Heute in den Feuilletons

Ein Musterschwede

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.10.2008. "Schal", "edle Langeweile", "taghelle Mystik", "Chefgerontologen", "Experte für Ureinwohner", "fleißiger Schreiber", "Don't know who you're talking about", "intelligenzfeindlich, antiurban", "Das ist doch schön". Die Reaktionen auf den Nobelpreis für JMG Le Clezio fallen bestenfalls lauwarm aus. Die taz würdigt die leuchtenden Skijacken im Werk Peter Doigs. In der Welt warnt Oliver Stone: Die Ära Bush ist noch längst nicht vorbei! In der FAZ verteidigt Ralf Dahrendorf die Amerikaner.

Aus den Blogs, 10.10.2008


Das Fotoalbum zur Finanzkrise: Sad Guys on Trading Floors.

Tina Browns neues Online-Magazin The Daily Beast bringt eine Reaktion von Stephen King auf den Nobelpreis für JMG Le Clezio: "Don?t know who you're talking about."
Stichwörter: King, Stephen

Spiegel Online, 10.10.2008

Was bitte gibt's am Nobelpreis für Le Clezio auszusetzen? fragt Beate Thill. "Er wurde zum Experten für die Ureinwohner des Landes - und damit zu einem literarischen Ethnologen. Sein fundierter Blick richtete sich mit anthropologischer Präzision auf die Lebensumstände seiner Figuren und macht ihn so bis heute unangreifbar gegen den Vorwurf, folkloristisch-naive Weltenbummlerprosa zu verfassen. Eben jene Berufung, die des Ethnologen, verleiht ihm seine besondere literarische Relevanz."
Stichwörter: Ureinwohner

Presse, 10.10.2008

Norbert Mayer ätzt über den Nobelpreis für Le Clezio: "Auf die Borniertheit der Akademie jedenfalls ist Verlass. Konsequent wurde von Engdahl und den weiteren schwedischen Juroren am Donnerstag ein weit gereister Franzose mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, ein fleißiger Schreiber, der dadurch auffällt, dass er außerhalb von Paris gar nicht auffällt, obwohl er seit 35 Jahren nette und bemühte Literatur produziert, die harte Kritik am kapitalistischen Westen übt, exotische Zivilisationen hingegen als naiv und glücklich darstellt. Ein Musterschwede."

Stichwörter: Paris

Weitere Medien, 10.10.2008

Steven Levy hat für Wired die unglaubliche Bibliothek des 52-jährigen Internet-Entrepreneurs Jay Walker besucht. "Nichts kann einen wirklich auf den Kulturschock von Walkers Bibliothek vorbereiten. ... Vollgestopft mit den erstaunlichsten Wälzern und historischen Objekten an den Wänden oder auf den Tischen eines Raums, der gut 334 Quadratmeter auf drei labyrinthischen Ebenen umfasst. Ist das ein Sputnik? (Ja). He, diese Bücher sehen aus als wären sie in Rubine gebunden (Sind sie). Diese Ausgabe von Chaucer ... ist das ein Kelmscott? (Klar). Mann, dieser Kronleuchter sieht aus wie der in dem James Bond Film 'Die another day' (Ist er). Egal wohin man sich in dieser Zikkurat dreht, stößt man auf einen neuen Schatz - einen Entwurf der 'Mortality chronicle of London' von 1665 (man kann Seuchenopfer pro Woche verfolgen), das Gebrauchshandbuch für die Saturn V Rakete (die die Apollo 11 zum Mond schoss), eine gerahmte Serviette von 1943, auf der Franklin D. Roosevelt den Plan für den Sieg im Zweiten Weltkrieg skizzierte. In Sekundenschnelle weitet sich Ihr Hirn wie ein heißer Toffee." (Der kurze Artikel ist bebildert mit umwerfenden Fotos von Andrew Moore.)

Bruno Ziauddin unterhält sich für die Weltwoche mit Tina Brown, ehemals The New Yorker, über ihren Boulevard-Perlentaucher The Daily Beast: "Es geht um eine rasche und smarte Aufbereitung des Webs unter dem gnadenlosen Gesichtspunkt: Was interessiert die Redaktion? The Daily Beast ist ein guter Freund, der für Sie Trouvaillen sammelt und frisch präsentiert. Er erlaubt es Ihnen, ein Tischgespräch zu führen, statt nur mitzureden."

TAZ, 10.10.2008

Ulf Erdmann Ziegler hat sich die Peter-Doig-Retrospektive in der Frankfurter Schirn angesehen und folgende Erkenntnis gewonnen: "Der Saal mit den Winterbildern enthält alle Techniken in nuce. In 'Ski Jacket', einem der großen Formate der Ausstellung, erfolgt die Spiegelung über die vertikale Teilung wie beim Rorschachtest. Als zentrales, aber durch die Montage zweier Leinwände geteiltes Motiv, dient ein schwärzlich schimmerndes Trapez, offensichtlich ein abschüssiges Kieferwäldchen in einer alpinen Landschaft, auf deren Abhängen die leuchtenden Skijacken als Konfetti verzeichnet sind. Es ist schon interessant, wie er den Mythos meidet: den Mythos des Bergs, den Mythos des Winterressorts, den der Massengesellschaft - obwohl Doig zugibt, eines von Gurskys Pistenstudien kurz zuvor gesehen zu haben. Doig schraffiert sich seine Landschaft zusammen, wahrscheinlich zwischen den Zähnen ein Liedchen pfeifend. Am Ende ist da ein Bild, durchaus, aber man könnte auch sagen: eine Membran."

Besprochen werden die neue CD von Oasis und ein Buch über die Geschichte des Widerstands gegen Kolonialismus und Sklaverei (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Eher mau die Reaktion auf den Literaturnobelpreis für Jean-Marie Le Clezio: Ines Kappert stört sich an der Begründung der schwedischen Akademie, die sie irgenwie selbstgerecht und denkfaul findet. Dorothea Hahn konstatiert säuerlich den "Taumel von Jubel und Selbstbeweihräucherung", in den Paris gefallen sei. Auf der Medienseite lässt sich Klaus Raab vom Literaturen-Geschäftsführer Michael Merschmeier über die Probleme der Zeitschrift aufklären: "30.000 Hefte verkaufte man anfangs, später 20.000, nun etwa 14.000. Merschmeier, der als Kritiker gearbeitet hat und Romane schreibt, dem man kaum vorwerfen kann, beim Wort 'Lesen' nur an Bilanzen zu denken, sagt: 'Wir müssen wieder 5.000 mehr verkaufen.' So einfach. So schwierig."

Und Tom.

NZZ, 10.10.2008

Peter Urban-Halle ist mit dem Nobelpreis für JMG Le Clezio alles in allem einverstanden. Er schätzt den "eleganten, raffinierten Stil" des Romanciers, "seine farbige Darstellung, die musikalischen Untertöne". Aber er hat auch Einwände: "In seinem Debüt und den frühen Romanen überwiegen noch Lebensekel und eine menschenfeindliche Wirklichkeit. Sein zweites Buch hieß 'Sintflut', das bringt die Katastrophenerfahrung auf den Begriff. Mit 'Hai', 1971, kommt die Wende - und die Orientierung hin auf außereuropäische Kulturen und deren Fähigkeit, die Welt, die Dinge im Ganzen zu sehen. Die Trennung zwischen Mensch und Materie, das ist es, was Le Clezio in seiner scheinbar einfachen, diskreten Art angreift. Man mag fast als reaktionär betrachten, welche Konsequenzen das hat, nämlich eine intelligenzfeindliche, antiurbane Haltung." (mehr hier)

Weiteres: rbp. versammelt Stimmen zu Le Clezio. Joachim Güntner hat leider auch beim Deutschen Soziologentag keine neuen Einsichten in die Finanzkrise erhalten. Besprochen werden die beiden Berliner Inszenierungen des "Eugen Onegin" in der Staatsoper und Mozarts "Requiem" an der Komischen Oper, das Album "Monday's Ghost" der Schweizer Folk-Sängerin Sophie Hunger und Juana Molinas CD "Un Dia".

Auf der Medienseite beschreibt ras. die Reaktionen auf die geplante Abschaltung des traditionsstarken Mittelwellensender Radio Beromünster Ende des Jahres.

SZ, 10.10.2008

"Schal" findet Alex Rühle die Entscheidung, den Nobelpreis für Literatur an den Franzosen Jean-Marie Gustave Le Clezio zu verleihen. In einem kürzlich geführten Interview erklärt Le Clezio: "Ich bin nicht sozial."

Außerdem: Johannes Pennekamp lässt sich vom Lobbyisten Dieter Gorny erzählen, wie die Musikindustrie das Internet bändigen will: "Musik-TV im Internet, Songdownload per Handy und Musik-Flatrates sind die neuen Hoffnungsträger der Branche." Lars Weisbrod lernt bei einer Tagung zur experimentellen Philosophie (mehr hier) in Köln: "Manchmal muss man eben aus dem Lehnstuhl aufstehen, um weiter im Lehnstuhl sitzen bleiben zu können." Selbst in der Krise ist die Wirtschaft mächtiger als die Politik, klagt Andreas Zielcke. Mounia Meiborg gefällt der fiktive Dokumentarfilm "Go fast connexion" von Kourtrajme, weil er die "klischeebeladene und sensationsgeifernde" Darstellung der Pariser Banlieue in den Medien persifliert. Das russische Leinwandepos "1612" über einen polnischen Heerführer, der - historisch unkorrekt - die Zarentochter Xenia entführt und vergewaltigt, ist so schlecht, das es in Polen keine große Aufregung ausgelöst hat, berichtet Thomas Urban (hier der Trailer). Georg Rudiger stellt den neuen Musikchef in Freiburg, Fabrice Bollon vor. Peter Handke nahm in München den Thomas-Mann-Preis entgegen, berichtet Thomas Steinfeld, obwohl er eigentlich keine Preise mehr annehmen wollte, "aber dann freute er sich doch, obwohl er sich eigentlich über Preise nicht freut, obwohl, doch, manchmal".

Besprochen werden die Lawrence-Weiner-Retrospektive (mehr von Lawrende Weiner hier) im Düsseldorfer K21 ("ein großes und schönes Ereignis", versichert Manfred Schwarz), das neue Album von Oasis, die Aufführung von Jonas Hassen Khemiris Stück "Invasion!" am Nationaltheater Mannheim, ein Zürcher "Fidelio" mit Bernard Haitink, eine Ausstellung mit Malereien von Venedig in der Fondation Beyeler und Bücher, darunter ein neuer Gedichtband von Urs Allemann und politische Bücher (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 10.10.2008

Nach erstem Staunen passt die Auszeichnung Le Clezios' für Ina Hartwig dann doch wieder ins Schema: "In Frankreich ist der Mann mit dem exotisch klingenden Vornamen ein Star; zumindest war er einer. Denn es könnte sein, dass seine große Zeit zwei, drei Jahrzehnte zurückliegt - was für einen Nobelpreisträger schon wieder normal wäre... Er mag die verlorenen Paradiese seiner Kindheit im Blick haben - ein typischer Zivilisationskritiker und politischer Moralist ist er nicht. In die Geschichte, so sein Credo, könne der Mensch nicht eingreifen. Obwohl er als öffentlichkeitsscheu gilt, hat J.M.G. Le Clezio bereits angekündigt, er werde zur feierlichen Preisverleihung am 10. Dezember nach Stockholm reisen. Das ist doch schön."

Eine Meldung informiert uns, dass bei Potsdam die Dreharbeiten zu Quentin Tarantinos neuem Film "Inglorious Bastards" begonnen haben. Andreas Eggert, parteiloser Bürgermeister vom sächsischen Bad Schandau, erklärte dazu stolz: "Es war nur eine Frage der Zeit bis Hollywood erkennt wie attraktiv die Sächsische Schweiz ist."

Weiteres: Harry Nutt bedauert in einer Times Mager das Dahinkrebsen der Musikbranche - von der Weltökonomie ganz zu schweigen. Und Elke Buhr nennt die neuen Modelle der Musikindustrie bei der Popkomm eine "Komplett-Ausquetschung der Wertschöpfungskette". Der Tod des deutschen Schauspielers Herbert Bötticher wird gemeldet.

Besprochen werden die Ausstellung "Spektakel der Macht" im Kulturhistorischen Museum Magdeburg, zwei Klassiker des türkischen Schriftstellers Ahmet Hamdi Tanpinar, "Das Uhrenstellinstitut" und "Seelenfrieden", das Globalisierungsbuch "Unternehmen Babylon" des Psychologen Peter Winterhoff-Spurk und das neue Album der Britpop-Band Oasis, "Dig out your soul".

Welt, 10.10.2008

Tilman Krause macht aus seiner Enttäuschung keinen Hehl, dass nun die "edle Langeweile" JMG Le Clezios und nicht die Erinnerungskunst von Patrick Modiano mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde - wenn es denn schon unbedingt ein Franzose sein musste. Manfred Flügge zeichnet in einem zweiten Artikel ein freundlicheres Bild des Laureaten: "Le Clezio verklärt nicht das Abenteuer. Bei ihm finden wir eine Art taghelle Mystik, welche die radikalen Gegensatzpaare des westlichen Rationalismus versöhnen will (belebt vs. unbelebt, Ordnung vs. Chaos, Natur vs. Stadtkultur, Materie vs. Unendlichkeit)." Und Elmar Krekeler findet ein paar harte Worte für das zuständige Komitee: "Die Entscheidungen der Chefgerontologen aus Schweden sind inzwischen derart erratisch geworden, dass man kaum mehr erklären kann, wofür der Nobelpreis eigentlich steht."

Julia Zimanofsky und Rüdiger Sturm unterhalten sich mit Oliver Stone, dessen Bush-Biopic "W" in den USA nächste Woche startet. Die Ära Bush ist keineswegs vorbei, warnt er: "Bush hat die amerikanische Gesetzgebung wahrscheinlich auf alle Zeiten verändert. Es wird unendlich viel Arbeit erfordern, um all das wieder rückgängig zu machen - die konstitutionellen Probleme, die verstärkten Rechte der Exekutive, die ganze Überwachungs-Politik und auch deren Akzeptanz in der Bevölkerung. Die Regierung kann damit jeden Bürger vernichten. Das macht mir Angst, so wie es jedem Angst machen sollte."

Weitere Artikel: Ulli Kulke sucht im Leben Dagobert Ducks Inspiration für die Bewältigung der Finanzkrise. Berthold Seewald berichtet, dass der wegen seines Kommentars in heftige Kritik geratene erste Band der Briefausgabe Leopold von Rankes von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften komplett neu ediert wird - die Käufer der bisherigen Ausgabe werden diesen Band kostenlos erhalten.

Besprochen werden die Revue "Qi" im Berliner Friedrichstadtpalast, Werner Schwabs Stück "Die Präsidentinnen" mit Nina Hoss in Berlin und Lullys "Armide" in Paris.

FAZ, 10.10.2008

Patrick Bahners und Alexander Cammann interviewen Ralf Dahrendorf zur Finanzkrise, der aber nicht auf den üblichen Verdächtigen herumhacken will: "Die Einzigen, die mit der Krise fertig werden können, sind die Amerikaner. Sie sind viel radikaler als die Europäer. Die Europäer reden immer - und besonders gerne von Systemen: Man müsse das ganze System verändern, heißt es dann sofort. Da wird dann schnell das Ende des Kapitalismus ausgerufen oder die Soziale Marktwirtschaft begraben. In Amerika wird jetzt stattdessen etwas getan. Und sie werden viel radikaler als alle Europäer sein, so wie Roosevelts 'New Deal'-Antwort auf die Weltwirtschaftskrise in den dreißiger Jahren viel radikaler war als sämtliche Ideen der europäischen Sozialisten."

Weitere Artikel: Jürg Altwegg deutet die Vergabe des Literaturnobelpreises an JMG Le Clezio als Zeichen einer antiamerikanischen Politik des Nobelpreiskomitees - den Autor sieht er dennoch als würdigen Preisträger. Joseph Hanimann würdigt Le Clezios fernwehsüchtiges Werk. Rüdiger Soldt berichtet Neues über den Streit zwischen dem Haus von Baden und dem Land Baden-Württemberg. Dirk Schümer berichtet in der Leitglosse, dass auf Mussolini zurückgehende Siedlungen und Architekturensembles eine Interessengemeinschaft gegründet haben. Reiner Burger berichtet über die anstehenden Dreharbeiten zu einer Weltkriegsschmonzette von Quentin Tarantino in der Stadt Görlitz. Gina Thomas bezweifelt, dass der in Großbritannien festgesetzte Holocaustleugner Frederick Toben nach Deutschland ausgeliefert wird. Auf der letzten Seite erläutert Günter Paul den bei GAUs verschiedener Art verwendeten physikalischen oder metaphorischen Begriff der "Kernschmelze".

Besprochen werden die Verfilmung von Otfried Preußlers Jugendbuch "Krabat", eine Ausstellung über die Society of Dilettanti im England des 18. Jahrhunderts im J. Paul Getty Museum in Malibu, die Ausstellung "Megastructure reloaded", in der sich junge Künstler mit der Architekturmoderne der Nachkriegszeit auseinandersetzen, in Berlin, Ereignisse des Musikfestivals "Warschauer Herbst" und einige Bücher (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).