Heute in den Feuilletons

Eine Horde Orang-Utans

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.09.2008. Das Drama der SPD beschäftigt auch die Feuilletons: Die FAZ verzweifelt über fehlende Verzweiflung. Die FR sieht das Politische in ein Trivialspektakel verwandelt. Im Tagesspiegel erzählt Christoph Schlingensief von seinem Kampf gegen größere Mächte. Und die SZ analysiert die Ökologie des Gehirns. Don Alphonso bezweifelt, dass ein bisschen Communitygedöns über die lausige Qualität von Qualitätsportalen hinweghilft.

FR, 09.09.2008

Einigermaßen unfassbar findet es Manfred Schneider in seinem Kommentar zum SPD-Aufruhr, wie oberflächlich alle Welt das Drama beobachtet: "Während sich die politischen, sozialen, ökonomischen, technischen Gegebenheiten in rasantem Tempo ändern, scheint sich die Art der Beobachtung noch in der Nähe der Hofberichten des 19. Jahrhunderts zu halten. 1815 war es vielleicht ein Politikum, wenn Metternich Falten auf der Stirne zeigte, aber dass Andrea Nahles nach der Entscheidung für Franz Müntefering als neuen SPD-Vorsitzenden ein säuerliches Gesicht gemacht habe, ist schwerlich eine Nachricht. Diese Naheinstellung der Medien, die unablässig die Mienen der Prominenz abtasten, verwandelt das Politische in ein Trivialspektakel, das sich nur noch über Personalia vermittelt."

Weitere Artikel: Maike Albath erinnert zu seinem hundertsten Geburtstag an den italienischen Autor Cesare Pavese. Oliver Herwig hat Angela Merkel bei ihrem Auftritt in der Münchner Zentrale des Goethe-Instituts erlebt. "Zielführend", stellt Christian Thomas in einer Times Mager fest, mag manches sein, die Evolution ist es nicht.

Besprochen werden Werner Düggelins Bühnen-Version von Albert Camus' Roman "Der Fremde", John Dews Darmstädter Inszenierung von Jacques Fromental Halevy Oper "La Juive", Marie-Luise Thieles Tanzperformance "Im Wechsel", eine Inszenierung von Richard Strauss' "Salome" in Kassel und eine CD-Edition mit Einspielungen von Alfred Schnittkes Klavierkonzerten (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 09.09.2008

Zu lesen ist ein Auszug aus dem Ende September erscheinenden Buch "Krisen im Kalten Krieg" des Hamburger Sozialwissenschaftlers Bernd Greiner, in dem es um das Verhältnis von Diplomatie und Abschreckung nach 1945 geht. "Unabhängig davon, wo Krisen inszeniert wurden, und egal, welche Mittel zum Einsatz kamen, das Dilemma des Nuklearzeitalters blieb stets das gleiche. Atomwaffen konnten allenfalls politischen Gewinn abwerfen, wenn die Angst vor der Bombe nicht als Verängstigung in Erscheinung trat, wenn man den Gegner herausforderte und über die eigenen Absichten im Unklaren ließ. So wollte John Foster Dulles sein viel zitiertes Diktum über Staatskunst im Nuklearzeitalter verstanden wissen: Wenn nötig, sich dem Abgrund nähern, ohne zum Äußersten entschlossen zu sein, aber die andere Seite rätseln lassen, wo die Grenze zwischen Bluff und Vabanquespiel verlief."

Dorothea Hahn berichtet über vielfältige und erbitterte Proteste gegen die erste große Jeff-Koons-Retrospektive in den heiligen Hallen von Versailles. In seiner Kolumne Berliner Ökonomie denkt Helmut Höge über die Partisanenkrankheit, 1968 und die Ansteckungspotenziale von Protestbewegungen nach. Dirk Knipphals resümiert die Rede, die Angela Merkel als erste Kanzlerin in der Zentrale des Goethe-Instituts hielt und in der sie wegen der gestiegenen globalen Verantwortung Deutschlands einen Ausbau der Institute forderte.

Besprochen wird das Buch "Tanner geht", für das der Journalist Wolfgang Prosinger drei Monate lang einen Todkranken begleitete, der in der Schweiz Sterbehilfe suchte (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und hier Tom.

Tagesspiegel, 09.09.2008

Im Interview mit Rüdiger Schaper spricht Christoph Schlingensief über sein neues Projekt, den Krebs, die Kirche und die Kunst: "Kirche, Angst, das Fremde: Diese Themen haben für mich eine extreme Bedeutung bekommen - und nichts mit Propaganda zu tun. Ich erlebe die Beziehung zu meinem Gott als Kampfsituation. Wenn man einen solchen Schlag abkriegt, kann man das nicht einfach akzeptieren. Anfang des Jahres bekam ich die Krebsdiagnose, seither quält mich die Frage, wer mich da verlassen hat. 'Mein Gott, warum hast du mich verlassen' - den Satz kann ich nun auch mal rufen. Vielleicht habe auch ich Gott verlassen, vorher schon. Diese vergangenen sieben, acht Monate sind das Konkreteste und Härteste, was ich in dieser ganzen simulierten Weltansicht von Kunst, Theater und Oper je erlebt habe. Wir sind alle schön beschützte Wesen, weil wir simulieren können. Und der Schauspieler spielt seine Rolle als Leidensbeauftragter."

NZZ, 09.09.2008

Die Bühnenversion von Camus' Roman "Der Fremde" am Theater Basel überzeugte Barbara Villiger Heilig: Vor minimalistischem Bühnenbild bringe die "stilsichere" Inszenierung von Werner Düggelin den Text zum Klingen, statt auf "Bühnenaction" zu setzen. Patricia Grzonka fühlt sich beim Besuch des neuen Museums für zeitgenössische Kunst in Neuhaus stark an das wahnwitzige Vorhaben aus dem Film "Fitzcarraldo" erinnert, im peruanischen Urwald ein Opernhaus zu bauen. Weniger wahnwitzig fand sie die sehr konventionelle Erstpräsentation. Peter Hagmann hörte in Luzern Bruckners Sinfonie Nr. 3 in d-Moll, gespielt vom Koninklijk Concertgebouworkest Amsterdam und Mariss Jansons. Außerdem besichtigt Eva Clausen das neuen Theater in Solomeo. Kurz vermeldet wird der Tod von Bernhard Zeller, dem langjährigen Leiter des Deutschen Literaturarchivs in Marbach.

Besprochen werden Olga Flors böser Roman "Kollateralschaden", Orhan Pamuks neues Buch "Museum der Unschuld", eine Ausgabe von "Zivilisation und Gefahr", der wissenschaftlichen Schriften Franz Baermann Steiners und die doppelte Autobiographie "Die Zwillinge oder Vom Versuch, Geld und Geist zu küssen" von Gisela Getty, Jutta Winkelmann und Jamal Tuschick.

(Mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Aus den Blogs, 09.09.2008

Don Alphonso lästert mal wieder über das "Trashportal" Zoomer, "so eine Art kostengünstig erstellte Bild Online für junge Leute inklusive rassistisch angehauchter Sprüche im Testlauf". Und nicht einmal vernünftige Google-Anzeigen könnten die schreiben! "Ich finde es ganz erstaunlich, für was deutsche Medienkonzerne im Internet Geld rausschmeißen. Sollten Firmen wie Holtzbrinck mittelfristig vor die Hunde gehen, dann liegt es ganz sicher nicht daran, dass sie aufgrund zu hoher, teurer Qualität Verlusten gemacht haben. Sondern maßgeblich am Glauben, dass für Onlinenutzer und ihre Klicks auch die lausigste Qualität mit ein wenig Communitygedöns noch ausreichend ist."

Alexander Kissler
glaubt in seinem Blog "frisch am Stück" erkannt zu haben, was Kurt Beck zu Fall gebracht: seine Dussel-Duckhaftigkeit. "Dussel ist neugierig, aber lernunfähig, einsatzbereit, aber geschichtsblind." Und: "Kurt Beck ist nun gewiss an seiner Führungsschwäche, seiner mangelnden politischen Intelligenz und einem unzuverlässigen Instinkt gescheitert. Der Abgang aber war, wie es die Metapher vom Durchstechen andeutet, Mord an einem König, der längst schon keiner mehr war, ein gnadenloser Gnadentod. Gerade auf seiner letzten Wegstrecke als Parteivorsitzender wurde der weinfesterprobte Pfälzer mehr und mehr eine Gestalt nicht von tragischer, sondern von komischer Gestalt."

Welt, 09.09.2008

Eckhard Fuhr zeigt sich "verführt", im Besuch der Kanzlerin Angela Merkel beim Goethe-Institut in München auch ein Signal zu sehen, dass die Sozialdemokraten nicht die auswärtige Kulturpolitik gepachtet haben. Sven Kellerhoff fühlt sich von den derzeitigen Turbulenzen bei der SPD an Weimarer Verhältnisse erinnert und die damalige Aufspaltung der SPD in MSPD und USPD. Berthold Seewald denkt eher an die Zeit der römischen Soldatenkaiser.

In der Randglosse erzählt Gerhard Charles Rump vom belgischen Künstler Wim Delvoye, der dem Schweizer Tim Steiner eine Madonna mit Totenschädel auf den Rücken tätowiert hat und dieses Kunstwerk nun an einen deutschen Kunstsammler für 216.000 Dollar verkauft hat. Ausgestellt werden darf der Rücken drei Mal im Jahr. Hanns Georg Rodek schreibt zum Tod der dienstältesten Kino-Stars Anita Page.

Besprochen werden der neue, bisher nur auf Französisch erhältliche, ganz und gar bürgerliche Roman "Jour de souffrance" der Skandalautorin Catherine Millet, eine Retrospektive auf den Landschaftsmaler Jakob Philipp Hackert im Neuen Museum in Weimar, Stefan Kaminskis Wagner-Abend in Berlin und die Inszenierung von Karsten Wegands an den Holocaust erinnernde Kammeroper "Pnima... ins Innere".

Auf der Forumsseite diskutieren Naomi Wolf und Irshad Manji über den Schleier. Wolf schreibt nach einmaligen Ausprobieren Pro: "Während ich mich auf dem Markt bewegte... empfand ich ein unbekanntes Gefühl von Ruhe und Gelassenheit. Ich fühlt mich tatsächlich in gewisser Weise frei." Manji Contra: "Auch wenn sich viele muslimische Frauen sich aus freiem Willen verhüllen, viele andere tun es nicht."

FAZ, 09.09.2008

Nachgerade verzweifelt ist Nils Minkmar angesichts der Unfähigkeit der SPD, sich mal ganz ehrlich die eigene Unfähigkeit einzugestehen: "Noch jeder Eklat wird in kürzester Zeit zur Normalität erklärt. Auch wenn morgen eine Horde Orang-Utans das Willy-Brandt-Haus kaperte, würde sich Generalsekretär Heil schon am Mittag auf die 'Herausforderung' freuen, mit Menschenaffen Politik zu gestalten... Kann nicht wenigstens am Ende eines Sonntags, der damit begann, dass alle Genossen wie die Schäfchen brav und verlogen blökten, Beck und Steinmeier seien das ideale Tandem, und der damit endete, dass der eine dieser tollen Freunde den anderen der Intrige und Unzuverlässigkeit bezichtigte, mal einer vor die Kameras treten und erklären, jetzt sei man mit dem Latein am Ende?" (Online gibt es noch einen gleichfalls sehr inspirierten Kommentar Minkmars zum Auftritt Peer Steinbrücks bei Beckmann.)

Weitere Artikel: Kerstin Holm informiert über russische Trauer angesichts der Aufkündigung der Beziehungen zu Georgien. Und irgendwie ist heute der Tag des Tiervergleichs im FAZ-Feuilleton: "Russland ist in der Lage eines Sibirischen Tigers, der äußere Sicherheitskreise verliert und zurückweicht, bis ein innerer Kreis übertreten wird und er sich durch Angriff zu schützen versucht." Von heftigem Streit um Richard Meiers römisches "Ara Pacis"-Museum weiß Sabine Frommel. In der Glosse erklärt Dirk Schümer, wie man in Venedig das Problem weiblicher Museumsbesucher mit Burka gelöst hat: mit der Einrichtung "improvisierter Burka-Abwurfstellen". Vom Besuch Angela Merkels in der Münchner Zentrale des Goethe-Instituts berichtet Hannes Hintermeier. Lea von Martius hat den für kurze Zeit zugänglichen DDR-Regierungsbunker besucht. Jürg Altwegg stellt Langenthal vor, den Ort, der seiner eidgenössischen Totalnormalität wegen zum "Paradigma der Marktforschung" in der Schweiz geworden ist. Noemi Smolik porträtiert die 1923 geborene Fotografin Bela Kolarova, die erst jetzt im hohen Alter zu Berühmtheit gelangt. Ludwig Harig trauert um Bernhard Zeller, den Archivar des Marbacher Literaturarchivs.

Besprochen werden die Van-Gogh-Ausstellung "Gezeichnete Bilder" in der Wiener Albertina, der von Werner Düggelin unbearbeitet auf die Theaterbühne gebrachte Roman "Der Fremde" von Albert Camus, neue CDs von Jutta Hipp und Ernesto Jodos sowie Pedro Juan Gutierrez' Roman "Kein bisschen Liebe" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 09.09.2008

Felix Tretter, Chefarzt einer Münchner Suchtklinik, bezweifelt in der Reihe "Was weiß die Wissenschaft vom Ich", dass sich psychische Phänomene - das Ich-Erleben ebenso wie seine Störungen - allein auf Gehirnzustände und -prozesse reduzieren lassen. "Letztlich ist zu bedenken, dass sich bisher noch kein Hirnforscher mit einem Gehirn ohne Sinnesorgane und ohne motorische Ausdrucksorgane verständigen konnte - das Gehirn braucht den Körper und der Körper braucht die Umwelt. Das Gehirn ist deshalb nicht nur ein Ort des Bewusstseins, sondern ein Beziehungsorgan, das das personale Selbst über seine Leiblichkeit mit der umgebenden Außenwelt in einen funktionellen Zusammenhang stellt. Daher müsste die Hirnforschung in eine übergreifende 'Ökologie des Gehirns' eingebettet werden"

Weiteres: Unter der Überschrift "Handgeschreddert" konstatiert Jens Bisky unter anderem am Beispiel des Buchs "Verrat verjährt nicht" von Christhard Läpple einen neuen Ton im Erzählen vom Leben mit der Stasi. Nicht "glamourös", in Sachen auswärtiger Kulturpolitik jedoch "souverän gepunktet" lautet Andrian Kreyes Urteil über Angela Merkels Auftritt in der Münchner Zentrale des Goethe-Instituts. Tobias Moorstedt porträtiert das Berliner Büro Raumtaktik, das den deutschen Beitrag auf der diesjährigen Architektur-Biennale in Venedig kuratiert. Ingo Peitz stellt den georgisch-russischen Schriftsteller Boris Akunin und dessen interaktiven Internet-Krimi vor, der am 15. September freigeschaltet wird. In der Kolumne "Zwischenzeit" staunt Wolfgang Schreiber über den Export einer "Wagner-Gala", die Ende Oktober unter Leitung von Christian Thielemann in Dubai stattfinden wird. "Ästhetischen Extremismus" als Kernkompetenz sieht Jens-Christian Rabe bei der Verleihung der US-MTV-Awards wirken, wo auch Tokio Hotel abräumten. Jörg Später schreibt über Gerd Koenens Porträt des "unter Genieverdacht stehenden" Assistenten von Adorno, Hans-Jürgen Krahl, in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift für Ideengeschichte. Johan Schloemann resümiert das Abschlusswochenende der Schubertiade in Schwarzenberg. "holi" informiert über die nun eröffnete Temporäre Kunsthalle Berlin. Paul Raabe würdigt im Nachruf Bernhard Zeller, den Archivar und Mitinitiator des Deutschen Literaturarchivs in Marbach.

Besprochen werden Christoph Büchels Ausstellungs-Inszenierung "Deutsche Grammatik" im Fridericianum Kassel und Bücher, darunter eine Neuübersetzung von Cesare Paveses Turin-Roman "Die einsamen Frauen" und Katharina Fabers Roman "Fremde Signale" (siehe hierzu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).