Heute in den Feuilletons

Echt schwieriges Zeug, Barock und so

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.08.2008. In der Welt plädiert Adam Krzeminski aus polnischer Sicht für Günter Grass. Der FR gefällt es aber nicht, wie Grass seine Kinder zum Selberlebensrapport bestellte. Die taz porträtiert den Schriftsteller Giwi Margwelaschwili. Die FAZ ist enttäuscht: Die sinookzidentale Verständigung ist durch Olympia nicht besser geworden. Welt und SZ machen gerontologische Bedenken gegen die Nike-Mortier-Lösung für Bayreuth geltend.

Berliner Zeitung, 26.08.2008

Die Bewerbung in letzter Minute des neuen Gespanns Nike Wagner und Gerard Mortier zeigt Wolfgang Fuhrmann, dass in Bayreuth eigentlich noch alles offen sein müsste: "Wie seit April bekannt ist, hat Wagner satzungswidrig versucht, den Stiftungsrat auf eine Nachfolgekonstellation einzuschwören, an der seine Tochter Katharina beteiligt ist; angeblich sollen Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) und der bayerische Kulturminister Thomas Goppel (CSU) ihm das zugesichert haben. Das wurde bestritten, und nun wird sich zeigen, ob hier gemauschelt wurde oder nicht, denn eine Bewerbung vom Kaliber Nike/Mortier lässt sich nicht einfach vom Tisch wischen. Sollte es aber erneut so kommen, dass Wolfgang Wagner ihm nicht genehme Kandidaten torpediert, wird man sich von Seiten des Stiftungsrats, um das Gesicht nicht völlig zu verlieren, endlich einmal darauf einlassen müssen, die Geschäftsfähigkeit des 'Festspielunternehmers' (wie es offiziell heißt) zu prüfen."

FR, 26.08.2008

Auf der Medienseite schwärmt Stephan Loichinger vom Hamburger Internetradio Byte.fm, das eine Reihe versierter Musikjournalisten mit viel "Idealismus und einem Stück weit Wahnsinn" betreiben: "Hier laufen Spezialsendungen über amphetaminbefeuerte Musik, kubanischen Ye-Ye oder Neuerscheinungen auf Independent-Labels auch vormittags um elf oder nachmittags um fünf, ununterbrochen von Werbung und Nachrichten, journalistisch kompetent moderiert."

Martin Lüdke ist enttäuscht vom neuen Günter Grass: Die Konstruktion dieser Autobiografie, in der Grass seine acht Kinder von seinem Leben erzählen lässt, geht nicht auf, meint Lüdke. "Grass nimmt seine Kinder nicht nur in die Pflicht, er nimmt ihnen auch alle Individualität. Das klug konzipierte Verfahren der 'Box' verläppert sich auf diese Wiese in belanglosen Einzelheiten. Das Ich, um das es hier geht, der 'Vater verschwimmt, statt sich in seinen Kindern zu reflektieren, wie in einem blinden Spiegel. Von einem Besuch in Telgte erfahren wir nur, dass sich da 'Dichter' treffen wollten, 'wo jetzt der leere Parkplatz... Und die Dichter sollen sich aus ihren Büchern vorgelesen haben. Echt schwieriges Zeug, Barock und so...'"

Weiteres: Hans-Jürgen Linke ist auf einmal gar nicht mehr sicher, ob er sich für Alt-Bayreuth wünschen sollte, mit Nike Wagner und Gerard Mortier ein moderneres Festival zu werden: "Es gibt gute Gründe dafür, sich ein Ende all dieses Unsinns herbei zu wünschen, aber sicher keinen Konsens darüber. Dieser Unsinn ist Kulturgut, und das kann nie nur etwas Vernünftiges sein." Christian Thomas berichtet, dass bei den Ausgrabungen in Troja ein weiteres Stadttor entdeckt wurde, wodurch das "Bild einer bronzezeitlichen Handelsmetropole und Residenzstadt beglaubigt" werde.

Besprochen werden das Album "Broken Hymns, Limbs and Skin" der New Yorker Band O'Death, Johan Simons Bühnenadaption von Louis Paul Boons Roman Vergessene Straße" für die Ruhrtiennale und Bücher, darunter Oskar Bätschmanns große Monografie zu Giovanni Bellini und Judith Kuckarts Roman "Die Verdächtige" (mehr ab 14 Uhr in der Bücherschau des Tages).

Welt, 26.08.2008

Adam Krzeminski legt ein ganzseitiges Plädoyer für Grass aus polnischer Sicht vor und erinnert unter anderem an den Moment der SS-Debatte, als die Polen Grass verteidigten: "Ein beispielloser Vorgang. Zum ersten Mal beeinflussten die Polen so aktiv eine innerdeutsche Debatte. Denn nach dem überwältigenden Votum der Polen ging auch den deutschen Widersachern von Grass die Munition aus. Nicht, dass die alten privaten Animositäten unter den Autoren und Literaturkritikern beigelegt worden wären. Sie sind aber für die Bewertung des Lebenswerkes des Danziger Literaturnobelpreisträgers unerheblich."

Weitere Artikel: Manuel Brug greift tief in den Köcher mit Giftpfeilen, um gegen eine Umwandlung des Grünen Hügels in ein "Seniorenheim" unter Nike Wagner und Gerard Mortier zu schießen (und spart dabei auch nicht mit Attacken gegen die Kolleginnen aus der FAZ). Uwe Wittstock berichtet über den Rechtsstreit zwischen Henryk Broder und Evelyn Hecht-Galinksi (mehr hier). Hendrik Werner liest eine Liste mit den skurrilsten Buchtiteln (unser Favorit: "Sexualmoralische Verstehensbedingungen - Gleichgeschlechtliche PartnerInnenschaften im Diskurs"). Der Schriftsteller Rolf Schneider erinnert sich daran, wie er in einem Hotel an der DDR-Ostseeküste den Tag der Niederschlagung des Prager Frühlings erlebte. Und Hannes Stein berichtet über die Gentrifizierung des New Yorker Stadtteils Harlem.

Besprochen werden ein Album der Band Slipknot und zwei Ausstellungen über Kunst und Kultur der Völkerwanderungszeit in Bonn.

TAZ, 26.08.2008

Deniz Yüzel porträtiert den Schriftsteller Giwi Margwelaschwili, der im Berliner Stadtteil Wilmersdorf geboren wurde, dort Heidegger und den Jazz entdeckte, dann nach Georgien abgeschoben wurde und jetzt im Wedding wohnt. Christian Broecking animiert zum Besuch des Jazzfests im schönen Siena. Sonja Vogel tourt am Tag der offenen Tür durchs Finanzamt. In der zweiten taz spricht Robert Schmike anlässlich des dreißigjährigen All-Jubiläums von Sigmund Jähn mit dem Wiener Autor Walter Famler, der mit der Bewegung Kosmos unter anderem "das Lächeln des Juri Gagarin weltweit und massenhaft in die Antlitze der Frauen zaubern" will.

Besprochen werden eine Schau mit den Originalen von Max Ernsts Collage-Roman "Une semaine de bonte" im Max-Ernst-Museum Brühl und das Album "Seestern" der türkischen Sängerin Sezen Aksu.

Und Tom.

NZZ, 26.08.2008

Auch Angela Schader äußert sich jetzt zur Debatte um Sherry Jones' Roman "The Jewel of Medina" über Mohammeds Ehefrau Aischa. Zur Vorgeschichte: Random House hatte das Buch ursprünglich verlegen wollen, sich aber nach Einwänden der Islamwissenschafterin Denise Spellberg zurückgezogen, die das Buch anti-islamisch fand und vor schlimmen Folgen wie bei den dänischen Karikaturen warnte. Schader meint nun: "Der späte und unvermittelte Bruch mit der Autorin - wobei der zuständige Ansprechpartner bei Random House nachher nicht einmal mehr den Namen ihrer Agentin kennen wollte - wirft kein sonderlich gutes Licht auf das Unternehmen; ungleich klüger und sympathischer mutet daneben Sherry Jones' eigene Initiative an, das direkte Gespräch mit muslimischen Kreisen zu suchen." (Den Prolog des Romans hat Jones ins Netz gestellt.)

Weitere Artikel: Robert Jütte besucht das ehemalige Pestspital auf der Insel Lazzaretto Vecchio bei Venedig. Gemeldet wird die Bayreuth-Bewerbung von Nike Wagner und Gerard Mortier.

Besprochen werden eine Ausstellung über Joan Miro in Madrid, Konzerte des Mahler Chamber Orchestras beim Lucerne Festival und Bücher, darunter Norbert Gstreins Roman "Die Winter im Süden" und Mario Calabresis Buch "Der blaue Cinquecento" (mehr ab 14 Uhr in der Bücherschau des Tages).

FAZ, 26.08.2008

Mark Siemons resümiert kritisch die west-östliche Olympia-Begegnung: "Jetzt sind sich die Welten in Peking so nahe gekommen wie nie zuvor, und was ist das Ergebnis? Sie sind weiter denn je voneinander entfernt. In China sind die Leute stolz darauf, dass ihr Land solch brillante Spiele organisieren konnte, dass es so viele Rekorde gab, dass die eigene Mannschaft so gut abgeschnitten hat. Sie sind überzeugt davon, dass der Westen jetzt gar nicht mehr anders kann, als China endlich so anzuerkennen, wie es wirklich ist. Aber für viele Kommentatoren im Westen ist mit ebendiesen Spielen ein historischer Höchststand an Blendung, Künstlichkeit und Manipulation erreicht, von den Inszenierungen der chinesischen Regierung bis zu den vermuteten Tricks der Pharmaindustrie..."

Weitere Artikel: Tobias Rüther präsentiert Christian Krachts neuen Roman "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" und beklagt bitterlich das Fehlen des Buchs auf der Buchpreis-Longlist. Das Werk spielt in der Gegenwart eines Schweizerischen Sowjetreichs und wird ab heute in der FAZ vorabgedruckt. Gina Thomas berichtet vom Theaterfestival in Edinburgh. Am Rande liest Julia Spinola im Kaffeesatz nichts aufregend Neues in Sachen Bayreuth. Aus Spanien informiert Paul Ingendaay über neue Bademodentrends: die Männer tragen Hibiskus. Catherine Grim porträtiert Manfred Niekisch, den neuen Direktor des Frankfurter Zoos. Tilman Spreckelsen gratuliert der Wimmelbuch-Schöpferin Rotraut Susanne Berner zum Sechzigsten. Wolfgang Sandner schreibt zum Tod des Komponisten Josef Tal.

Auf der Forschung-und-Lehre-Seite stellt Gerald Wagner eine Studie vor, die zum Ergebnis kommt, dass Arbeiterkinder nicht so sehr der Kosten wegen, sondern aufgrund mangelnden Selbstvertrauens viel seltener studieren als Akademikerkinder.

Besprochen werden eine CD mit Alfred Schnittkes "Klavierkonzerten Nr. 1-3", das von Joe Henry kuratierte Konzert "Century of Songs" zur Eröffnung der Ruhrtriennale, Konzerte aus dem "Kontinent Sciarrino"-Programm in Salzburg, die durch Russland wandernde Schau russischer Gegenwartskunst "Die Zukunft hängt von dir ab" und Claude Simons Literatur und Poetologie verschränkender Text "Der blinde Orion" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 26.08.2008

Sind Gerard Mortier und Nike Wagner wirklich das richtige Paar für Bayreuth? Reinhard J. Brembeck bezweifelt das: "Mortier wird demnächst 65 Jahre alt, Nike Wagner ist 63 - beide nähern sich also rasant dem Rentenalter. Aber spricht das gegen sie? Wohl kaum. Problematischer ist, dass beide mittlerweile kaum noch für Aufbruch und neue Ideen stehen, sondern Vertreter einer durch Konzepte vermittelten Kunstsicht sind, wie sie in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ihren Höhepunkt hatte. Diese Art von Kunstmanagement trifft nicht mehr den Nerv der Zeit."

Weitere Artikel: Jörg Häntzschel ist entzückt über die Pop- und Schauspielprominenz, die ein Parteitag der Demokraten in den USA mobilisiert. Johan Schloemann mokiert sich über Wahlsprüche der CSU. Gottfried Knapp stellt Meisterbauten der Backsteingotik in Mecklenburg-Vorpommern vor. Die Selbstzensurvorwürfe gegen Randomhouse wegen Sherry Jones' Buch über Mohammeds Ehefrau Aischa werden immer lauter, meldet Jhl. Alexander Menden war dabei, als Sean Connery sein Buch "Being a Scot" in Edinburgh vorstellte. Auf der Medienseite besucht Stefan Fischer Klaus Buhlert und Manfred Zapatka, die im im Deutschlandfunk die 24 Gesänge der "Ilias" als Hörspiel aufnehmen.

Besprochen werden Günter Grass' Buch "Die Box" ("Hier jedenfalls, in 'Die Box' erreicht der Erzähler den Zenith der Zustimmung zur Welt und sich selbst", schreibt Lothar Müller, der für diese Haltung nicht viel übrig hat), Matthew Bournes Choreografie "Dorian Gray" in Edinburgh, eine Ausstellung der Sammlung Christoph Müller im Berliner Kupferstichkabinett, eine Aufführung von Pasquinis Agnes-Oratorium bei den Innsbrucker Festwochen und Bücher, darunter Rainer Moritz' Erinnerungen "Ich Wirtschaftswunderkind" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).