Heute in den Feuilletons

Es ist auch eine Inhaltekrise

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.03.2009. Die Kulturwissenschaftlerin Mithu M. Sanyal erklärt in der taz den Unterschied zwischen Vulva und Vagina. Berliner Zeitung und SZ schreiben über den neuen Prozess gegen Michail Chodorkowski, dem nochmal 22 Jahre Lager drohen. Die FR beschreibt den Sieg der kleinen über die großen Verlage in den USA.

TAZ, 03.03.2009

Die Kulturwissenschaftlerin Mithu M. Sanyal erklärt im Interview, warum sie ein Buch über die Vulva geschrieben hat. "Weil ich glaube, dass wir über etwas, wofür wir keine Worte haben, nicht reden und es uns auch nicht wirklich vorstellen können. Die Vagina ist nur ein Teil des weiblichen Genitals, nämlich die Körperöffnung, und umgekehrt würde ja niemand Hoden sagen, wenn er einen Penis meint. Verblüffend ist doch, dass man bei Frauen diese Fehlbezeichnung hinnimmt."

Weiteres: Dorothea Hahn berichtet von dem chinesischen Kunsthändler, der in Paris den Ratten- und den Hasenkopf aus der Sammlung YSL/Berge ersteigert hat und jetzt nicht zahlen will. Robert Misik will sich seine Lust an der Krise nicht madig machen lassen. Besprochen werden die große Retrospektive "William Eggleston. Democratic Camera. Fotografie und Video, 1961-2008" im Münchner Haus der Kunst, die sechsstündige Performance "Speak Bitterness" des Theaters PACT Zollverein in Essen.

Und Tom.

Berliner Zeitung, 03.03.2009

Dem Oligarchen Michail Chodorkowski wird in Moskau ein neuer Prozess gemacht. Wie Christian Esch erklärt, droht dem Kreml-Kritiker dabei noch eine wesentlich schlimme Strafe als seine bisherigen acht Jahre Arbeitslager: "Die neue Anklage gegen Chodorkowski gehört zu den bizarrsten Auswüchsen des russischen Rechtssystems, das schon viel Bizarres hervorgebracht hat. Das fängt an mit dem schieren Umfang der Anschuldigungen: Danach gehört Chodorkowski ins Guiness-Buch der Rekorde, als größter Öldieb aller Zeiten. Er soll 350 Millionen Tonnen Erdöl gestohlen haben - so viel verbraucht ganz Deutschland in gut drei Jahren. Zusätzlich zum Diebstahl im Wert von 25 Milliarden Dollar soll er 21 Milliarden Dollar an Geld gewaschen haben. Bizarr ist aber auch, dass die Anklage sich auf exakt denselben Sachverhalt bezieht, für den Chodorkowski bereits verurteilt wurde. Der Jukos-Konzern hatte Öl zwischen seinen Töchterfirmen verschoben, um die Gewinne in inner-russischen Steueroasen anfallen zu lassen."

FR, 03.03.2009

Wirtschaftskrise und Digitalisierungstrends machen den amerikanischen Verlagen schwer zu schaffen, weiß Sebastian Moll. Obenauf sind nun die kleinen, unabhängigen Verlagshäuser, die sich flexibler an die Nachfrage anpassen können und keine Unsummen für Marketingmaschinerien verpulvern. "Die großen Verlage scheinen diese Lektion noch nicht gelernt zu haben. So zahlte Harper Collins in derselben Woche, in der zwei Abteilungen des Verlags geschlossen wurden, der TV-Kabarettistin Sarah Silverman einen Vorschuss von 2,5 Millionen Dollar. Es war die alte Blockbuster-Strategie: Man setzt darauf, mit einem gerade hoch im Kurs stehenden Namen einen Verkaufs-Hit zu landen und, um das Risiko zu minimieren, wird in die Vermarktung des Titels noch einmal so viel zu investiert."

Weiteres: Die FR druckt Auszüge aus dem Buch ihres Theaterkritikers Peter Michalzik, der eine Gebrauchsanleitung für das Theater geschrieben hat. In Times Mager denkt Christian Schlüter nach über Banker als willkommene Sündenböcke und die Krise des Vertrauens. Auf der Medienseite berichtet Rene Martens, wie sich TV-Sender und Programmzeitschriften über Urheberrechte beim Onlinegeschäft streiten.

Besprochen werden Kathrin Henkels Inszenierung der "Gefährlichen Liebschaften" am Deutschen Theater, die "theatrale Ortsbegehung" "Braune Kohle" im ehemaligen Kohle-Kombinat Espenheim und Alice Salomons Buch "Lebenserinnerungen" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 03.03.2009

In Thüringen ist Bauhaus-Jahr. Ursula Seibold-Bultmann bespricht eine Ausstellung des Malers Adolf Hoelzel (1853-1934) im Kunsthaus Apolda. Andrea Köhler resümiert Reaktionen der jüdischen Gemeinde in Amerika auf die Betrügereien des ebenfalls jüdischen Spekulanten Madoff, dem unter anderem Elie Wiesel sein privates Geld und das Geld seiner Stiftung anvertraut hatte. Marc Zitzmann gratuliert Ariane Mnouchkine zum Siebzigsten.

Besprochen werden außerdem Rawi Hages Roman "Als ob es kein Morgen gäbe" über den Bürgerkrieg im Libanon, Joseph Haydns Oper "La fedelta premiata" in Zürich und Walter Kliers Roman "Leutnant Pepi zieht in den Krieg".

Aus den Blogs, 03.03.2009

Mit Blogs kann man kein Geld verdienen und soll es auch nicht können, so lautet Don Alphonsos Credo. Und so ist "die allgemeine Medienkrise auch eine Krise der Blogger, die Verwertung wollen. Und es ist damit auch eine Inhaltekrise, denn offensichtlich genügt ein Blogger den Herausforderungen genauso wenig wie die Passauer Neue Presse, Zoomer und Rocky Mountain News."

Recht unsanft setzt sich Thomas Knüwer mit dem kulturkritischen Titel des Spiegels zu sozialen Netzwerken auseinander: "Auch nicht in den Bereich der Logik muss sich ein Spiegel beim Thema Pädophilie begeben: 'Pädophilen ist es ein Leichtes, Kinder auszuspähen.' Wer hätte gedacht, dass ein Spiegel mal nachbetet, was ihm eine der konservativsten CDU-Ministerinnen vorbetet? Viel spannender hätte doch eine Geschichte über die Frage sein können, warum die Zahl der Straftaten an Kindern seit 1998, dem Jahr, in dem das Internet den Massenmarkt erreichte, gesunken ist."

Welt, 03.03.2009

Michael Pilz bangt nach der Ausstellung "The Sun Ain't Gonna Shine Anymore" um die 26-jährige Amy Winehouse: "Der 'Club 27' ist kein Mythos. Wissenschaftler haben sich damit befasst und festgestellt, dass Popstars rein statistisch entweder mit 27 an ihren Berufskrankheiten sterben oder sich von tödlichen Gewohnheiten verabschieden. Dann werden sie bei Turnen und Salat so alt und runzlig wie Mick Jagger. Als Bestätigung der Regel dient die Ausnahme Keith Richards." Gestorben sind mit 27 Jahren Janis Joplin, Jimi Hendrix, Brian Jones, Jim Morrison und Kurt Cobain. Pete Doherty ist mit seinen 30 überm Berg.

Wieland Freund berichtet von einem Aufsehen erregenden Nachruf im New Yorker auf den Schriftsteller David Foster Wallace, der sich vor einem halben Jahr das Leben genommen hat und dabei einen letzten Roman "The Pale King" auf seinem Schreibtisch hinterlassen hat. Zudem steht jetzt auch der Polizeibericht über die Nacht seines Todes im Netz.

Weiteres: Gerhard Gnauck berichtet von den polnischen Diskussionen um den Film "Defiance", die erst endeten, als die Gazeta Wyborcza klarstellte, dass die jüdische Partisanentruppe des Tuvia Bielski nicht schuld an dem Massaker von Nalibaki war, bei dem 128 Polen getötet worden waren. Hanns-Georg Rodek nimmt in der Randglosse den amerikanisch-iranischen Kulturaustausch aufs Korn. Peter Dittmar nimmt mit Skepsis die neuestes Meldungen auf, nach denen ein Selbstbildnis Leonardo da Vincis ans Licht gekommen sein soll. Besprochen werden eine Biografie des Juristen und Nazi-Anklägers Fritz Bauer sowie die neue und siebte Staffel der Folter-Serie "24".

FAZ, 03.03.2009

Der österreichische Autor Franz Schuh bekennt mit leicht tremolierendem Unterton, dass er das Kommen der Krise immer schon fürchtete, auch als Österreich "im Windschatten der Geschichte" zu leben schien: "Das kleine Glück hat in Österreich zu einer Selbstverharmlosung des Politischen geführt; zu einer merkwürdigen Infantilisierung, derentwegen ich daran zweifle, ob die derzeitigen Eliten in der Lage sind, mit etwas fertig zu werden, das mit vollem Ernst und mit voller Wucht eintreten könnte."

Weitere Artikel: Mark Siemons glossiert die Meldung, dass ein Chinese bei der Saint-Laurent-Versteigerung zwei von seinem Land reklamierte Werke ersteigert hat, jetzt aber nicht bezahlen will. Martin Walser schreibt einen liebevollen kleinen Nachruf auf Burgel Zeeh, Siegfried Unselds einstige Bürochefin bei Suhrkamp (die auch in einer Reportage Wolfgang Büschers in der Welt aus dem Jahr 2000 eine wichtige Rolle spielte). Richard Kämmerlings empfiehlt die Aktion "Kunst braucht Mäzene", mit der der Kookbooks Verlag unter Versteigerung von Werken befreundeter Künstler ein wenig Geld für seine Arbeit hereinholen will. Martin Otto notiert, dass der Berliner Senat das Grab des großen Staatdenkers Friedrich Julius Stahl (1802 bis 1861), den Carl Schmitt einst mit antisemitischen Bemerkungen bedachte, "wegen fehlender Voraussetzungen für eine weitere Anerkennung" nicht mehr pflegt. Gina Thomas erzählt die Geschiche der Studentin Gail Trimble, die in einem BBC-Quiz mit ihrer Bildung verblüffte.

Besprochen werden Albert Ostermaiers Stück "Die Fratzen" in Mannheim und eine neue CD von Van Morrison.

Auf der letzten Seite, wo bisher Reportagen und kleine Porträts standen, ist jetzt das Fernseh- und Radiorpogramm untergebracht. Und natürlich Ralf Königs höchst empfehlenswerter Archetyp.

SZ, 03.03.2009

Polen-Korrespondent Thomas Urban setzt sich sehr kritisch mit den polnischen Attacken auf Erika Steinbach auseinander und verteidigt sie gegen den Vorwurf, eine Revanchistin zu sein - sie sei es im Gegenteil gewesen, die die Vertriebenen aus dieser Ecke herausgeführt habe: "Noch in der oft zitierten Charta der Heimatvertriebenen von 1950, in der auf 'Rache und Vergeltung' verzichtet wurde, bezeichnen diese sich noch als 'vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffene', blenden aber das Schicksal der besetzten Völker und vor allem der von den Besatzern zum Tode bestimmten Juden völlig aus. Steinbach organisierte eine Ausstellung, die genau dies zeigte, darunter auch die Vertreibungen von Polen durch die deutschen Besatzer im Rahmen der NS-Volkstumspolitik."

Gustav Seibt vergleicht Nicholson Bakers Methode der Quellenkompilation in "Menschenrauch" mit Kempowskis Tagebuchgebirgen über den Zweiten Weltkrieg: "Wo bei Kempowski der Eindruck überwältigender tragischer Notwendigkeit steht - der eines Mahlstroms -, konstruiert Baker eine Zeitreihe, die jeden Moment offen erscheint, ja den Sprung hinaus erlauben könnte. In jedem Augenblick könnten die Handelnden, so suggeriert es diese Zeitform, das Schicksal wenden, sich besinnen und das Unheil verlassen."

Weitere Artikel: Der Neurologe Gian Domenico Borasio beklagt im Zusammenhang mit der Diskussion über Patientenverfügungen die mangelnde Kompetenz der Ärzteschaft in der am Lebensende so wichtigen Palliativmedizin. Susan Vahbzadeh kommentiert eine Reise einer Hollywooddelegation mit Annette Bening und dem Academy-Präsidenten Sid Ganis in den Iran. Klaus Dermutz gratuliert Ariane Mnouchkine zum Siebzigsten. Till Briegleb lauschte einem Gespräch von Peter Sloterdijk und Werner Sobek über die Zukunft des Wohnens in Wolfsburg (aber wer möchte schon in Wolfsburg wohnen?)

Besprochen werden eine Ausstellung zu Friedrich Schillers 250. Geburtstag in Marbach, Apichatpong Weerasethakuls Installation "Primitive" im Münchner Haus der Kunst und Opern von Strawinsky und Strauss in Zürich und Genf.

Auf Seite 2 schreibt Frank Nienhuysen über den bevorstehenden zweiten Prozess gegen den ehemaligen Oligarchen Michail Chodorkowski, der wegens seiner politischen Ambitionen von Putin weggesperrt wurde - nun droht eine weitere Haftstrafe von 22,5 Jahren.