Heute in den Feuilletons

Die Glyzerintränen des Poeta lacrimosus

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.11.2008. Mit der FR freuen wir uns über eine neue Art: Willkommen auf Erden, Rhagoletis pomonella. Die Achse des Guten fragt: Wir karikaturistenfeindlich ist das Zentrum für Antisemitismusforschung? In der taz bringt Gabriele Goettle neue Episoden aus dem Leben Dorothea Ridders. In der FAZ spricht Aravind Adiga über Indien und Deutschland. In der SZ erklärt Martin Mosebach, warum er das Libretto zu "Fidelio" bearbeitete.

FR, 24.11.2008

Sagen Sie Willkommen zu einer neuen Art! Rhagoletis pomonella, die Apfelfruchtfliege entsteht jetzt, genau zu diesem Zeitpunkt, versichert die englische Evolutionsbiologin Olivia Judson. "Diese Art ist im Begriff, sich in zwei zu teilen. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts kamen Vertreter der Rhagoletis pomonella vor allem an Weißdorn- und Hagebuttensträuchern zusammen, um sich zu paaren und ihre Eier abzulegen. Doch dann wurden Äpfel nach Nordamerika eingeführt. Und einigen Hagebuttenfliegen gefiel die neue Frucht wohl besser, worauf sie anfingen, ihre Eier nun in Äpfel zu legen. Inzwischen unterscheiden sich die Fliegen, die Äpfel lieber mögen, genetisch von denen, die Hagebutten bevorzugen. Dafür gibt es einige Gründe."

Weiteres: In Italien, berichtet Aureliana Sorrento fand der Prozess gegen 29 Polizisten statt, die während des G-8-Gipfels in Genua vor sieben Jahren Molotowcocktails in einer Schule deponiert hatten, um dann die dort schlafenden Globalisierungsgegner aus aller Herren Länder zu verprügeln. Ergebnis: Ins Gefängnis muss deshalb niemand, die Führungsriege der Polizei blieb gar völlig ungeschoren. Julia Kospach besucht die Süd-, Südostasien- und Himalayaländer-Schausammlung im wiedereröffneten Museum für Völkerkunde in Wien. Der Bremer Generalintendant Hans-Joachim Frey gerät in die Kritik, schreibt Alexander Schnackenburg. Robin Celikates hörte Luc Boltanskis Adorno-Vorlesung. Hanns Zischler, der heute abend als Kommissar im ZDF zu sehen ist, spricht im Interview über seine Rolle, über das Fernsehen und Reich-Ranickis "konvulsivischen und sehr narzisstischen Radau". In Times mager schwant Hans-Jürgen Linke, wo auf diesem Planeten Urin-Recycling-Anlagen stehen.

Besprochen wird ein Konzert von Fettes Brot (mehr) in Offenbach, bei dem auch der "1 Euro Blues" zum Vertrag kam, wie Karin Ceballos Betancur zufrieden meldet, "eine lakonische Hymne mit dem wunderbar rotztrotzigen Refrain: 'Wir stechen das Gemüse im Spargelfeld und sammeln Plastiktüten nach der Love-Parade, wir schrubben Bahnhofsklos, und ihr seid ahnungslos, denn wenn ihr auf Reisen seid, bumsen wir eure Frauen.' Und weil die Welt doch nicht ganz so schlecht ist, wie man manchmal denkt, kennt wenigstens die ganze Halle den Text auswendig."

Welt, 24.11.2008

Wie verrückt waren die Gebrüder Wittgenstein? Alexander Waugh hat hierüber ein Buch (Auszug) geschrieben, in dem sie ziemlich verrückt aussehen. Ulrich Weinzierl greift eine Guardian-Rezension Terry Eagletons auf (auf die der Perlentaucher vor zwei Wochen hinwies) und watscht Waugh erstmal kräftig ab, bevor er sein Buch fasziniert resümiert. In der Glosse plädiert Holger Kreitling für das Hinterzimmer in Kneipen und Politik. Manuel Brug berichtet erfreut, dass Händels Oper "Partenope" immer öfter Eingang in das Repertoire großer Opernhäuser findet. Frank Maier-Solgk schildert die baulichen Vorbereitungen im Ruhrgebiet auf das Kulturhauptstadtjahr.

Besprochen werden Jarg Patakis Inszenierung von Ibsens "Volksfeind" am Hamburger Schauspielhaus, eine neue Platte der immer noch nicht Toten Hosen und eine Oldenburger Ausstellung mit frühchristlicher Kunst aus Syrien (mehr hier).

TAZ, 24.11.2008

Auch in Gabriele Goettles neuem Text geht es schon wieder um die Ärztin Dorothea Ridder. Diesmal darf sich Astrid Proll, Fotografin, Bildredakteuin und früheres RAF-Mitglied, an sie erinnern: "Sie war eine Freundin von Marianne Herzog. Mit Marianne Herzog war ich liiert, sie war ungeheuer schön, sehr attraktiv. Sie war Hürdenläuferin und hatte tolle Waden! Die Männer drehten sich ständig nach ihr um, sie musste sich die Haare deshalb abschneiden. Aber sie war leider sehr rechthaberisch. An mir hat sie immer kritisiert, ich wäre bürgerlich, Mittelstand. Stimmt, bin ich ja. Es ist eben einfach so. Proleten waren für sie einfach die besseren Menschen. Jedenfalls, damals kam Dorothea ab und zu rüber zu mir und hat sich ein bisschen um mich gekümmert. Ich hatte beziehungsweise habe Hepatitis C, die hatten wir uns eingefangen auf dem großen Fest in Frankfurt, nachdem mein Bruder und die anderen freigekommen waren. Wir haben blöderweise so eine Opiumtinktur gedrückt, zweimal nur haben wir gedrückt, und dann das!"

In der tazzwei blickt Friedrich Küppersbusch auf die Woche und den Punkt zurück, an dem Opel ihm angefangen hat, leid zu tun. Auf der Meinungsseite analysiert Martin Doevenspeck die Lage im Kongo.

Und Tom.

Aus den Blogs, 24.11.2008

In seinem neuen Jahrbuch behandelt das Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung auch das Thema "Feindbild Islam und Islamisierter Antisemitismus", mit dem sich Matthias Küntzel in der Achse des Guten auseinandersetzt (hier und hier). Kritisch sieht er einen Beitrag Angelika Königseders zu den dänischen Mohammed-Karikaturen: "Die Autorin behauptet, dass es sich bei den Bildern von Mohammed um ein 'Hetzwerk' gehandelt habe, das niemals hätte veröffentlicht werden dürfen. Anstatt 'die Presse- und Meinungsfreiheit ... wie eine Monstranz vor sich her' zu tragen, hätten die Medien 'die Verletzung des religiösen Empfindens und damit der Menschenwürde vieler Muslime' bedenken und somit auch auf den Nachdruck dieser Bilder verzichten müssen. Vorbildlich habe sich die britische Zeitung Guardian verhalten, weil ihr 'die Solidarität mit den Muslimen wichtiger (war) als mit den dänischen Kollegen.' Hier wird die Definition des Begriffs 'Islamfeind' offenkundig ziemlich weit gefasst." Das Zentrum für Antisemitismusforschung hält zu dem Thema am 8. Dezember auch eine Tagung ab.

NZZ, 24.11.2008

Der Japan-Fachmann Florian Coulmas erklärt, warum die Japaner im Gegensatz zu den Westlern partout nicht glücklich werden: "Auf die kulturelle Tradition ist es auch zurückzuführen, dass Japaner, nicht nur wenn es ums Glück geht, in Umfragen generell eher moderate Antworten geben. Sich als sehr glücklich zu bezeichnen, wenn der Nachbar es vielleicht nicht ist, verletzt den Anstand. Das Glück, das sie bekennen, ist geringer als das, dessen sie sich tatsächlich erfreuen. Oder das Glück ist ihnen nach wie vor nicht so wichtig."

Weiteres: Anneli Klostermeier berichtet von mühseligen Versuchen in den nordischen Ländern, das zeitgenössische Theater zu fördern. "Es ist eine skandinavische Eigenart, sich von Nachbarn unbedingt abgrenzen zu wollen und statt Gemeinsamkeiten vor allem die Besonderheiten des eigenen Landes zu betonen - gerade weil das Ausland gerne zu differenzieren vergisst." Paul Jandl war auf der Verlagsleistungsschau "Buch Wien".

Besprochen werden eine Retrospektive zu Lawrence Weiner im K21 in Düsseldorf und eine Ausstellung des Genfer Architekten Jean-Marc Lamuniere in der ETH Lausanne.

SZ, 24.11.2008

Martin Mosebach erklärt, wie er für eine Pariser "Fidelio"-Inszenierung die etwas hölzernen gesprochenen Dialoge der Oper umarbeitete und vor allem der Figur des Ministers Don Fernando eine realistischere Tiefe zu geben versuchte: "Im Grunde, das schien jetzt unversehens ganz einfach, musste man dem edlen Drama nur die Glyzerintränen des Poeta lacrimosus abwischen."

Weitere Artikel: Jörg Häntzschel erkundet die wohl noch nicht ganz nachvollziehbaren Auswirkungen der Krise auf das amerikanische Kulturleben: "Wer im entgleisenden Zug sitzt, kann die Schwere des Unglücks kaum abschätzen. Im übrigen lebt man ja noch in den Budgets von 2008." Gemeldet wird, das der Künstler Damien Hirst trotz jüngerer Auktionserfolge in seiner Manufaktur zu Entlassungen schreitet. In den "Nachrichten aus dem Netz" macht sich Niklas Hofmann Sorgen um Hossein Derakhshan, den bekanntesten Iranischen Blogger, der seit Anfang November verschwunden ist - er war zuletzt regimefreundlich geworden und war im Oktober aus dem Exil zu einem Besuch in seine Heimat zurückgekehrt. Willi Winkler schreibt zum Tod des "Grafikers und Mythomanen" Guy Peellaert. Christian Kortmann verfolgte die erste Live-Gala von Youtube in San Francisco.

Auf der Medienseite wird geschildert, wie das NDR-Medienmagazin Zapp an einer Recherche über die Politikmagazine der ARD scheiterte (während Zapp gestern einen Beitrag sandte, der zeigte, wie ein Zapp-Reporterteam vom Grundstück der SZ verjagt wurde).

Besprochen werden neue Alben mit elektronischer Popmusik, die "Diana"-Ausstellung im Düsseldorfer Kunstpalast, neue DVDs, Olivier Messiaens monumentales Orchesterwerk "Des Canyons aux Etoiles" unter Kent Nagano in München und Bücher, darunter der Briefwechsel von Adorno und Kracauer und Christiane Neudeckers Burma-Roman "Nirgendwo sonst".

FAZ, 24.11.2008

Oliver Jungen hat den indisch-australischen Bestseller-Autor und Booker-Preisträger Aravind Adiga getroffen und findet ihn zu zahm: "Ist Adiga tatsächlich eingeknickt angesichts der indischen Kritik? Als Tiger gesprungen und als Mangolassi gelandet?"

Weitere Artikel: Martin Otto hat einen Vortrag des Verfassungsrechtlers Horst Dreier gehört, in dem dieser über die Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes nachdachte (ihm "wurde eine Grundgesetzauslegung unterstellt, die Folter rechtfertigen könne", sagt Martin Otto in seinem Artikel vornehm, als hätte nicht das FAZ-Feuilleton, das sich insbesondere auch an Dreiers Haltung zur Stammzellforschung gestört haben mag, höchstselbst eifrig an Dreier gesägt, merh dazu hier). Karen Krüger berichtet über die Forderung der türkischen Aleviten zur Abschaffung der Religionsbehörde des Landes. In der Glosse verzeiht Joseph Hanimann den Verantwortlichen der Internet-Bibliothek www.europeana.eu, dass sie für den Ansturm der Netz-Gemeinde nicht gewappnet waren und nun bis Mitte Dezember reichlich Serverpower nachrüsten müssen, bevor die Pforten wieder geöffnet werden. Eine Gießener Tagung zur Euthanasiegeschichte hat Ludger Fittkau besucht. Teresa Grenzmann untersucht die Erfolgsstrategien des Münchner "Metropol"-Theaters. In osteuropäischen Zeitschriften liest Joseph Croitoru über das Anwachsen rechter und linker Ränder. Jordan Mejias beschreibt, wie das New Yorker Goethe-Institut sich weiter in Downtown Manhattan ausbreiten will. Maria Delius war dabei, als in der Berliner FAZ-Redaktion zum Abschied Henning Ritters als Leiter des "Geisteswissenschaften"-Ressorts mit Wissenschaftlern über das "Ende der Kritik" diskutiert wurde. Felicitas von Lovenberg hat der Welt mitzuteilen, dass nach ihrem letzten Flug der Koffer fehlt. Lorenz Jäger gratuliert dem Ethnologen Karl-Heinz Kohl zum Sechzigsten. Auf der Medienseite freuen sich Gina Thomas und Michael Hanfeld über das Scheitern der Internet-Offensive der BBC.

Besprochen werden die Gerhard-Richter-Ausstellung "Abstrakte Bilder" im Museum Ludwig in Köln, die Ausstellung "Neoklassizismus in Russland" in St. Petersburg, und Bücher, darunter Santiago Roncagliolos Roman "Roter April" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).