Heute in den Feuilletons

Wenn Hawking recht hat

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.09.2008. Wir blicken gebannt nach Genf, wo heute der Teilchenbeschleuniger LHC in Betrieb geht. Der Tagesspiegel sieht kaum Chancen auf einen von wissengierigen Atomphysikern provozierten Weltuntergang. In der SZ beschreibt der Physiker Klaus Hentschel, wie am Cern kommuniziert wird. In der NZZ brandmarkt Arkadi Babtschenko Russlands Willen, um jeden Preis Großmacht zu sein. In der Welt erklärt Leoluca Orlando seine Solidarität mit Georgien. Die FR feiert Matteo Garrones ganz unglamourösen Mafia-Film "Gomorrha". Die FAZ will Google nicht auch noch die Vergangenheit der Zeitung überlassen.

Tagesspiegel, 10.09.2008

"Ist eine Handvoll wissensgieriger Atomphysiker womöglich dabei, den Weltuntergang zu riskieren?" Der Mikrobiologe Alexander Kekule kann Entwarnung geben. Der heute startende Teilchenbeschleuniger am Cern ist so gut wie sicher, entstehen werden höchsten mikroskopisch kleine Schwarzen Löcher: "Dass die schwarzen Mini-Löcher jedoch alles in sich aufsaugen und lawinenartig wachsen können, wie ihre großen Verwandten im Weltraum, gilt als sehr unwahrscheinlich. Garant dafür ist das Physik-Genie Stephen Hawking. Er rechnete in den 70er Jahren vor, dass Schwarze Löcher ständig Energie in Form von Strahlung verlieren müssen. Diese 'Hawking-Strahlung' ist umso stärker, je kleiner ein Schwarzes Loch ist. Künstliche Winzlöcher, wie sie im LHC entstehen könnten, wären bereits nach weniger als einer Billionstel Billionstelsekunde wieder verpufft. Wenn Hawking recht hat, kann nichts passieren."

NZZ, 10.09.2008

Der russische Schriftsteller Arkadi Babtschenko hat als Militärkorrespondent für die russische Tageszeitung "Nowaja Gazeta" an Russlands Feldzug in Südossetien teilgenommen. Im Interview mit Jörg Plath spricht er über seine Erlebnisse und Moskaus Ambitionen: "Wenn Medwedew will, dass Russland Großmacht wird und von den Fidschiinseln bis nach Gibraltar reicht, dann soll er mit seiner Kalaschnikow selber alles erobern! Aber nicht in seinem warmen Arbeitszimmer sitzen und 18-jährige russische Jungs schicken! Als Jelzin Präsident einer Großmacht sein wollte und Tschetschenien angriff, musste der kleine Babtschenko dorthin fahren. Jetzt will Medwedew Präsident einer Großmacht sein und kämpft in Südossetien, und wieder muss Babtschenko hinfahren und brennende Soldaten fotografieren. Ich habe es satt! Ich habe den Eindruck, dass Russland Deutschland in den dreißiger Jahren ähnelt: Es phantasiert von der Weltherrschaft und bereitet sich darauf vor."

Uwe Justus Wenzel kommentiert die heute startende Suche nach dem "Gottesteilchen" am CERN fatalistisch: Selbst wenn sich das Forscherkollektiv in seinen Sicherheitsprognosen irren und ein zerstörerisches Schwarzes Loch produzieren sollte, "dürfen wir uns immer noch - einen Moment lang wenigstens - glücklich schätzen, das Ende nicht etwa aus krudem Machtstreben oder aus Geldgier heraufgeführt zu haben, auch nicht aus schierer Dummheit, sondern aus reiner und zweckfreier Neugierde, aus dem Übermut des freien Forschens heraus."

Außerdem blickt Daniel Ender zurück auf das Musikfestival im niederösterreichischen Grafenegg, das ganz ohne Themen oder Leitlinien auskommt und Patrick Straumann besuchte die zwanzigste "Internationale Biennale des Buches" in Sao Paulo. Besprochen werden Margaret Atwoods autobiografischer Roman "Moralische Unordnung", eine Livia-Biografie von Christiane Kunst und der neue Roman von Francois Vallejo: "Monsieur Lambert und die Ordnung der Welt" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 10.09.2008

Ganz außerordentlich beeindruckt ist Heike Kühn von Matteo Garrones Verfilmung des Bestsellers von Roberto Saviano "Gomorrha": "Jede Szene, jeder Schauplatz ist so reich an überwältigenden Bildern, die aus phänomenologischer Distanz ins Poetische und Metaphorische wachsen, dass für den Film ein neues Genre erfunden werden müsste. Ein Mafia-Film ist das nicht, dazu ist die Kritik an der populären Verherrlichung der Film-Paten zu beißend... Ist das nun semidokumentarisch, wenn aus gegebenen Fundstücken ruinierter Landschaften und Lebensweisen gleichzeitig Inbilder zerrütteter Seelen aufsteigen? Eher schon ist das visionär zu nennen."

Weitere Artikel: Harry Nutt hat das Symposion zur Eröffnung des Videoarchivs des Berliner Holocaust-Mahnmals besucht. Jamal Tuschik war dabei, als Manfred Osten und Wolf Singer in Frankfurt über die Hirnforschung diskutierten. In der Glosse fragt sich Hans-Jürgen Linke, warum der Genfer Teilchenbeschleuniger im Gegenzug ausgerechnet die Deutsche Bahn entschleunigt.

Besprochen werden die ersten Konzerte beim Berliner Musikfest und Raoul Schrotts Neuübersetzung der "Ilias" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 10.09.2008

In einem ausführlichen - und sehr anschaulichen - Interview erläutert der Physiker und Wissenschaftshistoriker Klaus Hentschel die wissenschaftshistorische Bedeutung des riesigen Teilchenbeschleunigers LHC, der heute am Cern in Genf den Betrieb aufnimmt. Dort gehe es längst nicht mehr um den einzelnen Wissenschaftler und sein Erkenntnisziel, sondern um die Kooperation vieler Forschungsdisziplinen. "Überall in diesen Großanlagen arbeiten Theoretiker und Experimentatoren, Kernphysiker und Astrophysiker, Ingenieure und Verwaltungsleute und auch Politiker zusammen, die sehr unterschiedliche Kommunikationskulturen haben und zudem aus unterschiedlichen nationalen Kontexten stammen - auch aus politisch verfeindeten. Es bedarf daher völlig neuer Kommunikationsstrukturen. Selbst das Internet hat sich bekanntlich aus Kommunikationsvarianten entwickelt, die am Cern entwickelt wurden. Die Öffentlichkeit übersieht meistens, wenn sie auf diesen riesigen Detektor und den 27 Kilometer langen Ring schaut, welche unglaubliche Infrastruktur und Kommunikationsleistung darin steckt."

Anke Sterneborg stellt die deutschen Beiträge beim Filmfestival von Toronto vor: Marco Kreuzpaintners Bestsellerverfilmung "Krabat" nach Otfried Preußler, "Anonyma" von Max Färberböck und "Im Winter ein Jahr" von Caroline Link. Ijoma Mangold besuchte das neu eröffnete Videoarchiv des Berliner Holocaust-Mahnmals. Das legendäre Bauerbe der Moderne in Bagdad verkommt, beklagt Klaus Englert. Christine Dössel informiert über einen Antrag von sieben Bundesländern, die Künstlersozialkasse abzuschaffen, der Bundestag entscheidet am 19. September. Gerhard Persche berichtet von den Haydn Festspielen im burgenländischen Eisenstadt. Lothar Müller würdigt im Nachruf den Wiener Germanisten Wendelin Schmidt-Dengler.

Besprochen werden außerdem CDs von Calexico und Olivier Messiaen und Bücher, darunter der Roman "Ob wir wollen oder nicht" von Karl-Heinz Ott und die Studie "Woran glaubt ein Atheist?" des französischen Philosophen Andre Comte-Sponville (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 10.09.2008

Dana Bönisch untersucht die Gründe, weshalb viele literarische Versuche, 9/11 zu verarbeiten, gescheitert sind - und sich stattdessen der Comic zum funktionierenden Medium traumatischen Erinnerns entwickelt. "Es mag sein, dass viele Autoren in die Gegenbilder-Falle getappt sind. Im Versuch, sich von den großen Mediennarrativen freizumachen, auf der Suche nach den 'anderen? Bildern, nach der elliptischen Sprache des Traumas, haben sie sich zuweilen im Alltagskitsch verfangen. Außerdem sind sie zum Teil immer noch den Dichotomien einer Sprache verhaftet, die im unmittelbaren Nachhall des Ereignisses klare Fronten zwischen Tätern und Opfern brauchte... Es wäre sicherlich zu hoch gegriffen, gezeichnete Erzählungen als Überwinder einer literarischen Schockstarre zu werten. Aber vielleicht braucht man in einer durch und durch medialisierten Welt am Ende doch immer noch ein paar Bilder mehr."

Besprochen werden eine Ausstellung der amerikanischen Konzeptkünstlerin Barbara Bloom im Berliner Martin-Gropius-Bau und Shinji Imaokas melancholische Sex-Komödie "Liebestoll im Abendrot - Tasogare". Und in tazzwei porträtiert Ralf Geissler die Journalistin Carolin Emcke, die für ihren Essay "Stumme Gewalt - Nachdenken über die RAF", in dem sie Freiheit für RAF-Attentäter forderte - unter der Bedingung, dass sie reden -, heute den Theodor-Wolff-Preis erhält.

Schließlich Tom.

Welt, 10.09.2008

Der frühere Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando, erklärt seine Liebe zu Georgien, dem Land, das nicht nur Stalin hervorgebracht habe, sondern auch Wein, Majakowski und Ilya Chahavadse. "Die Georgier wollen entdeckt werden. Das Land bittet seit Jahren darum, in den Barcelona-Prozess eingebunden zu werden, in die Europa-Mittelmeer-Partnerschaft, und beruft sich dabei auf die seine Geschichte und seine Wurzeln, aber auch auf die Teilnahme des Nachbarn Türkei an eben diesem Prozess und ebenso auf die Zugehörigkeit des Schwarzen Meeres zur komplexen Realität des Mittelmeerraums. Die fortdauernde europäische Unsensibilität dieser Bitte gegenüber aber hat Georgien zu einem anderen Schicksal verdammt: zu dem eines Landes, das zum Zwecke militärischen Gleichgewichts und aus wirtschaftlichen und energiepolitischen Interessen von Europa und der Welt ausgenutzt wird... Seit einigen Monaten schon, und heute ist das dramatisch aktuell, schickt sich der Kaukasus an, zum neuen Balkan zu werden, wird Tiflis zum neuen geteilten Berlin. Ein neuer kalter Krieg?"

Im Feuilleton preist Barbara Schweizerhof Matteo Garrones Mafia-Film "Gomorrha" nach der Vorlage der gleichnamigen Reportagen von Roberto Saviano. Im Interview mit Hanns-Georg Rodek erklärt Regisseur Garrone zudem, warum er den Mafiosi keinerlei Glamour verliehen hat: "Das Kino formt die Vorstellung dieser Kriminellen von sich geradezu. Es gibt die Szene in einer Villa in meinem Film, in der die zwei Möchtegern-Mafiosi-Jungs den Film 'Scarface' zitieren. Diese Villa wiederum wurde von einem realen Camorra-Boss namens Sciavone gebaut, der seinem Architekten den Auftrag gab, das Haus genau nach jenem Haus zu planen, in dem Al Pacino als Mafia-Boss Tony Montana in 'Scarface' residiert."

Weiteres: Rodek weiß in der Randglosse auch zu melden, dass der amerikanische Start von Tom Cruise' "Walküre"-Operation nun für den 26. Dezember terminiert ist, in Deutschland für den 22. Januar. Floria Stark schreibt mit recht gebremster Begeisterung zur Eröffnung der Multifunktionshalle O2-World in Berlin. Michael Borgstede berichtet, dass die mit europäischen Geldern produzierte Soap fürs palästinensische Fernsehen "Mattab" offenbar aus politischen Gründen abgesetzt wurde. Dankwart Guratzsch besucht evangelische Kirche in Kaliningrad. Jenni Roth meldet die Vergabe der hochangesehenen Balzan-Preise. Besprochen wird Woody Allens Aufführung von Puccinis "Gianni Schicchi" in Los Angeles.

FAZ, 10.09.2008

Für Michael Hanfeld reimt sich Archivieren auf Raubkopieren, jedenfalls dann, wenn die Zukunft der Vergangenheit der Zeitung Google heißt. Der Konzern will Zeitungsarchive zugänglich machen und Hanfeld sieht weniger Nutzen als Nachteil: "Während den Zeitungshistoriker stets erstaunte, dass die Zeitungen so wenig auf ihre Geschichte blickten - auf Zeitungsgeschichte als Zeitgeschichte, hat Google verstanden, wie man sich diese aneignet, ausbeutet und ausdeutet. Für all diejenigen, die ihr versammeltes Wissen - aktuell, im Archiv, auf Papier und online - selbst bewahren, weitergeben und darauf ihre wirtschaftliche Existenz aufbauen wollen, ist das der nächste Schlag der Raubkopierer, die mit der Digitalisierung der Bibliotheken dieser Welt schon weit fortgeschritten sind." (Wie sich die Zeitungen ihre hehre Aufgabe des Archivierens gegenüber den Autoren vorstellen, hat Ilja Braun vor einiger Zeit im Perlentaucher dargestellt. Hier auch ein Artikel darüber, wie die FAZ dem Perlentaucher sogar Nobelpreisreden als ihre Archivware verkaufte.)

Weitere Artikel: Der Biochemiker Christian Behl warnt vor besinnungslosem Hirndoping, das in unserer "Hochleistungsgesellschaft" um sich zu greifen droht. Was passierte, als das Boulevardblatt Sun jüngst extrem verbilligte Operntickets anbot, ist in einer Glosse von Gina Thomas zu erfahren. Andreas Rossmann hat ein überfälliges Symposion am Arp-Museum zum heiklen Thema "Posthume Güsse" besucht. Martin Wittmann war auf einer Tagung, die die Möglichkeit eines NS-Dokumentationszentrums in München ausloten wollte. Alexander Cammann hat die Beerdigung Nicolaus Sombarts als letzten Höhepunkt des Berliner Kulturbürgertums erlebt. Immerhin "ansehnlich" findet Dieter Bartetzko die neue O2-Arena (Website) in Berlin-Friedrichshain. Paul Ingendaay porträtiert den portugiesischen Schriftsteller Antonio Lobo Antunes, der den mit immerhin 150.000 Dollar dotierten Preis der Internationalen Buchmesse von Guadalajara bekommt. Herbert Ohrlinger schreibt zum Tod des österreichischen Germanisten Wendelin Schmidt-Dengler.

Besprochen werden Woody Allens Debüt als Opernregisseur mit einer Inszenierung von Puccinis "Gianni Schicchi", Matteo Garrones Film "Gomorrha" und Bücher, darunter Torsten Körners "Götz George"-Biografie (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).