Heute in den Feuilletons

Kaputtverblödet

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.03.2009. In der NZZ betrauert der dänische Autor Christian Groendahl die ungeheuchelte Solidität elektrischer Apparate aus der vordigitalen Zeit. In der FR erklären Chamisso-Preisträger, wie sie deutsch lernten. In der Welt fragt der Washington Post-Journalist Walter Pincus: Was tun, wenn man 19 Pulitzer-Preise gewinnt und 140.000 Auflage verliert? In der Zeit meint Eva Menasse: Das einzige was an Kärnten noch lecker ist, sind die Knödel.

NZZ, 05.03.2009

Der dänische Schriftsteller Jens Christian Groendahl betrauert den Traum seiner Kindheit, die in Konkurs gegangene Modelleisenbahn Märklin. In seinem Nachwort erinnert er sich an gute alte Zeiten: "Zu Hause hatte ich auch eine MY-Lok, ich lag mit der Wange auf den Dielen und sah die nüchtern maskuline Maschine mit den aerodynamisch abfallenden kleinen Fenstern des Führerhauses in schneller Fahrt heranbrausen. Wie schnell, konnte ich selbst bestimmen, mit zwei Fingern, die den roten Drehknopf des robusten blauen Transformators umfassten. Das war in der prädigitalen Epoche, elektrische Apparate besaßen eine ungeheuchelte Solidität, die besser als die schwerelosen remote controls der heutigen Zeit die Naturkräfte widerspiegelten, die man in der hohlen Hand hielt."

Alessandro Topa und Roshanak Zangeneh berichten über die immer stärkere iranische Zensur in der Kunstwelt: Seit dem Ende der Amtszeit des Reformers Khatami gebe es seitens der Regierung immer mehr Einmischungen, was Konzeption und Inhalt von staatlichen Einrichtungen wie zum Beispiel dem Tehran Museum of Contemporary Art (TMCA) betrifft. Statt einer Ausstellung mit Werken des 20. Jahrhunderts, konnte man vor kurzem teils jahrhundertealte Kalligrafie ("die Kunst, Gottes Wort schön zu schreiben") bewundern.

Besprochen werden außerdem Klaus Merz' Novelle "Der Argentinier", diverse Filme vom iranischen Fajr-Filmfestival (auf dem die Zensur auch regiert, wenn auch nicht so stark wie in der Kunst) und Zack Snyders Comicverfilmung "Watchmen".

FR, 05.03.2009

Katrin Hillgruber unterhält sich mit den drei Chamisso-Preisträgern Artur Becker, Tzveta Sofronieva und Maria Cecilia Barbetta über nationale Identitäten und das Schreiben in deutscher Sprache. Die in Argentinien aufgewachsene Barbetta berichtet über ihre wenig poetische erste Begegnung mit dem Deutschen: "Ich habe in Buenos Aires einen deutschen Kindergarten besucht, weil meine Mutter in einer deutschen Schule unterrichtet hat, allerdings auf Spanisch, meine Eltern können kein Deutsch. Die kleine Cecilia geht also aus diesem Kindergarten hinaus und ich sage zu meiner Mutter: 'Guck mal, Mama, die beiden Herren da streiten sich.' Und meine Mutter sagt: 'Nein, sie streiten sich nicht, sie sprechen Deutsch.'"

Weiteres: Wolfgang Kuhnert berichtet, dass die sterblichen Überreste von Jorge Luis Borges jetzt doch auf dem Genfer Friedhof bleiben und nicht, wie von einer peronistischen Abgeordneten gefordert, ausgebuddelt und nach Buenos Aires überführt werden. Auf der Medienseite schreibt Wolfgang Hettfleisch über den juristischen Zwist zwischen dem Sportjournalisten Jens Weinreich und dem DFB-Präsidenten Theo Zwanziger: Zwanziger spielt auf Zeit, Weinreich bittet um Spenden.

Besprochen werden Claire Denis Film "35 Rum", Zack Snyders Comicverfilmung "Watchmen - Die Wächter" und Clients neues Album "Demand".

Welt, 05.03.2009

"Wir müssen nicht gerettet werden. Wir müssen uns selbst retten", sagt der Washington-Post-Journalist und Pulitzer-Preisträger Walter Pincus im Interview mit Andrea Seibel : "Nicht nur die Verlage haben sich geändert, auch die Chefetagen wollen heute eher Preise gewinnen, sie wollen strahlen. Aber natürlich müssen Zeitungen kommerziell erfolgreich sein, und daher sind sie Massenprodukte. Sie sind nicht wie Blogs. Die Hälfte unserer Leser sind Frauen, das trifft auf die meisten Zeitungen zu. Und eine Zeitung muss wie ein Supermarkt sein. Man muss Angebote liefern. In den letzten zehn Jahren haben wir 19 Pulitzer-Preise gewonnen, aber 140.000 an Auflage verloren. Da stimmt was nicht."

Mit Blick auf die Kölner Staubwolke und das rekonstruierte Neue Museum in Berlin macht sich Eckhard Fuhr grundsätzliche Gedanken zu Einsturz, Aufbau und der Liebe zur Geschichte: "'Geschichtsbewusstsein kapituliert nicht vor der Furie des Verschwindens und holt Verschwundenes zurück. Es weiß aber auch, dass ohne die Furie Geschichte gar nicht denkbar wäre." Hildegard Strausberg stellt klar, dass die Schätze im Kölner Stadtarchiv nicht nur von lokalem Wert waren, sondern zahllose Unikate des deutschen Mittelalters beherbergte: "Illusionslos geht die Leiterin des Historischen Archivs, Bettina Schmidt Czaia, bisher davon aus, das 'fast alle relevanten Bestände vernichtet sind'."

Weiteres: Hannes Stein diskutiert Nicholson Bakers provokantes Buch zum Zweiten Weltkrieg "Menschenrauch". Auf der Kinoseite bespricht Rüdiger Sturm Zack Snyders Verfilmung von Alan Moores Comic "Watchmen", und Miriam Hollenstein unterhält sich mit Regisseurin Claire Denis über ihren neuen Film "35 Rum".

TAZ, 05.03.2009

Auf der Meinungsseite plädiert der israelische Journalist Zeev Avrahami angesichts einer "verrückten" Realität für "verrückte" Lösungen. Israel müsse "die Hamas zu einem Gesinnungswandel bewegen und sie davon abbringen, Israel als Feind zu betrachten. Lasst uns mit dem Offensichtlichen - um nicht zu sagen: Verrückten - beginnen: Nachdem der Krieg um Gaza beendet ist, sollten alle, Israelis wie Palästinenser, zunächst einmal nicht zurückblicken, sondern arbeiten, arbeiten, arbeiten - so wie es die Deutschen in den ersten zwanzig Jahren nach ihrer Niederlage im Zweiten Weltkrieg getan haben."

Im Kulturteil geht es in einem Gespräch mit der französischen Regisseurin Claire Denis um ihren neuen Film "35 Rum", Frankreichs Verhältnis zum Kolonialismus und die Erinnerung an frühere Utopien. Besprochen werden Stefan Kaegis Projekt "Radio Muezzin", das vier Muezzins aus Kairo auf die Bühne des Berliner HAU-Theater bringt, das Melodram "Drei Affen" von Nuri Bilge Ceylan, Zack Snyders Verfilmung der Graphic Novel "Watchmen" von Alan Moore, eine Ausstellung der schön-schaurigen Bilder von Martin Eder in der Kunsthalle im Dresdner Lipsiusbau und ein Begleitband zu gleichnamigen Ausstellung in der Wiener Albertina "Fotografie und das Unsichtbare, 1840-1900".

Hier Tom.

Weitere Medien, 05.03.2009

Nicholas D. Kristof prangert in der New York Times unermüdlich die Verbrechen in Darfur an. In seinem Kommentar zur allerjüngsten Entwicklung schreibt er: "Als der Internationale Strafgerichtshof am Mittwoch seinen Haftbefehl gegen den sudanesischen Präsidenten erließ, hätte Bakit Musa, ein acht Jahre alter Junge, sicher applaudiert - wenn er noch Hände hätte."

SZ, 05.03.2009

Im Interview mit Johan Schloemann erklärt der Mittelalterhistoriker Johannes Fried, welche Art von Quellen im Kölner Stadtarchiv lag und was sein Verlust bedeuten würde: "Das Kölner Stadtarchiv ist - war? - eines der größten in Mitteleuropa überhaupt. In Deutschland sind allenfalls noch zwei vergleichbare Archive von großen Fernhandelsstädten erhalten, nämlich Lübeck und Nürnberg. Die großen Archive in Frankfurt und Hamburg sind untergegangen, das eine im Zweiten Weltkrieg, das andere beim großen Stadtbrand Hamburgs 1842." In einem zweiten Artikel stellt Stefan Koldehoff die wichtigsten aktuellen Bestände des Archivs vor - hier lagern etwa die Nachlässe von Heinrich Böll, Vilem Flusser und Rolf Dieter Brinkmann. Auf Seite 2 des politischen Teils bringt die SZ ein ganzes Dossier zum Einsturz des Archivs.

Weitere Artikel: Kai Strittmatter beobachtet den türkischen Premier Tayyip Erdogan im Wahlkampf, wo er immer öfter als "Sultan" gefeiert wird. Für die Filmseite hat sich Christiane Schlötzer einige eher kommerzielle türkische Filme angesehen, die immer häufiger auch in deutschen Kinos gezeigt werden. Christine Dössel schreibt zum Tod der bayerischen Regisseurin und Schauspielerin Ruth Drexel. Auf der Literaturseite schreibt Herbert Wiesner zum Tod des Literaturkritikers (der häufig für die SZ geschrieben hat) und Seume-Herausgebers Jörg Drews. Die ebenfalls hier abgedruckte letzte Rezension Drews' widmet sich dem Briefwechsel von Werner Kraft und Wilhelm Lehmann.

Die Medienseite ist voller Horrormeldungen: Die spanische Zeitung ABC entlässt die Hälfte ihrer Mitarbeiter, 600 Entlassungen beim britischen Privatsender ITV, Pro Sieben Sat 1 macht Verluste und streicht die Dividende.

Besprochen werden die Ausstellung "Vides - Une Retrospective" im Centre Pompidou, eine vom kanadischen Theatermacher Robert Lepage verantwortete Choreografie über den Ancien-Regime-Transvestiten Chevalier d'Eon in London und Filme, darunter Claire Denis' Vater-Tochter-Geschichte "35 Rum".

FAZ, 05.03.2009

Claire Denis' neuer Film "35 Rum" erzählt die Geschichte eines Lokführers, der seine Tochter allein erzogen hat. Im Interview erzählt sie, was sie zu dieser Figur inspiriert hat: "Unsere Mutter erzählte uns so viele Geschichten über ihren Vater: der Krieg, die Flucht, die Fahrten auf dem Motorrad, um Benzin zu sparen. So schien es geradezu verlockend, einen verwitweten Vater zu haben, der kocht, blödelt und Witze macht, und nicht eine Mutter, die sich um alles kümmert. Aber mein Großvater war ein sehr ernster Mann. Bei Essen, Schule und Erziehung verstand er keinen Spaß. Er war aber auch charmant und attraktiv, obwohl er nie wieder heiratete. Uns Kindern war klar, was für ein einschneidender Moment es für ihn gewesen sein muss, als seine Tochter von zu Hause auszog. Meine Mutter ist heute vierundachtzig und denkt im Grunde immer noch, er sei der Traumprinz ihres Lebens gewesen, auch wenn sie mit meinem Vater, soweit man das sagen kann, glücklich war."

Andreas Rossmann beklagt die Schäden, die durch den Einsturz des Historischen Archivs in Köln entstanden sind: "Von einer 'Katastrophe für die europäische Geschichtsschreibung' spricht der Historiker Eberhard Illner, der von 1985 bis 2008 hier tätig war, seit 1999 die Abteilung Nachlässe, Sammlungen und Fotos leitete und heute Direktor des Historischen Zentrums in Wuppertal ist: Das Ausmaß des Schadens sei erheblich größer als beim Brand der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar." Oliver Jungen sammelt Stimmen zum Einsturz.

Weitere Artikel: In der Leitglosse mokiert sich Felicitas von Lovenberg über Hanns-Josef Ortheils Plan, Buchhandlungen zu gründen, die seinem eigenen individualistischen Konzept folgen: "Die Zukunft: Buchhandel nach Regeln der Feinkost. Das Diktat des Besserlesers." Das übt in diesem Land allein die FAZ aus! Gerhard Stadelmaier schreibt zum Tod der Schauspielerin Ruth Drexel, Michael Lentz zum Tod des Literaturwissenschaftlers und Kritikers Jörg Drews. Auf der Filmseite berichtet Andreas Kilb über das Urteil im Prozess einiger Kinobetreiber gegen die Filmtheaterabgabe für die Filmförderung: "Einerseits weist es die Klage im Prinzip zurück und erklärt die Förderpraxis der FFA für verfassungsgemäß. Andererseits stellt es die Verfassungswidrigkeit des geltenden Filmförderungsgesetzes fest."

Besprochen werden zwei Ausstellungen in Frankfurt - Robert Longo in der DZ-Sammlung und "Yellow and Green" mit Werken aus der Sammlung des MMK, ein Tanzstück über Charles d'Eon von Robert Lepage, Sylvie Guillem und Russell Maliphant, Claire Denis' Film "35 Rum" und Bücher, darunter Philipp Sarasins Studie "Darwin und Foucault" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Zeit, 05.03.2009

Kärnten bleibt auch nach dem Tod von Jörg Haider ein "demokratiepolitischer Schandfleck" und "kaputtverblödet", konstatiert Eva Menasse auf der Meinungsseite: "Aus der Ferne mag es aussehen wie ein befremdlicher Regionalklamauk, der irgendwie rührende Totenkult und die peinlichen Witze, die rassistisch zu nennen sie intellektuell geradezu aufwerten würde. Aber in Wahrheit ist Kärnten das beinahe vollendete Experiment, die Demokratie in Europa auszuhebeln. Ja, Kärnten, dieses begnadet schöne Land mit seinen Bergen und Seen, seinen herzlichen Menschen und leckeren Knödeln, das bei deutschen Familien als Urlaubsland so beliebt ist, ist ethisch, moralisch und politisch am Ende."

Im Interview mit Gerhard Haase-Hindenberg zeigt die ägyptische Rechtsgelehrtin und Predigerin Suad Saleh eine sehr spezielle Form des islamischen Feminismus. Als eine der ersten Frauen hat sie an Kairos Al-Azhar-Universität studiert und das Recht erworben, Fatwas auszugeben - zum Beispiel das Todesurteil gegen den zum Christentum übergetretenen Mohammed Hegazi und seine Frau: "Wenn jemand vom Islam zum Christentum konvertiert oder umgekehrt, ohne dass dabei ein Wirbel in der Gesellschaft entsteht, ist das sein Recht. Das Todesurteil bezieht sich darauf, dass er Unruhe in die Gesellschaft gebracht hat. Mohammed Hegazi hat die Medien ausgenutzt, um seinen Übertritt zum Christentum öffentlich zu erklären, und er hat dabei den Islam angegriffen."

Im Feuilleton setzt Ian Buruma in der Serie "Was kommt nach Amerika?" seine Hoffnung darin, dass Europa sein neurotisches Verhältnis zu den USA überdenken könnte: "Obamas Wahl schafft günstige Voraussetzungen für ein engagiertes Europa, das weniger predigt und mehr zur Lösung der globalen Krisen und Konflikte beiträgt."

Weiteres: Aufmacher ist ein Vorabdruck aus Kathrin Rögglas Essay "Gespensterarbeit, Krisenmanagement und Weltmarktfiktion", in dem sie auch kein Happy End für den derzeitigen Katastrophenfilm weiß: "Wie auch? Leben wir doch bereits in einem Zustand, in dem es nicht einmal eine ordentliche Fluchtwährung gibt." Ebenfalls abgedruckt wird eine Rede über den neuen Autoritarismus in Europa, mit der Adam Michnik in zwei Wochen eine Osteuropa-Konferenz eröffnen wird. Stefan Koldehoff schätzt schon einmal die kulturgeschichtlichen Schäden, die der Einsturz des Kölner Stadtarchivs mit sich gebracht haben dürfte. Katja Nicodemus stellt den thailändischen Regisseur Apichatpong Weerasethakul vor, dem verschiedene Filmmuseen nun eine Retrospektive widmen.

Besprochen werden Albert Ostermaiers neues Stück "Fratzen" in Mannheim, das Computerspiel "Guitar Hero" sowie eine Ausstellung zu Leben und Werk des Komponisten Hanns Eisler im Jüdischen Museum Wien.

Im Literaturteil darf Thomas David Salman Rushdie interviewen, aber nur zu seinem neuen Roman "Die bezaubernde Florentinerin": Dabei sagt Rushdie: "Das vielleicht schönste Geschenk, das die Renaissance unserer heutigen Zeit gemacht hat, ist die Entdeckung des Individuums und die Idee von einem souveränen und einzigartigen Selbst."