Heute in den Feuilletons

Zu hochhackig die Schuhe!

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.09.2008. Die SZ wehrt den Angriff gegen die Vernunft durch modische Dissidenten ab. Die taz warnt fröhlich vor Gefühlschaos und emotionalen Eskapaden im Rentenalter. In der FR erklärt der Schriftsteller Tom Piazza den Unterschied zwischen New Orleans und Albuquerque. Die Zeit vermisst intellektuelle Frauen in Deutschland. In der Welt stellt Cora Stephan klar, dass die Bundeswehr nicht der militärische Arm von amnesty international ist. Und die FAZ sieht ein neues schöpferisches Computerspiel-Zeitalter heraufziehen.

TAZ, 04.09.2008

Andreas Dresen und sein Film "Wolke 9" über Sex im Alter haben es auf die Titelseite geschafft. Im Interview auf den Kulturseiten spricht er über dessen Thema - Gefühlschaos, Ehebruch und Sex im Rentenalter - auf Seite 1 kommentiert Dirk Knipphals unter der Schlagzeile "Yes we can!": "Wer sich in seiner Jugend vom Summer of Love inspirieren ließ, wird sich auch 40 Jahre später die errungenen sexuellen Freiheiten nicht mehr ausreden lassen. Vergessen wir dabei lieber gleich Verniedlichungen a la ,Harold and Maude?! Die heutige Sandwichgeneration der Fourtysomethings kann sich daher schon mal darauf einstellen: Bei ihren Eltern werden sie nicht nur Erbschaftsregelungen und Pflegenotwendigkeiten managen müssen, sondern möglicherweise auch die Folgen emotionaler Eskapaden."

Weiteres: Helmut Höge beschäftigt sich mit dem "urewigen Drang zum Kollektiv" und denkt über die Geschichte und Gegenwart der alten Idee der Genossenschaft nach. Christina Nord sah in Venedig Agnes Vardas autobiografischen Essay "Agnes Strände". In tazzwei spricht die Journalistin und Autorin Hatice Akyün über ihr neues Buch "Ali zum Dessert", in dem sie beschreibt, wie sie mit einem Türken und ohne Trauschein eine deutsche Kleinfamilie gründet und die damit verbundenen familiären Turbulenzen. Und Pascal Beucker berichtet über das Urteil im Prozess Evelyn Hecht-Galinski gegen Henryk M. Broder, wonach Erstere sich von Letzterem vorwerfen lassen muss, sie gebe antisemitische Statements ab - allerdings nur, wenn Broder das konkret belegen kann.

Besprochen werden außerdem Uraufführungen des flämischen Regisseurs Johan Simons und des Choreografen Alain Platel bei der RuhrTriennale.

Und hier Tom.

Welt, 04.09.2008

Cora Stephan gibt der Autorin Juli Zeh recht, die in einem Spiegel-Essay die Haltung der Intellektuellen gegenüber der Bundeswehr angegriffen hatte ("Erlaubt ist ein diffuses Dagegensein. Ansonsten gilt: tarnen, täuschen und verpissen"). Schlimmer noch findet Stephan allerdings die Überhöhung: "Höchste Ziele haben es an sich, dass ihnen gegenüber das pingelige Einhalten von Regeln und Regularien minder wichtig erscheint. Das aber wäre eine gefährliche Entgrenzung militärischen Tuns. Auch darin hat Juli Zeh recht: völkerrechtliche Fragen interessieren hierzulande in der öffentlichen Wahrnehmung nicht. Entweder sind alle Soldaten Mörder - oder sie sind der 'militärische Arm von Amnesty International'. Dazwischen scheint es nichts zu geben."

Uta Baier hegt Zweifel an der gestern gemeldeten Entdeckung eines Selbstporträt des Malers Robert Campin, das sich angeblich im winzigen Ring einer porträtierten Frau spiegeln soll: "Die Frankfurter Allgemeine spricht gar von einer 'kunsthistorischen Sensation'. Doch die Wissenschaft lächelt nur: 'Sehen sie lange genug in die Wolken und sie sehen Gesichter', sagt Jochen Sander, Kunsthistoriker und stellvertretender Museumsdirektor des Städel Museums in Frankfurt am Main und Spezialist für nordeuropäische Malerei."

Matthias Heine kündigt für die nächste Theatersaison viel Hamlet an und ein wenig "risikoloses Star-Theater-Shopping". Sven Felix Kellerhoff begutachtet Stefan Austs zum anstehenden Filmstart überarbeitetes Buch zum "Baader-Meinhof-Komplex". Eckhard Fuhr meldet neue Debattenanläufe in Sachen Humboldtforum.

Auf der Kinoseite geht es um Andreas Dresens "Wolke 9". Christoph Klimke schwärmt vom Film: "Wolke 9" ist nicht allein ein Film über Sex im Alter, der wie selbstverständlich ohne falsche Scham gezeigt wird. Der Aufschwung auf Wolke 9, die vielleicht höher ist als der siebte Himmel, fällt schwerer, je älter man wird, und der Absturz muss umso schmerzhafter sein." Und Regisseur Dresen selbst spricht im Interview mit Hanns-Georg Rodek über Vorbilder und Dreharbeiten.

FR, 04.09.2008

Im Gespräch mit Sebastian Moll erklärt der in New Orleans lebende Autor Tom Piazza, warum die Stadt auch das jüngste Unwetter überleben wird: "Wer mit dem besonderen Lebensgefühl hier aufgewachsen ist, der kann nicht einfach irgendwoanders hin ziehen. Albuquerque funktioniert für jemanden aus New Orleans einfach nicht. Deshalb kommen die Leute zu Zehntausenden zurück und bauen ihre Häuser wieder auf, auch wenn sie dabei gegen extreme Widerstände kämpfen müssen."

Weitere Artikel: Johannes Dieterich informiert über die Afrika-Initiative des Goethe-Instituts vor, die in der Eröffnung zahlreicher Filialen in den Staaten südlich der Sahara besteht. Hans-Jürgen Linke stellt das Frankfurter Opernstudio vor, das sich der Talentförderung verschrieben hat. In einer Times Mager erklärt Ina Hartwig, wie sich die Triebschicksale von Catherine Millet und Ehemann zu denen der Helden aus Choderlos de Laclos' Roman "Die gefährlichen Liebschaften" verhalten.

Besprochen werden die Albertina-Ausstellung "Van Gogh - Gezeichnete Bilder", in der Arno Widmann Schritt für Schritt nachvollzogen hat, wie van Gogh der wurde, der er dann war; außerdem: die Matthäuspassion-Choreografie "pitie! Erbarme dich!" von Alain Platel und Les Ballets C de la B, Andreas Dresens Film "Wolke 9", Timur Mekmambetovs Hollywood-Debüt "Wanted" und Markus Orths' Roman "Das Zimmermädchen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 04.09.2008

Joachim Güntner erklärt, wie durch Digitalisierung und Print on Demand unsere literarische Überlieferung ihren selektiven Charakter verliert. Ob durch große Digitalisierungs-Vorhaben wie von Google oder kleine Nischenprojekte wie eine Edition fast vergessener Autoren durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung: Das Text-Universum wuchere in mehrere Richtungen. Im konservatorischen Bestreben der Gegenwart walte ein angenehm undoktrinärer Geist - kein höherer politischer Auftrag, keine volkspädagogischen Absichten mehr: "Unsere Vergangenheitsseligkeit ist kulinarisch, sentimentalisch, bisweilen ästhetisch und intellektuell ambitioniert, vor allem aber pluralistisch und individualistisch. Zugespitzt gesagt: Es gibt keine Erben mehr, allenfalls Nachlassverwalter."

Weitere Artikel: Den achtzigsten Geburtstag des Wiener Künstlers Alfred Hrdlicka feiert die Stadt mit zwei Ausstellungen: Christian Lenz hat sich im Wiener Künstlerhaus und auf dem Albertinaplatz umgesehen.

Auf der Film-Seite finden sich zwei Besprechungen: Ueli Bernays kann sich nicht wirklich begeistern für Stephen Walkers Dokumentarfilm über das Rentner-Rock-Ensemble "Young@Heart", und Alexandra Stäheli sieht in Cedric Klapischs Stadtporträt "Paris" gelegentlich das Klischee durchscheinen.

Etwas weniger prominent als in Deutschland wird Günter Grass´ Autobiografie "Die Box" besprochen, außerdem Bernward Gesangs Buch über die "Perfektionierung des Menschen" und der neue Leonardo-Padura-Krimi "Der Nebel von gestern" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 04.09.2008

Eine neue Epoche des Computerspiel-Zeitalters sieht Oliver Jungen mit dem Marktstart von "Spore" gekommen. Hier erklärt er, warum: "Was mit der Software 'Spore' nach sieben Jahren Entwicklungszeit heute in Deutschland auf den Markt kommt..., hat es noch nicht gegeben: Es handelt sich nicht nur um das aufwendigste und komplexeste Computerspiel aller Zeiten, sondern um den Einstieg in eine neue Spielegeneration. Der Anwender wird dabei zum Gestalter, indem er über leicht bedienbare 'Designer' - das Herzstück von 'Spore' - die wichtigsten Elemente des Spiels selbst erschafft und über das Internet allen anderen Spielern zur Verfügung stellt, ja: in darwinistische Schaukämpfe schickt; Kreativität wörtlich verstanden."

Weitere Artikel: Aus Venedig berichtet Dirk Schümer, dass auf dem Markusplatz zur Sanierungsfinanzierung nun riesige Werbebildschirme hochgezogen werden, während sich gleichzeitig niemand über die Fertigstellung der neuen Canal-Grande-Brücke (Foto) von Calatrava freut. Gina Thomas meldet, dass im Herbst ein neues Stück von Elfriede Jelinek zu den Massenerschießungen im österreichischen Rechnitz an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt wird. Jordan Mejias hat den Regisseur Robert Wilson in seinem Watermill Center auf Long Island besucht. In der Glosse macht sich Patrick Bahners so seine Gedanken zu einem Auftritt des Mainzer Stadtschreibers Michael Kleeberg mit Kardinal Karl Lehmann. Der Schriftsteller Dieter Wellershoff erzählt, wie er sich in Hans-Ulrich Wehlers "Deutscher Gesellschaftsgeschichte" wiederfindet.

Der American-Academy-Chef Gary Smith schlägt in der Reihe zur Zukunft Bayreuths vor, übers alljährliche Sommerfestival hinaus auch zum Beispiel im Herbst Wagner-Inszenierungen ins Festspielhaus einzuladen. Andreas Kilb fragt sich, ob nicht im Werk des flämischen Meister Robert Campin noch mehr als nur das eine Selbstporträt (vgl. den gestrigen Artikel) aufzufinden sein sollte. Niklas Maak porträtiert Richard Armstrong, den designierten neuen Direktor der Salomon R. Guggenheim Foundation. Andreas Platthaus gratuliert dem Buchgestalter Franz Greno zum Sechzigsten. Knapp gemeldet wird, dass die einstweilige Verfügung gegen Henryk M. Broder im Schmähkritik-Prozess (mehr hier) bestätigt wurde: Broder darf Hecht-Galinski künftig nur antisemitisch nennen, wenn er dies auch belegt.

Auf der Forschung-und-Lehre-Seite erklärt der auch in Tiflis lehrende Soziologe Tilman Allert mit wissenschaftlicher Präzision, dass Georgien als eine Gesellschaft, in der der öffentliche Raum mit Misstrauen besetzt ist, noch nicht in der Moderne angekommen ist: "Gastfreundlich, lebenszugewandt, musikalisch und friedliebend - so die gängigen Klischees -, dahinter verbirgt sich ein Rationalitätsdefizit der Binnenordnung, das in seinen dramatischen Konsequenzen nun auf die Weltordnung ausgreift."

Auf der Kinoseite sichtet Andreas Platthaus sehr kritisch die Filme des diesjährigen Fantasy Filmfests (Website). Kaum freundlicher äußert sich Dirk Schümer insbesondere zu den italienischen Filmen beim Festival von Venedig. Andreas Kilb kommentiert knapp Quentin Tarantinos Besetzungsentscheidungen - Krueger, Schweiger, Waltz - für die Deutschen-Darsteller seines nächsten Films "Inglorious Bastards". Im Wirtschaftsteil ist zu erfahren, dass Hollywood gerade ein mehr oder weniger rekordverdächtiges Jahr hat.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Werken des Malers Jakob Philipp Hackert in Weimar, Konzerte mit Werken von Luigi Nono und Frederic Chopin beim Luzern-Festival, und Bücher, darunter Wilfried N'Sondes Roman "Das Herz der Leopardenkinder" und auf der Kinoseite ein Gesprächsband mit dem Regisseur Michael Haneke (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 04.09.2008

Einen "Kampf gegen die Vernunft" diagnostiziert Thomas Steinfeld in einer Philippika gegen die dröhnenden "Lautsprecher der Zeitgeschichte" - gemeint sind neben Götz Aly und Henryk M. Broder vor allem aber Bernard-Henri Levy und Andre Glucksmann mit ihrem Aufruf für Georgien. "Er zielt auf ein Handelsembargo, auf Abbruch der diplomatischen Beziehungen, auf Krieg - auf bedingungsloses Niedermachen. Dass ihre Vorschläge bis auf weiteres kein Gehör in der Politik finden werden, wissen die beiden auch. Die absehbare Vergeblichkeit ihres Auftritts stört sie aber ebenso wenig wie die Frage, warum georgische Truppen Südossetien besetzten, worauf das russische Militär seinerseits einmarschierte. Nein, die Vergeblichkeit erlaubt ihnen sogar, alle Nachdenklichen und Vorsichtigen implizit in Feiglinge und Schlafmützen zu verwandeln. "

Weiteres: In einem Interview gibt der "Sims"-Entwickler Will Wright Auskunft über sein neuestes Computerspiel Spore, in dem er die Evolution zum Thema gemacht hat. Als Minimalistin porträtiert Peter Laudenbach die Bühnenbildnerin Katrin Brack, die vor allem in Hamburg und Berlin arbeitet. Henning Klüver informiert über Proteste, die eine unvollständig restaurierte Fassung von Pier Paolo Pasolinis Film "La rabbia di Pasolini" von 1963 in Italien auslöst. Kia Vahland berichtet über einen Archäologen, der auf einem Bild des flämischen Künstlers Robert Campin (um 1375 bis 1444) ein verstecktes Selbstporträt entdeckt haben will. Fritz Göttler sah in Venedig unter anderem Filme von Agnes Varda und Mamoru Oshii. Jörg Häntzschel informiert über das aktuelle Stellenkarussell in der New Yorker Museumsszene. Gottfried Knapp würdigt in einem Nachruf die Kunstkritikerin Doris Schmidt und meldet außerdem, dass die Hamburger Elbphilharmonie viel mehr kosten wird als geplant.

Besprechungen gibt es zu einem Konzert des Simon Bolivar Jugendorchesters unter Gustavo Dudamel in Berlin, zur Comic-Verfilmung "Wanted" mit Angelina Jolie und Morgan Freeman, flankiert von einem Interview mit dessen Regisseur Timur Bekmambetov, und zu Büchern, darunter der Abschluss der Herr-Lehmann-Trilogie "Der kleine Bruder" von Sven Regener und eine Einführung in die Tierphilosophie (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Zeit, 04.09.2008

Im Streit zwischen Henryk M. Broder und Evelyn Hecht-Galinski äußert Jens Jessen Verständnis für beide Seiten. Da er eh nicht glaubt, dass die Angelegenheit vor ein Gericht gehört, macht er ganz unbeeindruckt von dem für gestern zu erwartenden Urteilstermin seinen eigenen Vorschlag zur Güte: "Antisemitisch, um zu einer klassisch nüchternen Definition zurückzukehren, sind alle Aussagen über Juden, die weder bestätigt noch widerlegt werden können. Das ist ein Kriterium, an dem sich auch der Antisemitismusvorwurf messen lassen kann."

Jessens Angriff auf die "traurigen Streber" versuchen heute Manuel Hartung und Cosima Schmitt mit einer Verteidigung der Jungen von heute abzuwehren: "Nicht mehr nach Utopien streben sie, sondern nach Zielen, die sie unmittelbar umsetzen können: in der eigenen Familie, der eigenen Nachbarschaft, der eigenen Facebook-Gruppe. Effizienten Idealismus könnte man diese Haltung nennen."

Weiteres: Evelyn Finger preist Andreas Dresens "unglaubliche, frivole, befreiende und großartig traurige Altersromanze "Wolke 9". Zu lesen ist ein Auszug aus Hanno Rauterbergs Buch "Worauf wir bauen". Besprochen werden Michael Thalheimers "Was Ihr wollt" am Deutschen Theater in Berlin, die CD "Leucocyte" des auf mysteroöse Weise ums Lebens gekommenen Jazzpianisten Esbjörn Svensson sowie PeterLichts Platte "Melancholie und Gesellschaft".

"Deutschland ist schwieriges Terrain für intellektuelle Frauen", seufzt Susanne Mayer im Literaturteil in ihrer Hymne auf neue Bücher der glamourösen Denkerinnen Joan Didion und Susan Sontag: "Zum Beispiel Gisela von Wysocki, Doktor der Philosophie, Autorin von Hörspielen und eines Buches mit klugen Aufbruchsfanatsien, der Titel: 'Fröste der Freiheit', lange nichts gelesen von Gisela von Wysocki. Da war Marion Dönhoff, Publizistin, Herausgeberin der Zeit, schon tot. Da ist Gesine Schwan, die Präsidentin einer Hochschule war, heute Kandidatin mit fast keiner Aussicht für die Bundespräsidentschaft, ihr schlägt ein Sturm der Empörung entgegen, er wühlt sich hoch, bis zum Orkan, zu viel der Locken!, brüllt es, zu tief der Ausschnitt! Zu hochhackig die Schuhe! Und das Lachen! Also man hört ja, die soll total anstrengend sein."