Heute in den Feuilletons

Irren und Lügen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.02.2009. Judenfeindschaft ist die linke Hand der Christologie!, ruft der Theologe Gerd Lüdemann in der FR. Laut Tagesspiegel hat das ZDF einen "Jungen Wilden" und einen "echten Moderationsprofi" für die ehemalige Heidenreich-Sendung Lesen! gewinnen können. Die NZZ wirft einen Blick auf die Literaturszene in Malawi. In 3quarksdaily meditiert der Philosoph Gerald Dworkin über das Lügen. In der Welt trifft sich Christoph Schlingensief ganz unkompliziert mit seiner Ex. Die SZ ahnt den Tod der Musikkritik.

FR, 10.02.2009

Der Theologe Gerd Lüdemann spürt dem Antijudaismus im Neuen Testament nach und findet ihn besonders hässlich bei Johannes ("Ihr habt den Teufel zum Vater"): "Kirchliche Lehre von Christus schloss den jüdischen Glauben aus und verteufelte seine Träger, falls sie sich der Kirche als dem neuen Israel nicht anschlossen. Demnach ist Antijudaismus Kehrseite des 'Christus allein', Judenfeindschaft die linke Hand der Christologie. Christologie im biblischen Sinn kann daher nur noch eine Option für fundamentalistische Christen sein. Und die Pius-Bruderschaft kommt an diesem Punkt dem Neuen Testament beängstigend nahe. Indes steht die ganze frühchristliche Lehre von Christus auf tönernen Füßen. Sie wurzelt im Glauben an die Auferweckung Jesu. Diese hat aber nie stattgefunden; als Tatsachen sind nur Visionen, Erfahrungen der Jünger und Jüngerinnen, zu bezeichnen. Daraus folgt, dass dogmatisches Christentum keine Zukunft mehr hat."

Weiteres: In der Times mager kommentiert Harry Nutt Tilman Jens' Buch über dessen demenzkranken Vater Walter Jens befremdet, aber eher metaphorisch: "Das Beharrungsvermögen des Sohnes flackert wie das Lämpchen eines Babyfons, das die Bereitschaft signalisiert, Geräusche aufzunehmen." Jürgen Otten bemerkt, dass Kirsten Harms als Intendantin der Deutschen Oper Berlin zwar unglücklich agiert, aber auch keinerlei Unterstützung erfährt. Hans-Jürgen Linke porträtiert den Frankfurter Komponisten Rolf Riehm.

Besprochen werden eine Aufführung von Verdis "Don Carlos" in Darmstadt, ein Konzert mit Mariss Janson und dem Concertgebouw und Roberto Savianos neue Reportagen "Das Gegenteil von Tod".

Tagesspiegel, 10.02.2009

"Das ZDF hat die Nachfolgefrage für Elke Heidenreich und deren Büchersendung Lesen! geregelt", meldet Joachim Huber. "Amelie Fried [schöne Homepage bei Random House] und Ijoma Mangold werden sich im Zweiten um Kritik und Empfehlung kümmern. Dies bestätigte ZDF-Programmdirektor Thomas Bellut dem Tagesspiegel am Montag. Die Auswahl sei nach umfangreichem Casting getroffen worden. ... Der ZDF-Programmdirektor begründete den Wechsel von der Solo- zur Duo-Moderation damit, 'dass wir uns eine größere Bandbreite bei den ausgewählten Titeln erwarten'. Durch die Wahl von Amelie Fried habe das ZDF einen 'echten Moderationsprofi' gewinnen können und jemand, der sich vordringlich um die Unterhaltungsliteratur kümmern werde. Ijoma Mangold wurde von Bellut als 'junger Wilder' bezeichnet." (Kein Wunder, er arbeitet bei der Zeit, dem hippen Szenemagazin!)

NZZ, 10.02.2009

Axel Timo Purr wirft einen Blick auf die Literaturszene von Malawi und erklärt auch, warum die Buchproduktion ein wenig ins Stocken geraten ist: "Seit die damalige Regierung vor über zehn Jahren Waldkonzessionen und Holzverarbeitung an einen Möbelkonzern verkauft hat, sind die Papiermühlen des Landes geschlossen worden. Papier muss teuer aus Südafrika importiert werden; für Verleger lohnt sich seitdem nur die Schulbuchproduktion mit ihren vergleichsweise hohen Auflagen. Für literarische Werke ist nur mehr in Ausnahmefällen ein Budget vorhanden."

Der Schriftsteller Bora Cosic erzählt von seinem Besuch in Jasenovac, in dem einst das gleichnamige Konzentrationslager stand, das die kroatischen Ustascha nach deutschem Vorbild errichtet hatten: "Es ist beinahe so, als evozierte diese ganze Gegend, ein armes Städtchen, im letzten serbisch-kroatischen Konflikt zur Hälfte zerstört (durch die ehemaligen Fenster wachsen Bäume), die Erinnerung an die verbotene Zone in Andrei Tarkowskis Film 'Stalker'."

Besprochen werden die Ausstellung "Multiple City" über Stadtkonzepte in der Münchner Pinakothek der Moderne und Philip Roth' Roman "Empörung" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 10.02.2009

Auf der Meinungsseite berichtet Katajun Amirpur über die Verfolgung der Bahai im Iran: "Nach Informationen des 'Geistigen Nationalen Rates der Bahai' in Deutschland befinden sich derzeit vierzig Personen in Haft. Sorge bereitet vor allem die Strafrechtsnovelle, die im Iran vor Kurzem in erster Instanz verabschiedet wurde und derzeit auf ihre Verabschiedung in der zweiten wartet. Würden sie ratifiziert, wäre es legal, Bahai wegen 'Abfalls vom Glauben' anzuklagen und aus diesem Grund hinzurichten."

Für den Kulturteil besuchte Micha Brumlik die Darwin-Schau in der Frankfurter Schirn und sah glatt Adorno widerlegt: "'Was Natur vergebens vermöchte', so Adorno in einer berühmten Passage seiner 'Ästhetischen Theorie', 'vollbringen die Kunstwerke: sie schlagen die Augen auf.' Die Frankfurter Ausstellung widerlegt Adorno in gewisser Hinsicht. Lehrt sie doch, im Medium der Kunst besser zu sehen, dass die Natur die Augen aufschlagen kann und tatsächlich aufgeschlagen hat."

Weitere Artikel: Jörg Sundermeier war beim Festival "Korrekturen. Die Geschichte ist nicht zu Ende", mit dem das Berliner Gorki-Theater an die Pogromnacht 1938, die Ausrufung der Weimarer Republik 1918 und die Gründung von BRD und DDR 1949 erinnern will. Valerie Pogoda amüsiert sich auf einem Fest der alternativen Kunstszene in Stuttgart.

Auf den Berlinaleseiten geht's unter anderem um Filme über Harvey Milk und amerikanische Independentfilme. In tazzwei erklärt der Theaterchef und Schauspieler Hubsi Kramar sein Stück über den Fall Fritzl, "Pension F.", zur "Mediensatire", die von den Journalisten geschrieben werde. Er selbst sei nur "Berichterstatter auf der Bühne" (immer eine dankbare Rolle, würden wir sagen).

Und Tom.

Aus den Blogs, 10.02.2009

In 3quarksdaily denkt der Philosoph Gerald Dworkin über das Lügen nach. "Es scheint große Differenzen zwischen den Menschen zu geben, was sie als Lüge ansehen. A, der sich über das Datum irrt, sagt: 'Verdammt, ich habe gelogen. Es ist Dienstag, nicht Mittwoch.' Aber viele Menschen unterscheiden zwischen sich irren und lügen. B, der glaubt, heute sei Dienstag (es ist aber Mittwoch), sagt zu C: 'Heute ist Mittwoch.' Manche Menschen würden sagen, er lügt, andere würden sagen, er hat versucht zu lügen, ist aber gescheitert. Manche finden, dicke Übertreibungen - 'ich habe bestimmt ein Jahr nichts gegessen' - sind Lügen; andere finden das nicht. Die meisten ethischen Konzepte kennen Borderline-Fälle - ist das Behalten einer gefundenen Brieftasche Diebstahl? Ist das Ertrinkenlassen eines Kindes Mord? - aber bei Lügen scheint es so zu sein, dass sie nur aus Borderlinefällen bestehen."
Außerdem: Colin Marshall bewundert Shepards and Wenders' "indisputable victory over cliche" in "Paris, Texas".

Via Valleywag. Das New York Magazine hat eine mehrseitige und mit Sicherheit faktenreiche Reportage über Twitter veröffentlicht. Valleywags Owen Thomas fasst das bewunderswürdig zusammen: "The financial world is in ashes. But that makes adorable little startup Twitter all the more precious. It is perhaps the only Internet dream left. And any economist will tell you that scarcity creates value. New York magazine sent Will Leitch to explore the crazy phenomenon of Twitter and why it's not making any money. Cofounder Biz Stone told him worrying about money was so New York. How San Francisco!" (Mehr hier mit Link zum NYT-Artikel.)

Via Gawker. Wir haben Jesus gefunden. Er lag unter Madonna.

Welt, 10.02.2009

Christoph Schlingensief hat die Berlinale-Jurypräsidentin Tilda Swinton schon auf der Berlinale 1986 kennengelernt, erzählt er im Interview: "Ja, mit der war ich dann eine Weile zusammen. Wir haben noch im selben Jahr den Film 'Egomania' gedreht. ... Danach haben wir uns wieder getrennt. Sporadisch waren wir aber immer im Kontakt, sie wollte mich im Sommer sogar im Krankenhaus besuchen. Und jetzt sehen wir uns wieder, ganz unkompliziert, ich mit meiner Verlobten und sie mit ihrem Sandro."

Weiteres: Der amerikanische Historiker Michael A. Burlingame erklärt im Interview die Bedeutung Abraham Lincolns. Uwe Schmitt will uns Lincolns Rede in Gettysburg nahebringen. Hat Walter Jens die Öffentlichkeit über seine NSDAP-Mitgliedschaft belogen? Der Sohn des inzwischen dementen, 85-jährigen Schriftstellers, Tilman Jens, will in einem "demnächst erscheinenden Buch ... entsprechende Beweise vorlegen", behauptet Sven Felix Kellerhoff. (Die Bild-Zeitung bringt Auszüge, in der FAZ durfte sich Tilman Jens schon vor einem knappen Jahr äußern.)

Besprochen wird die Ausstellung "Man Son 1969" über Charles Manson in der Hamburger Kunsthalle (die Ausstellung "widmet sich dem Reiz und der Gefahr der Extreme", verkündet die Museumswebseite).

Auf der Berlinaleseite geht's um Hermine Huntgeburths Verfilmung der "Effi Briest", die Filme "The Messenger", "Alle Anderen" und "Ein Traum in Erdbeerfolie". Cosima Lutz verbrachte einen Abend mit kulinarischem Kino. Holger Kreitling erprobt seine neue Gleitsichtbrille im Kino.

FAZ, 10.02.2009

Michael Althen ist von Maren Ades Wettbewerbsbeitrag in der Berlinale "Alle anderen" durchaus eingenommen: "Das geht nun also auch hierzulande, dass man von Beziehungen erzählt, ohne dass gleich alle den Kopf hängen lassen. Natürlich ist das auch mit Schmerzen verbunden, und Maren Ades Film geht durchaus dorthin, wo es weh tut, aber vor allem lebt er von der Lust, dem Spiel der Liebe zuzusehen." (Mehr zum Film hier)

Weitere Artikel: Jürg Altwegg kommentiert das proeuropäische Referendum der Schweizer am Sonntag. Dieter Bartetzko begutachtet einige Neubauten und Renovierungen in Dresden und besonders die vom Architekten Peter Kulka (antifunktionalistische Architektenwebsite in Flash-Technologie) verantwortete Glaskuppel über dem Kleinen Schlosshof. Andreas Rossmann verfolgte ein Bonner Symposion zur Frage "Wie verträgt sich öffentliche Kulturförderung mit zeitgemäßen Museen und Ausstellungshäusern?" In der Leitglosse schreibt Gina Thomas über ein nach dem Gaza-Krieg geschriebenes und schon aufgeführtes antiisraelisches Stück der britischen Dramatikerin Caryl Churchill. Michael Diers schreibt zum Tod des Kunsthistorikers Franz-Joachim Verspohl. Auf der Berlinale-Seite bespricht Hans-Jörg Rother die "Geschichte des israelischen Films" von Raphael Nadjari (mehr zum Film hier).

Auf der Medienseite erzählt Alexander Armbruster, was man mit Google Maps alles machen kann (in den USA kann man auf Google Maps-Karten etwa die Adressen politischer Spender finden). Gemeldet wird, dass Holtzbrinck sein Nachrichteportal Zoomer einstellt.

Für die letzte Seite sendet Till Krause einen Pausenbericht aus dem längsten Konzert der Welt, ein auf 631 Jahre angelegtes Orgelstück von John Cage, in dem nach zwei Jahren wieder ein Ton wechselte. Und Jochen Hieber verabschiedet die verdienstvolle Fischer-Lektorin Ursula Köhler.

Besprochen werden eine CD des amerikanischen Rockmusikers Ben Kweller, eine Pariser Ausstellung über den Designer Ron Arad (mehr hier), ein Konzert des Concertgebouw Orchesters unter Mariss Jansons in Frankfurt, Calderons "Das Leben ein Traum" in der Regie Karin Beiers am Burgtheater und ein Konzert der Black Lips in Köln.

Nur online wird gemeldet, dass Frank Schirrmacher den mit 20.000 Euro dotierten Ludwig-Börne-Preis erhält (womit die goldene Regel, dass deutsche Ehrungen nach Außenseitern benannt, aber an Machthaber verliehen werden, mal wieder bestätigt wäre). Einzige Jurorin war diesmal Necla Kelek.

SZ, 10.02.2009

Nicht nur mit der Musikindustrie, sondern auch mit der Musikkritik geht es zuende, jedenfalls wenn man einer Podiumsdiskussion beim "Audio Poverty"-Kongress glaubt, von dem Jens-Christian Rabe berichtet: "Der Motor in der frühen Phase des anspruchsvolleren Schreibens über Pop war in den siebziger und achtziger Jahren die feste Überzeugung gewesen, es mit einem gesellschaftlichen Leitmedium zu tun zu haben, das, wenn nicht der Kritik, so doch der kritischen Bestandsaufnahme verpflichtet war. Das ist heute nicht mehr der Fall. Dieser Verlust dürfte auch der Grund für die schon fatalistisch anmutende Trauer des 1967 geborenen Co-Kurators und Kritikers Björn Gottstein gewesen sein, der bei der Podiumsdiskussion zum Thema 'Kein Kritik, nirgends' gleich eine ganze Zunft verabschieden wollte."

Weitere Artikel: Der linke israelische Schriftsteller und Sänger Assaf Gavron findet die heute zur Wahl stehenden Parteien allesamt nicht gerade verführerisch. Bernd Graff erklärt, wie einfach es dank Google Maps ist, Leute an den virtuellen Pranger zu stellen. Jutta Person war bei den mehr als nur gut besuchten Hegel-Vorträgen des Gender-Theorie-Stars Judith Butler in Berlin. Till Briegleb berichtet von der Design-Messe "Object Rotterdam", Wolfgang Schreiber vom "Musica-Viva"-Festival in München. Florian Welle schildert eine Münchner Debatte über Literaturzeitschriften. Knapp zusammengefasst werden die Ergebnisse der Grammy-Verleihung und vermeldet wird auch, dass Frank Schirrmacher zwar keinen Grammy, aber den Ludwig-Börne-Preis erhält. Horst Bredekamp schreibt zum Tod des Kunsthistorikers Franz-Joachim Verspohl. Auf der Medienseite meldet Christopher Keil, dass die neue Literatur-Sendung des ZDF vom Duo Amelie Fried und Ijoma Mangold übernommen wird.

Im Berlinale-Teil denkt Susan Vahabzadeh über Männer- und Frauenbilder bei den Wettbewerbs-Beiträgen "Mammoth", "Alle Anderen" und "The Private Lives of Pippa Lee" nach. Martina Knoben weiß Hermine Huntgeburths neue "Effi Briest"-Version durchaus zu schätzen.

Besprochen werden Karin Beiers Burgtheater-Inszenierung von Calderons "Das Leben ein Traum" und Bücher, darunter Peter van Dongens Rampokan-Comics "Java" und "Celebes" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).