Heute in den Feuilletons

Spiellust des Lustspiels

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.09.2008. Der "berüchtigte Großschauspieler" Brandauer als Dorfrichter Adam und die "erwartungsgemäß textfromme" Inszenierung Peter Steins versetzen die Kritik wider Erwarten in Begeisterung, na ja, zumindest teilweise. Der Selbstmord des Autors David Foster Wallace im Alter von 46 Jahren schockiert die Zeitungen. In der FAS begeht Frank Schirrmacher den "Untergang 2".

NZZ, 15.09.2008

Barbara Villiger Heilig ist schlichtweg begeistert von Peter Steins Kleist-Inszenierung am Berliner Ensemble: Der "Zerbrochne Krug" wird dort mit "atemraubender Detailversessenheit" gezeigt, wobei besonders die schauspielerische Leistung von Klaus Maria Brandauer überzeugte: "Die kein bisschen 'aktualisierte', aber topaktuelle Paraderolle des sündigen Richters und richtenden Sünders sitzt dem berüchtigten Großschauspieler - der letztes Jahr dank Schillers 'Wallenstein' mit Peter Stein zusammentraf - wie maßgeschneidert. Er verkörpert die Spiellust des Lustspiels. Spielt Brandauer den Adam oder Adam den Brandauer?"

Weitere Artikel: Thomas Leuchtenmüller würdigt David Foster Wallace, der am Freitag seinem Leben ein Ende setzte, als großen amerikanischen Autor: Zwischen Selbstironie und heiligem Ernst, zwischen ausschweifendem Fabulieren und Detailversessenheit bis aufs Komma bewegte sich sein bedeutendes Erzählwerk - eine deutsche Ausgabe des opus magnum, des Romans "Infinite Jest", steht allerdings noch aus. Bert Hoppe fürchtet um das Moskauer Hotel "Lux": Vom historischen Interieur des ehemaligen Komintern-Hauptquartiers werde durch Moskaus übliche Sanierungspraxis für Baudenkmäler wohl nicht viel übrig bleiben.

Besprochen werden eine letztlich doch gelungene Uraufführung von "z. B. Der gestiefelte Kater" von Jan Bosse in Zürich und ein Konzert mit Werken von Mahler und Schostakowitsch des Chicago Symphony Orchestra unter Bernard Haitink in Luzern.

FR, 15.09.2008

Entsetzt schreibt Guido Graf über den Tod des Schriftstellers David Foster Wallace, der sich im Alter von 46 Jahren das Leben genommen hat: "Als wäre dieser Tod nun ein letzter Baustein im großen intertextuellen Spiel der literarischen Postmoderne, zu der Wallace lange gezählt wurde... Der ganze Kreuzfahrt-, Werbe-, Fernsehmist, das ökonomistische und das Therapiebedürftigkeitsgebrabbel: Das sind wir, die privilegierten Asozialen, zur Kenntlichkeit entstellt. Den Zweifel, den David Foster Wallace vor allem in den Erzählungen gesät hat, die in den letzten zehn Jahren entstanden und deren Gegenstände immer finsterer geraten sind, werden wir nicht mehr los."

Arno Widmann sieht in Peter Steins Inszenierung vom "Zerbrochenen Krug" den Versuch, das alte Schauspielertheater der 60er Jahre zu rekonstruieren, das er in den letzten 20 Jahre zu "zerstören" mitgeholfen hatte: "Da versucht einer die Scherben wieder zusammenzukleben, in die er, als er jung war, das alte Familienporzellan zerschlagen hatte... Restauration wird nicht nur betrieben, sie liegt auch in der Luft. Aber auch der Premieren-Applaus täuscht nicht darüber hinweg: Hier geht ein alter Löwe zurück in die Höhle, aus der er einst sprang. Eine Sackgasse ist das und nicht die Zukunft des Theaters."

Weiteres: Christian Thomas erlebt die von Aaron Betsky kuratierte Architekturbiennale in Venedig als Rundumspaziergang durch gegensätzliche Welten, der zugleich Behaglichkeit und "architektonischen Okkultismus" biete, am Ende jedoch harmlos bleibe. Elke Buhr blickt in Times mager erwartungsvoll auf Damien Hirsts Auktion bei Sotheby's.

Besprochen werden das Stück "Furcht und Zittern" von Händl Klaus und Lars Wittershagen bei der Ruhrtriennale, Cilli Drexels Inszenierung der "Buddenbrooks" am Schauspiel Frankfurt und eine Aufführung von Patrick Hamiltons Klassiker "Gaslight" im English Theatre Frankfurt.

Weitere Medien, 15.09.2008

Kurz zusammengetragen hier einige weitere Links zum Tod von David Foster Wallace, der sich im Alter von 46 Jahren erhängt hat. Hier seine Homepage. In Spiegel Online schreibt Andreas Borcholte den Nachruf. Bruce Weber erinnert sich an Wallace in der New York Times als an einen "versatile writer of seemingly bottomless energy". einen weiteren Nachruf hat Michiko Kakutami verfasst. In der LA Times schreibt David L. Ulin.

Welt, 15.09.2008

Matthias Heine ist erfreut, wenn auch nicht überrascht über Peter Steins Inszenierung des "Zerbrochenen Krugs": "Stein lässt erwartungsgemäß so textfromm spielen, dass vermutlich sogar der Avantgardist Kleist irritiert wäre..." Auch Brandauer als Dorfrichter findet Heines Zustimmung: "Einmal kotzt er sogar aus dem Fenster. Er spielt den Adam ein bisschen Brandauer-hafter und eitler als er den Wallenstein gespielt hat. Aber das stört nicht."

Weitere Artikel: Wieland Freund schreibt zum Tod des amerikanischen Romanciers und Essayisten David Foster Wallace, der sich im Alter von 46 Jahren erhängt hat. Uta Baier trägt aus einem Buch der Historikerin Monika Tatzkow und des Anwalts Gunnar Schnabels neue Details über die umstrittene Restitution von Kirchners "Straßenszene" zusammen. Friedrich Pohl fragt sich, ob die neue Berliner Mehrzweckhalle namens "O2 World" angesichts ihres ordentlichen Gestühls tatsächlich für Rockkonzerte geeignet ist. Hendrik Werner hat einige Krimis der neuen Saison gelesen und beobachtet einen anhaltenden Boom des Genres, das für über 20 Prozent der Buchumsätze steht. Jörn Lauterbach unterhält sich mit Udo Lindenberg über sein grafisches Oeuvre.

Besprochen werden Puccinis "Turandot" an der Deutschen Oper Berlin und eine Neuausgrabung von Karl Schönherrs Stück "Der Weibsteufel", inszeniert von Martin Kusej, in Wien.

Auf der Magazinseite übernimmt die Welt einen Artikel Maria Dickersons aus der LA Times über den Umweltforscher Carl Hodges, der die Wüsten mit Meerwasser bewässern will, um dort die wohlschmeckende Pflanze Salicornia anzubauen, welche gleichzeitig zur Erzeugung von Biokraftsteff dienen kann.

TAZ, 15.09.2008

Shirin Sojitrawalla berichtet vom Frankfurter Kongress zur Spaziergangswissenschaft, die sich der "ursprünglichsten und auch demokratischsten Art der Fortbewegung" verpflichtet sieht. Brigitte Werneburg rät angesichts der Gefahr, dass Damien Hirst in dieser Woche die Kunstmarkt-Blase zum Platzen bringt, zu Investitionen in Sternennebel.

In der tazzwei berichtet Charlotte Misselwitz von wachsendem Interesse an Jiddischkursen. Auf der Medienseite befragt Steffen Grimberg den Medienwissenschaftler Udo Branahl zu dem Urteil, wonach es Behörden erschwert wird, in Bagatell-Fällen eine Gegendarstellung zu erwirken.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Fotografien der NS-Ordensburg Vogelsang in Schleiden und Niels Seiberts Buch zur Geschichte des Antirassismus "Vergessene Proteste".

nachtkritik, 15.09.2008

So recht wollte der Funken nicht zünden bei Esther Slevogt, für die sich Peter Steins "Zerbrochener Krug" am Berliner Ensemble recht müde hinschleppte: "Zuviel Arbeit am pittoresken, am burlesken Detail. Hier tuscheln Mägde im Hintergrund, da schnarcht der Gerichtsdiener unter seinem Dreispitz. Vorn auf der Bank barmt Eve, die nicht sprechen darf, weil sie um das Leben ihres Liebsten Ruprecht fürchtet. Ein paar Meter weiter wütet eben dieser Ruprecht, der sich von Eve betrogen wähnt, still vor sich hin. Weil soviel Arbeit an die Herstellung der Oberfläche verwendet wird, dringt der Abend nicht darunter. Es gibt große schauspielerische Highlights: Brandauer eben, dessen Dorfrichter nahezu Amstettener Züge hat."

Tagesspiegel, 15.09.2008

"Verscherbelt" nennt Rüdiger Schaper Peter Steins Inszenierung vom "Zerbrochenen Krug" am Berliner Ensemble mit Klaus Maria Brandauer. Er kam sich vor, als hätte er eine Gemütlichkeitsdroge verabreicht bekommen: "Kurzweilig wird es trotzdem nicht. Weil Stein und Brandauer Adams Sündenfall mit aller Gewalt in Richtung Goldoni und Moliere rücken. Komik mit Ansage. Wenig commedia, viel arte. Kleists Amtsgerichtsfarce erstickt in historisierender Aufmachung (Kostüme: Anna Maria Heinreich). Es fallen einem dazu auch nur verbrauchte Attribute ein: staubig, gemütlich, betulich, abgehangen."

SZ, 15.09.2008

In der "Tropen"-Schau im Berliner Gropius-Bau wirft, wie Kia Vahland glaubt, das Humboldt-Forum als ethnografische Sammlung seine Schatten voraus. Die Probleme solcher Ausstellungen lassen sich hier, so Vahland, exemplarisch studieren: "Was sich ... in den außereuropäischen Sammlungen findet, zeugt nicht von einer 'Gleichwertigkeit der Kulturen'..., sondern ist in sehr vielen Fällen das Ergebnis einer Entweihung: Die Masken, Kostüme, Phantasiewesen, die in den tropischen Gesellschaften die Kräfte der Natur und der Ahnen transportierten, wurden auf ihre Dinghaftigkeit reduziert, der kultische Wert bezwungen und in einen Marktwert überführt. Der aber bemisst sich nicht an der ursprünglichen Bedeutung einer Arbeit, sondern an der Schwierigkeit ihrer Eroberung, am Grad der Rarität."

Auf der Medienseite veröffentlicht Henrik Bork das "Protokoll einer gescheiterten Recherche. Die chinesische Staatssicherheit hat sie verhindert. Geplant waren Interviews mit chinesischen Behinderten in der Provinz. Kein einziges konnte stattfinden, weil die Staatssicherheit Gesprächspartner einbestellte und einschüchterte."

Weitere Artikel: Christian Kortmann versucht, sich mit dem neuen "körpernahen" Computerspiel-Interface "Wii Fit" (Herstellerseite) anzufreunden. Vom Filmfestival in Toronto berichtet Anke Sterneborg, wo sie sich vor allem von Danny Boyles neuem Film "Slumdog Millionaire" hat begeistern lassen. Der Schriftsteller Georg Klein liefert Teil drei seiner "Nackt in Nowosibirsk"-Kolumne. In den Nachrichten aus dem Netz informiert Franziska Schwarz über statistisch erwiesene Musikvorlieben von Internet-Radiohörern. Holger Liebs gratuliert der Berliner Neuen Nationalgalerie zum vierzigjährigen Bestehen - beklagt aber den desolaten Zustand des Baus. Willi Winkler schreibt zum Tod des Schriftstellers David Foster Wallace.

Besprochen werden Peter Steins, wie Lothar Müller findet, nicht wirklich gelungene Inszenierung des "Zerbrochnen Krugs" am Berliner Ensemble, die Uraufführung von Händl Klaus' Singspiel "Furcht und Zittern" bei der Ruhrtriennale, ein Konzert zur Erinnerung an den Jazzmusiker Esbjörn Svensson, Ulla Wagners Uwe-Timm-Verfilmung "Die Entdeckung der Currywurst", neue DVDs, darunter eine Edition von Apichatpong Weerasethakuls Film "Blissfully Yours" und Bücher, darunter Alina Bronskys Roman "Scherbenpark" (Leseprobe) und Klaus Kreisers "Atatürk"-Biografie (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 15.09.2008

In der FAS von gestern schreibt Frank Schirrmacher über das Aust-Eichinger-Edel Kollaborat "Der Baader-Meinhof-Komplex". Er hat dabei sowas wie "Der Untergang II" gesehen, nur diesmal, frei nach Marx, als Farce, Andreas Baader ist Adolf Hitler: "Erst jetzt, durch Objektivierung durch die Kunst und die totale Logik der Erzählung, erkennt man, wie sehr die zweite, die Stammheim-Phase des Terrorismus nichts anderes als ein spießiger Kampf um Heim und Herd war... das hohe Paar, das schließlich gemeinsamen Selbstmord begeht - das alles klingt wie die Travestie auf die Bunkerdämmerung von 1945." Den Rest überlässt Schirrmacher der werten Kollegenschaft: "Mag die Filmkritik darüber entscheiden, wie gut dieser Film ist."

In der heutigen FAZ wird nach dem im selben Feuilleton mit recht harten Bandagen geführten Antisemitismusstreit aparterweise die Dankesrede des Publizisten Henryk M. Broder zur Verleihung des Hildegard-von-Bingen-Preises abgedruckt, in der es aber nicht um Antisemitismus, sondern einzig und allein um Gottes und Henryk M. Broders Wirken auf Erden und um die verfolgten Bahai geht. Tom-Felix Jöhnk war in Bangladesch, wo man angesichts des allgegenwärtigen Wassers manche Tätigkeit ins Nass verlegt. Matthias Hannemann erinnert an die riesige Flutwelle, die das texanische Galveston im Jahr 1900 beinahe völlig dem Erdboden gleichmachte. Jordan Mejias porträtiert den Polit-"Maverick" und aktuellen Favoriten bei der US-Präsidentschaftswahl John McCain. Von einem Kulturerbestreit in Andalusien, der sich um Balken dreht, berichtet Paul Ingendaay. In der Glosse informiert Karen Krüger über Versuche der türkische Regierungspartei AKP, den Alkoholgenuss im Lande eindämmen will - mit herzlich wenig Erfolg.

Besprochen werden Peter Steins Inszenierung von Kleists "Zerbrochnem Krug" mit Klaus Maria Brandauer als Dorfrichter Adam ("großes Theater" für Gerhard Stadelmaier), Lorenzo Fioronis Inszenierung von Puccinis "Turandot" an der Deutschen Oper Berlin, die große "Francis Bacon"-Ausstellung in der Tate Britain, der Dokumentarfilm "Dance For All" und Bücher, darunter Petra Gehrings philosophische Studie zu "Traum und Wirklichkeit" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).