Heute in den Feuilletons

Das hängende Handgelenk

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.11.2008. In der Welt sagt Michail Chodorkowsky einen weltweiten Linksruck an. In der FR beklagt Niall Ferguson das Grausame am Wahlsieg Obamas. Für die SZ hat Stewart O'Nan einen kleinen Nachruf auf die amerikanische Industrie geschrieben.

FR, 17.11.2008

Geradezu grausam findet der in Harvard lehrende Historiker Niall Ferguson das Schicksal, das Barack Obama Wahlsieg noch ziemlich lange überschatten dürfte: "Die Tragödie - und man kann es wirklich als solche bezeichnen - besteht natürlich darin, dass der erste schwarze Präsident gleich vor einem derartigen wirtschaftlichen Chaos steht."

Außerdem: Julia Kospach kündigt mit "Buch Wien 08" das größte Literaturfestival in der Geschichte Österreichs an. In der Times Mager mahnt Judith von Sternburg an, sich in deutschen Opern an deutsche Sitten und also absolute Stille zu halten. Daniel Kotheschulte schreibt zum Tod seines Kollegen und Filmkritikers Peter W. Jansen.

Besprochen werden Nikolaus Harnoncourts und Martin Kusejs Inszenierung von Strawinskys "The Rake's Progress" im Theater an der Wien, Jan Neumanns Stück "Herzschritt" am Schauspiel Frankfurt und Thilo Thielkes Reportagen aus Kenia.

TAZ, 17.11.2008

Der Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses wird teurer als die heute veranschlagten 552 Millionen Euro Gesamtkosten, stellt Nina Apin in einer Recherche fest. Und sie ist auf weitere Ungereimtheiten gestoßen: "Zweifelhaft ist besonders die Rolle, die der private Förderverein Berliner Schloss bei der Bauplanung spielt. Der Verein um den Hamburger Unternehmer Wilhelm von Boddien will 80 Millionen Euro Spenden für die Barockfassade sammeln. 'Eine verbindliche schriftliche Zusage hierzu liegt nicht vor', bestätigte das Bundesbauministerium auf Anfrage eines besorgten Parlamentariers. Trotzdem hat der Bund die Spenden als festen Posten in die Gesamtkalkulation aufgenommen."

Weitere Artikel: Bianca Schröder liest Sherry Jones' "Aisha"-Roman, in dem der Prophet gar nicht mal so schlecht wegkomme. Caspar Böhme berichtet vom Berliner Kongress der Initiative "Europa eine Seele geben". Und Johanna Schmeller begutachtet eine Arbeit des Medienkünstlers Björn Melhus in München.

Auf der Meinungsseite betont Marcia Pally, dass sich die amerikanischen Evangeliken nach dem Wahlsieg Barack Obamas keineswegs abgemeldet haben.

Und Tom.

NZZ, 17.11.2008

Peter Hagmann unterhält sich mit dem legendären Pianisten und Lehrer Peter Feuchtwanger, der unter anderem Martha Argerich oder Shura Cherkassky unterrichtet hat: "Ich kann sagen, dass ich selten jemanden getroffen habe, der den Körper richtig einsetzt. Eine der wenigen war - Clara Haskil. Sie war zwar mit ihrer Skoliose vollkommen gebückt, eigentlich behindert. Aber wie sie die Arme benutzt hat und die Hände, die Finger, das hat all das bestätigt, was ich selber auch gefunden hatte. Das hängende Handgelenk, alles von den Fingern gesteuert, die vollkommene Leichtigkeit, auch vom Musikalischen her, das war mein Ideal. Wenn sie in London war, ist sie zu mir üben gekommen. Und dabei habe ich erkannt: So muss man Klavier spielen. Die innere Ruhe und das Nichtvorbereiten. Das Anfangen einfach mit dem Atem, nur aus der mentalen, aber nie aus der physischen Vorbereitung heraus."

Erschütternde Dokumentarfilme zur ukrainischen Hungersnot der dreißiger Jahre hat Christoph Egger auf dem - insgesamt weniger gelungenen - Filmfestival Molodist in Kiew gesehen. Zum Beispiel die Porträtserie "Doli - Schicksale", in der Zeitzeugen von schrecklichen Erlebnisse berichten. Sie "erzählt von einer alten Frau, die Geschichte von der jungen Mutter, die beim Nachbarn Fleischstücke eines Kleinkinds in der Pfanne sah und daraufhin in dessen Garten Kleidungsstücke ihres vermissten Mädchens fand. Oder diejenige von der Frau, die mit ihren Töchtern ihren Mann getötet und gegessen hatte, später selber von den Töchtern verzehrt wurde und darauf deren eine von der andern, die wiederum darob starb."

"MZ" und "rbl" berichten vom Basler Literaturfestival, auf dem Rolf Lappert für seinen Roman "Nach Hause schwimmen" mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet wurde. Caroline Kesser schreibt einen Nachruf auf den Kunsthändler und Sammler Jan Krugier.

Besprochen werden eine Inszenierung von Jean Genets "Zofen" in Basel und Aufnahmen von Alfred Brendel.

Welt, 17.11.2008

Im Forumsessay, den die Welt aus der russischen Zeitung Wedomosti übernimmt, macht sich der der ehemalige Yukos-Chef und in Sibirien festgehaltene Putin-Gegenspieler Michail Chodorkowsky Gedanken über eine globale Linkswende, die nach der Finanzkrise die jetzt zu Ende gegangene Ära des Thatcherismus ablöst. Unter anderem sieht er die Wiedergeburt von Werten wie Solidarität voraus und fordert eine ganz neue internationale Zusammenarbeit: "Die regulierenden Systeme müssen in Übereinstimmung mit den Anforderungen der globalen Systeme und ihrer Schlüsselsubjekte ins Gleichgewicht gebracht werden. Die nationalen Regierungen werden gezwungen sein, ihre Handlungen viel intensiver untereinander zu koordinieren, praktisch die Grundlage für eine 'Weltwirtschaftsregierung' zu legen."

Im Feuilleton berichtet Gerhard Gnauck über bisher unbekannte Laienfilme, die das Leben der Juden in Polen dokumentieren - sie sind von der Filmemacherin Jolanta Dylewska bei der Suche nach Material für ihren Dokumentarfilm "Po-Lin" gefunden worden. Und Wieland Freund hat die neuesten Geschichten von Stephen King gelesen.

Besprochen werden Kleists "Prinz von Homburg" in der Regie Ingo Berks in Hannover, eine Ausstellung mit Hitler- und Stalinkarikaturen im Deutschen Historischen Museum, Pina Bauschs neue Arbeit "Kontakthof", die neue Platte der Chansonsängerin Annett Louisan und neue DVDs, darunter eine Kassette mit Werken Achternbuschs.

Titel-Magazin, 17.11.2008

Aus Wolfram Schüttes Nachruf auf seinen Freund und Kollegen Peter W. Jansen: "Peter W. Jansens wahre, wirkliche & wahrhaft einzigartige Domäne war der Hörfunk, in dem er... sein bislang weithin unbekanntes Meisterwerk realisierte: 'Jansens Kino', die weltweit solitäre 'Quadratur des Kreises'. Auf 50 CDs hat er 100 'Meisterwerke der Kinogeschichte' (von David W. Griffith bis zu Jim Jarmusch und Woody Allen) in tüfteliger Recherche- & Montage-Arbeit an seinem häuslichen Schneidetisch zu imaginativen Hörbildern von Filmen erschaffen - als gelte es, Blinde, nämlich seine Hörer, zu Sehenden zu machen."

SZ, 17.11.2008

Stewart O'Nan schickt einen kleinen Nachruf auf die amerikanische Industrie: "Wenn ich mich unter meinen Haushaltsgeräten umschaue, sehe ich fast keine, die in den Vereinigten Staaten hergestellt sind. Meine Kaffeemaschine, von Krups, stammt aus China. Meine Stereoanlage, von Sony, wurde in Malaysia produziert, mein koreanisches Fernsehgerät von LG in Mexiko."

Jens Bisky war auf einer Tagung am Hamburger Institut für Sozialforschung zur Frage "Wohin treibt die Bundesrepublik?" und lernte dies: "Zieht man von den zur Verfügung stehenden Mitteln all jene Summen ab, über die nicht disponiert werden kann, - Ausgaben für Beamte, Rentner, Schuldentilgung, Bündnisverpflichtungen - blieben 1970 noch 43,3 Prozent, 2005 jedoch lediglich 18,8 Prozent übrig." Da bleibt der Politik nur noch "Erschöpfungsmanagement".

Joan Didion gab bei einer Obama-Party der New York Review of Books die Spielverderberin, erzählt Georg Diez: "Schon früh, so begann sie und schleuderte ihre kargen Worte sanft in den Saal, habe sie ein 'unaussprechliches Unbehagen' ergriffen, das nichts mit Obama zu tun hatte, sondern mit der Art, wie er gefeiert wurde. 'Ironie war out', sagte Didion. 'Naivität, was mit Hoffnung übersetzt wurde, war in. (...) Ein Fernsehkommentator habe am Wahlabend gesagt, dass die Welt sich mit Amerika freue, mit Amerika sein wolle - für sie klinge das wie 2003, als Amerika darauf wartete, von Irakern mit Blumen begrüßt zu werden."

Weitere Artikel: Stephan Opitz spaziert mit dem finnlandschwedischen Schriftsteller Kjell Westö durch Helsinki und spricht mit ihm über seinen Bürgerkriegsroman "Wo wir einst gingen". Klaus Raab schickt Nachrichten aus dem Netz. Italien spart seine Opernhäuser tot, berichtet Henning Klüver. Bilanz-Kosmetik bei den Kunstauktionshäusern sieht Holger Liebs. Auf der Medienseite berichtet Gerti Schön von einer Identitätskrise amerikanischer Fernsehmänner.

Besprochen werden Wayne McGregors Choreographie "Infra" mit dem Londoner Royal Ballet, eine "hinreißende" Schau von George de Forest Brushs "Indian Paintings" in der National Gallery of Art in Washington, einige DVDs, zweimal Max Frisch - in Berlin inszeniert Armin Petras "Homo faber" als "Ödipus auf Cuba", in Zürich inszeniert Barbara Weber Frischs "Biografie: Ein Spiel" und Bücher, darunter Miriam Rürups "Ehrensache" betitelte Studie über Jüdische Studentenverbindungen an deutschen Universitäten 1886-1937 (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 17.11.2008

Beeindruckt zeigt sich Patrick Bahners von Christian Meiers wirkungsvoll beiseite gesprochener, allem politisch korrekten Biedersinn trotzender Schillerrede. Katja Gelinsky beschreibt, wie Barack Obama mit großem Erfolg um religiös orientierte Wähler zu werben verstand. Hubert Spiegel annonciert den Vorabdruck des ersten aus dem Nachlass Thomas Bernhards erscheinenden Bands, in dem dieser unter dem Titel "Meine Preise" dem österreichischen, bei Gelegenheit auch dem deutschen Kulturbetrieb die Leviten liest. In der Glosse erfahren wir von Dirk Schümer, dass in Italien die Schwiegermutter in dreißig Prozent aller Fälle der Hauptscheidungsgrund ist. Ludger Fittkau teilt mit, dass in Zürich die Sterbehilfe für Lebensmüde, aber nicht Todkranke (in der Mehrzahl Frauen) deutlich zugenommen hat. Tobias Rüther freut sich, dass Grace Jones (Website) mit ihrem neuen Album "Hurricane" nach langer Abwesenheit zurück ist. Vermeldet wird, dass der in der deutschen Ausgabe auch schon shortgelistete Rolf Lappert für seinen Roman "Nach Hause schwimmen" den erstmals vergebenen Schweizer Buchpreis erhielt. Andreas Kilb widmet der Filmkritiker-Institution Peter W. Jansen einen Nachruf. Auf der Medienseite schildert Hendrik Wieduwilt, wie der Linken-Bundestagsabgeordnete - und Ex-Stasi-Mitarbeiter - Lutz Heilmann mit seiner einstweiligen Verfügung, die zur Sperrung der deutschen Wikipedia-Startseite führte, ein katastrophales Eigentor schoss.

Besprochen werden Tina Laniks Wiener Inszenierung von Gaston Salvatores Stück "Feuerland", des Prager Choreografen Jiri Kylians hundertste Arbeit für das Nederlands Dans Theater in Den Haag, ein Konzert der Cold War Kids in Berlin, die Catherine-Opie-Ausstellung im New Yorker Guggenheim-Museum, die Ausstellung "Eine bessere Welt" im Bonner Kunstverein, Gerald Kolls Film "88- Pilgern auf Japanisch", und Bücher, darunter Mizukami Tsutomus Roman "Im Tempel der Wildgänse" und der Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer, den Stefan Müller-Dohm als "Zeitzeugnis erster Güte" feiert (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).