ein Schuss aus den locker sitzenden Waffen war schnell provoziert und abgegeben. Verletzungen - leichte, schwere und tödliche - waren häufig... Überliefert sind diese Zustände aus der Feder von Polizeibeamten, Oberstaatsanwälten und Ministern. Sie dokumentierten Waffentypen und -preise, entwarfen Alterscluster und Tatorttopographien, identifizierten Anlässe und Motive von Waffengewalt. Ihre Berichte waren präzise, detailliert und glaubwürdig. Über Amokläufe berichtete nicht ein einziger von ihnen."

Arno Widmann schreibt zum 80. Geburtstag von Christa Wolf: "Christa Wolf ist nicht Kassandra. Christa Wolf hegt Hoffnungen. Hegt sie sie nicht, so weckt sie sie doch. Es gab eine Zeit, da glaubten wir, auf das Stimulans Hoffnung verzichten zu können, hielten das Sich-Einpassen im Gegebenen nicht nur für das Leichtere, sondern auch für das Klügere. Ja, es gab dialektische Schlaumeier, die uns weismachen wollten, es sei sogar das Interessantere. Heute ahnen wir, dass wir selbst die Späne sein könnten, die weggehobelt werden auf dem Weg zu einer neuen, schöneren Welt."

Auf der Medienseite hat Rene Martens gelernt, dass "hyperlocal" kein Szenebegriff für gute Lokale ist, sondern eine publizistische Strategie, durch (häufig internetbasierten) Lokal- und Bürgerjournalismus viele kleine Zielgruppen zu erschließen. Mediensympath Rupert Murdoch macht's schon vor.

Besprochen werden die von Joachim Schlömer inszenierte Schumann-Oper "Paradies und die Peri" im Nationalheater Mannheim, Molieres Stück "Der Menschenfeind" im Staatstheater Darmstadt und die CD "Es brennt so schön" von Olli Schulz ("Deutschlands bestgehütete Alternative für einen Lacher mit gutem Gewissen").

Aus den Blogs, 18.03.2009

Geradezu hysterisch sind die Kämpfe um die kommenden Formate des E-Books. Matthias Spielkamp meldet in seinem Immateriblog (unter Berufung auf Cnet), dass "Amazons Anwälte den E-Book-Anbieter MobileRead.com aufgefordert haben, den Link zu einer Software von der Seite zu nehmen, die es erlaubt, auch andere als Amazons E-Books auf dem Kindle zu nutzen."

Auch in Europa arbeitet Google für Google News künftig mit Nachrichtenagenturen zusammen, um sich direkt beliefern zu lassen, meldet Ole Reißmann in Medienlese: "Damit wird Google News immer mehr zur ernsthaften Konkurrenz für Nachrichtenangebote im Netz, die vor allem auf Agenturmaterial setzen und wenig oder kaum selber recherchieren. Anscheinend lohnt es sich für die Agenturen, ihr Material gleich an Google zu verkaufen - auch wenn Details über den Split der Werbeeinnahmen nicht verraten wurden." Auch der Netzökonom der FAZ kommentiert die Meldung.

Am Beispiel Winnenden wird auch der Klassenkampf zwischen etablierten Medien und dem Netz ausagiert, meint Stefan Niggemeier: "Nach dem Amoklauf in Erfurt mussten sich die Medien noch fragen lassen, was denn ihre Verantwortung für solche Ereignisse sein könnte. Die Fernsehsender sollten sich sogar auf Wunsch von Bundeskanzler Gerhard Schröder um einen Runden Tisch zum Thema Gewalt in den Medien setzen. Diese Zeiten sind vorbei. Denn es gibt ja jetzt das Internet."

Welt, 18.03.2009

Norbert Jessen berichtet, dass die israelische Historikerin Rachel Elior Zweifel an der Existenz der Essener angemeldet hat, deren monastischer Gemeinde am Toten Meer wir angeblich die Qumran-Rollen verdanken: Elior hält sie für eine Erfindung des Geschichtsschreibers Josephus Flavius, hebräische oder aramäische Quellen gebe es nicht. "Daraus zieht Rachel Elior den Schluss, dass es sich bei den Schreibern der Rollen nicht um fromme Essener am Toten Meer, sondern um Sadduzäer handelte, also Angehörige der Gruppe im antiken Judentum, die zahlreiche Hohepriester stellte und bis zu ihrer Vernichtung im Jüdischen Krieg die gemäßigte Elite des Volkes repräsentierte. Die Texte von Qumran wurden demnach im Jerusalemer Tempel geschrieben und in Jerusalemer Bibliotheken verwahrt. Erst bei Kriegsausbruch wurden sie ans Tote Meer gebracht, um sie vor den Römern zu schützen."

Als den "temporeichsten Film seit 'Lola rennt'" preist Peter Zander Danny Boyles "Slumdog Millionär". Im Kurzinterview mit Peter Beddies schwärmt Boyle von den Dreharbeiten in Bombay: "Der Fehler, den man als Westeuropäer machen kann, ist folgender: Man will etwas tun gegen diese Gegensätze! Vergesst es! Nehmt die Stadt hin, wie sie ist!"

Weitere Artikel: Hanns-George Rodek kolportiert verschiedene Gerüchte über Florian Henckel von Donnersmarck, denen zufolge er mit Tom Cruise den Verschwörungsthriller "The 28th Amendment" plant. Wega Wetzel berichtet vom Streit zwischen Dieter Hildebrandt und Mathias Richling.

Besprochen werden die Ausstellung "Vincent van Gogh und die Farben der Nacht" in Amsterdam, Hubertus Knabes Buch "Honeckers Erben" und das ARD-Drama "Die Drachen besiegen".

SZ, 18.03.2009

Das beste in der SZ heute ist der umwerfende Hut von Madame Chantal Biya auf der Titelseite. Sie hat ihn extra für den Papstbesuch in Kamerun anfertigen lassen.

Eine deutsche Brokerin hat unter dem Pseudonym Anne T. in einem Buch mit ihrer Branche abgerechnet. Andreas Zielcke rümpft zwar die Nase ob des Stils und des beschriebenen Tuns, liefert uns aber dieses schöne Zitat: "Einmal, erzählt sie am Rande, erfüllte sie einem normalen Bankier dessen Traum und ermöglichte ihm einen Besuch im Brokerzentrum ihrer Bank. So wenig der gute Mann in diesem mit komplexen mathematischen Formeln umflorten Tempelbezirk verstand, so schwer beeindruckt war er. 'Wir orientieren uns natürlich', erklärte ihm einer der Broker, 'an den gehandelten Volatilitäten an der EUREX, da bekommen wir aber nur einen Bruchteil der Volatilitäten mit, die wir für unsere Arbeit benötigen. Danach wird die Luft jedoch dünner. Wir kalibrieren mit GARCH beziehungsweise nutzen Modelle stochastischer Volatilität, etwa Hull. Außerdem haben wir noch das Problem der Fat Tails in den Volas, die Smiles, die Skews ...' Mit mehr als einem 'Aha' konnte der Bankier derlei Erläuterungen nicht kommentieren."

Weitere Artikel: Lothar Müller gratuliert Christa Wolf zum Achtzigsten. Christine Dössel liest in Erwartung von Christoph Schlingensiefs neuem Stück "Mea Culpa" am Wiener Burgtheater einen Text, den Elfriede Jelinek für den kranken Künstler geschrieben und im Netz publiziert hat. Angela Ullmann kommentiert die Meldung, dass die British Library 9.000 ihrer 140 Millionen Bände vermisst. Johannes Willms stellt städtebauliche Vorschläge von zehn Architekten für ein neues "Grand Paris" vor, das tatsächlich die bisher nur auf der Fahrt zum Landhaus passierte Banlieue eingemeinden zu wollen scheint. Kurt Kister mokiert sich, nicht ohne das Ressentiment des Roturiers, über eine für Fotografen eingenommen Pose von und zu Guttenbergs auf dem Times Square in New York. Auf der Literaturseite berichtet Jörg Häntzschel von dem Vorhaben, David Foster Wallaces nachgelassenes Romanfragment "The Pale King" zu rekonstruieren und herauszubringen: 1.000 Seiten - der New Yorker brachte jüngst einen Auszug und eine lange Geschichte über den Roman. Und Gustav Seibt liest einen Aufsatz des Germanisten Hans-Jürgen Schings über Goethes wenig bekanntes Stück "Die natürliche Tochter", in dem der Terror der Französischen Revolution nachzittert.

Auf der Medienseite erklärt Nikolas Piper, was die Medienkrise für Amerika bedeutet - San Francisco könnte bald die erste große amerikanische Stadt ganz ohne Zeitung sein. Und Michael Frank liest die erste Sonntagsausgabe der Wiener Presse. Die Tagesthemenseite wirdmet sich noch einmal möglichen Verfehlungen Kölner Akteure vor dem Einsturz des Stadtarchivs.

Besprochen werden Danny Boyles Film "Slumdog Millionär" (Fritz Göttler findet ihn gut), eine Ausstellung mit Werken amerikanischer Fotorealisten in Berlin und Werner Düggelins Inszenierung der "Gerechten" von Camus in Zürich.

FAZ, 18.03.2009

Jil Sander macht wieder Mode, berichtet Ingeborg Harms, für einen japanischen Massenhersteller mit dem etwas unglücklichen Namen UniQlo. Das Preisniveau liegt zwischen H&M, Zara und Gap. Und Jil Sander klingt absolut glücklich damit: "Natürlich haben wir keine Stoffe, die zweihundert Euro pro Meter kosten, aber ich bin von Anfang an involviert, von der Materialwahl bis zur Fertigstellung der Prototypen. Ich bin ja ein Schnittperfektionist und arbeite sehr viel in der dritten Dimension. Eine Form kann flach und eigentlich gar nichts sein oder eine Modernität ausdrücken, vor allem, wenn man nicht so viel drauf dekoriert. Am Ende muss man sagen, keine Qualität ohne Form. ... Ich sage jetzt als Connaisseur, es sieht so gut aus, dass ich wirklich dahinterstehe und selbst schockiert bin. Ich frage immer: Und was kostet das? Und dann sagen sie: neunundzwanzig Dollar."

Außerdem: Nobelpreisträger und Blogger Paul Krugman hat im Spiegel die Bundesregierung beschimpft, weil sie nicht genug gegen die Wirtschaftskrise unternimmt: "Vielleicht fehlt ihnen intellektuelle Beweglichkeit." Der Finanzwissenschaftler und Blogger Thomas Strobl sieht das heute in der FAZ ähnlich. Joseph Hanimann beschreibt Bebauungsvorschläge für "Grand Paris", die ab 29. April in der "Cite de l'Architecture et du Patrimoine" gezeigt werden sollen. Gina Thomas resümiert die britischen Reaktionen auf Jonathan Littells "Die Wohlgesinnten" (obwohl die amerikanischen um einiges interessanter waren). Dieter Bartetzko schreibt zum Tod des französischen Poeten und Chansonsängers Alain Bashung ("Madame reve"). Eine Meldung informiert uns, dass das Wiener Burgtheater "ein Praxisjahr für theaterinteressierte Jugendliche" ausschreibt.

Auf der DVD-Seite geht's um Wong Kar-Wais Schwertkampffilm "Ashes of Time Redux", Walter Ruttmanns "Berlin. Die Sinfonie der Großstadt", Narciso Ibanez Serradors Thriller "Ein Kind zu töten" und Nicolas Roegs "Puffball" ("Roeg macht immer noch ein Kino ohne Gebrauchsanleitung", staunt Dominik Graf).

Auf der Forschung-und-Lehre-Seite beklagt der Soziologe Georg Vobruba die Hochschulreform, die die "Struktur der Verantwortungsfreiheit der Hochschulpolitik" verschärft habe. Mara Delius hat eher wenig Verständnis für die durch das Abkommen von Bologna ausgelösten Professorensorgen, die sich auf einer Paderborner Tagung zu Geschichte und Gegenwart der Hochschulpolitik Luft machten. Jürgen Kaube mokiert sich über Presseabteilungen von Universitäten, die Expertendienste ihrer Wissenschaftler zu aktuellen Ereignissen anbieten (und ernstlich zu glauben scheinen, dass sich Journalisten in ihrer Expertise für alles und jedes gern übertreffen lassen).

Auf der Medienseite nennt Michael Hanfeld den ZDF-Intendanten Markus Schächter einen Verschwörungstheoretiker, weil der erst behauptet hat, "'auflagenstarke Blätter' hätten für das vergangene Wochenende geplant, die Diskussion um Brender weiter zuzuspitzen" und dann die Wahl des Chefredakteurs vertagt hat. Jörg Thomann berichtet über einen Streit unter den Kabarettisten Mathias Richling und Dieter Hildebrandt (mehr hier). Jürg Altwegg berichtet über eine neue Schweizer Gratiszeitung, die nach den individuellen Wünschen der Abonnenten zusammengestellt wird (mehr hier).

Besprochen werden Danny Boyles Film "Slumdog Millionär" (der für Michael Althen einigen Charme zu haben scheint), die Ausstellung "Das Zeitalter Rembrandts" in der Wiener Albertina und ein Konzert der französischen Popmusikerinnen Marianne Dissard und Francoiz Breut im Kölner Stadtgarten ("Am Ende fällt im Publikum eine Flasche auf den Boden und zerbricht. 'Quel enthusiasme', haucht Dissard mit dem Anflug eines Lächelns." Eric Pfeil ist t-o-t-a-l hingerissen).

Thomas Hettches gestrige Mutmachung für Frankfurt darf man jetzt auch online lesen.