Heute in den Feuilletons

52 gestaffelte Wendeltreppen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.08.2008. Peter Singers Begriff der "Tierrechte" ist inhuman, meint die Welt. Die FR porträtiert den Treppenforscher Friedrich Mielke. In der NZZ klagt der somalische Autor Nuruddin Farah, dass sein Land vom Westen im Stich gelassen wird. Die SZ findet Michel Houellebecqs ersten Film ganz gut. Isaac Hayes ist tot: Wir bringen ein Video.

Welt, 11.08.2008

"Inhuman" nennt Michael Miersch den Begriff der "Tierrechte", den der Philosoph Peter Singer (auch neulich hier in der Welt) und mit ihm die militante Organisation Peta ins Feld führen: "Die konkreten Folgen einer Verwirklichung seiner Utopie lässt Singer im Ungefähren. Nicht ohne Grund, denn sie würden das Leben der Menschen drastisch erschweren und verschlechtern. Unter anderem wäre ein Schutz gegen Schädlinge, die Ernten vernichten und Krankheiten übertragen, kaum noch möglich. Und der medizinische Fortschritt geriete ins Stocken. Peta-Gründerin Ingrid Newkirk betonte ausdrücklich: 'Auch wenn durch Tierversuche eine Therapie für Aids gefunden würde, wären wir dagegen.'"

Im Feuilleton kommentiert Manuel Brug das nun bekanntgewordene Bayreuth-Konzept der Wagner-Schwestern: "Ja nicht dran rühren. Alles beim Alten lassen. Ein wenig neu und vor allem schick verpacken." Wieland Freund porträtiert die amerikanische Erfolgsautorin Stephenie Meyer. Hendrik Werner kommentiert den Misserfolg der mit großem Getöse gestarteten Suchmaschine Cuil. Peter Claus berichtet vom Filmfestival in Locarno. Auf der DVD-Seite geht's unter anderem um eine Kassette mit kleinen Krimis, die Hitchcock fürs Fernsehen drehte. Und Peter Beddies unterhält sich mit Beatrice Dalle über ihre Rolle in dem Horrorfilm "Inside". Stefan Tolksdorf besucht die vom neuen Direktor Sean Rainbird neu gehängte Sammlung der Stuttgarter Staatsgalerie.

FR, 11.08.2008

Tobias Wenzel stellt den Denkmalpfleger Friedrich Mielke vor, der sich der Erforschung der Treppe verschrieben hat. Der Mann ist beinamputiert, aber passioniert. Sein Lieblingswerk sind die 52 gestaffelten Wendeltreppen im Turm des Straßburger Münsters: "Etwas Grandioseres habe ich nirgendwo angetroffen. Das ist ein Wunderwerk der Treppenbaukunst!".

Weiteres: Arno Widmann besichtigt das Wiener Parlament. In Times mager sinniert Hans-Jürgen Linke über die nicht ganz neuen Aids-Plakate mit Früchten. Inge Günther schreibt den Nachruf auf den palästinensischen Nationaldichter Mahmud Darwisch. Besprochen werden Tirdad Zolghadrs Roman über Teherans Boheme "Softcore" und zwei Bücher über antike Frauenbilder (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Medienseite berichtet Eva Schweitzer, dass Randhom House den Roman "Jewel of Medina" über das Leben der Aisha, die im Alter von sechs Jahren mit Mohammed verheiratet wurde, zurückgezogen hat: "Autorin von 'Jewel of Medina' ist die Journalistin Sherry Jones (hier ihr Blog zur Affäre). Treibende Kraft hinter dem Rücktritt vom Vertrag aber waren gar keine Moslems, sondern eine Professorin für Islamische Geschichte in Texas, Denise Spellberg. Der Verlag hatte sie um ein 'Blurb', ein paar freundliche Zeilen gebeten. Aber Spellberg, die selbst ein Sachbuch über Aisha geschrieben hat, fand den Roman 'historisch falsch, hässlich und dumm'; Jones habe die 'heilige Geschichte' in einen Soft-Porno verwandelt." (Mehr dazu hier)

Gemeldet wird der Tod der Soul-Legende Isaac Hayes. Hier sein sensationeller Auftritt beim Wattstax Konzert von 1972:

NZZ, 11.08.2008

Im Interview mit Irene Binal spricht der somalische Schriftsteller Nuruddin Farah über die Isolation seines Heimatlandes: "Ich mache die Europäer verantwortlich dafür, dass sie nichts zurückließen, als sie gegangen sind. Sogar bei einer Scheidung würde man meinen, dass derjenige, der mehr Geld verdient, dem anderen etwas Geld lässt. Somalia wird vernachlässigt, denn die internationale Gemeinschaft ist dort nicht vertreten. Sogar das Rote Kreuz verschwindet, sobald die Kämpfe näher rücken. Man hört nie davon, dass das Rote Kreuz den Irak oder Afghanistan verlässt, aber wenn es um Afrika geht, verschwindet es sofort, wenn es Kämpfe gibt. Das ist eine Frage der Wahrnehmung. Wenn man von einem Land glaubt, es sei das gefährlichste Land der Welt, wird man dort nicht hingehen."

Die Architektin Ariane Isabelle Komeda schreibt über das koloniale deutsche Bauerbe in Namibia: "Den Versuch, dieses abgeschiedene Land mit westlicher Zivilisation zu bereichern, überlebten die teutonischen Bauwerke. Mit der Kulissenhaftigkeit der Goldgräberstädte des Wilden Westen hat diese solide Kaiserarchitektur nicht mehr gemeinsam als den einsam pfeifenden Wüstenwind. Diese Architektur kennt keine Adaption, sie überlebt als reiner Kulturtransfer unter minimalen, klimatisch bedingten Anpassungen."

Weitere Artikel: Sieglinde Geisel fürchtet, das Spreeufer könne zu einer der hässlichsten Gegenden Berlins werden, sollte der Standort Mediaspree gebaut werden. Stephan Milich schreibt zum Tod des palästinensischen Lyrikers Mahmud Darwish. Sabine B. Vogel bespricht eine Ausstellung im Museum Belvedere im Wien über die Anfangsjahre des phantastischen Realismus. NZZ-Online meldet den Tod von Isaac Hayes.

TAZ, 11.08.2008

Daniel Bax schreibt zum Tod des palästinensische Lyriker Mahmud Darwisch. Besprochen werden die große Hadrian-Ausstellung im British Museum, die Ausstellung "Das Gelände" (Künstler setzen sich mit dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände auseinander) in der Kunsthalle Nürnberg und Bücher, darunter ein Bilderbuch zum Bildhauer Thorsten Brinkmann (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

FAZ, 11.08.2008

Mark Siemons versucht im Aufmacher eine Exegese der vom Zeremonienmeister Zhang Yimou arrangierten Eröffnungsfeierlichkeiten bei den Olympischen Spielen. Der Islamwissenschaftler Stefan Weidner schreibt zum Tod des palästinensischen Dichters Mahmud Darwisch. Jürg Altwegg kommentiert in der Leitglosse belgische Umfragen, die zeigen, dass sich über die Hälfte der Wallonen einen Anschluss an Frankreich vorstellen könnten. Der Rechtsprofessor Ulrich K. Preuß reiht sich ein in den auffälligen Chor der Stimmen, die ausgerechnet im FAZ-Feuilleton eine Bundespräsidentenwahl Wahl Gesine Schwans mit den Stimmen der PDS befürworten ("eine Verletzung der soziomoralischen Grundlagen unseres politischen Systems wäre dies nicht").

Für die letzte Seite besucht Arnold Bartetzky die Ruinen der einstigen Industriestadt Forst am heute polnischen Neiße-Ufer, die zum Tummelplatz für Kriegsnostalgiker geworden sind. Dirk Schümer schreibt ein Profil des Präsidenten des "Rats für die Kulturgüter" Italiens, Salvatore Settis, der sich gegen die drastischen Einschnitte im Kulturetat der Regierung Berlusconi wehren muss. Und Andreas Platthaus berichtet, dass im Katalog der Ausstellung "Samurai" in Speyer fleißig abgekupfert worden sein soll.

Besprochen werden ein Auftritt der Band The Killers in Köln (die Eric Pfeil als "clever, schamlos und mit deutlichem Willen zum Weltruhm" charakterisiert), eine Ausstellung über den Architekten Simon Ungers in Frankfurt, Joachim Lafosses Film "Nue propriete" mit Isabelle Huppert und Sachbücher, darunter Stephan Wackwitz' Reiseessayband "Osterweiterung" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 11.08.2008

Fritz Göttler sah in Locarno Michel Houellebecqs Regiedebüt "Die Möglichkeit einer Insel" und scheint ganz angetan: "Benoit Magimel spielt einen jungen Mann, der dem Lehrer der neuen Sekte assistiert und dann von seiner Technik des ewigen Lebens profitiert. Man braucht keine Frau mehr dafür, keine Mutter. Von Generation zu Generation lässt der neue Mensch sich nun fortklonen, wird immer teigiger und unförmiger, manchmal gleicht Magimel für Momente seinem Schöpfer Houellebecq selbst. Und die Welt wird schließlich nach der großen Katastrophe ebenso konturlos wie die Protagonisten, die sie bevölkern. Es ist sicher kein Skandal, den dieser Film liefert, er hat nichts mehr von der furiosen Wir-sind-alle-Arschlöcher-Attitüde Houellebecqs. Sie haben es weichgekocht - das ist der alte Vorwurf gegenüber Literaturverfilmungen. Aber Houellebecq hat nie kaschiert, dass er in der Welt der technischen Reproduzierbarkeit schreibt, dass er die Oberflächen liebt und dass Oberflächlichkeit kein Schimpfwort für ihn ist."

Weitere Artikel: Im Aufmacher berichtet Marc Deckert vom Wandel in der Musikindustrie, der auch die Produzenten und Tonstudios erfasst hat. Niklas Hofmann schickt Nachrichten aus dem Netz. Eva-Elisabeth Fischer berichtet über das Festival Impulstanz in Wien. Nicht der Einzelne mit seinem bisschen Energie sparen kann die Umwelt retten, sondern nur institutionalisierte Politik, meint der Kulturanthropologe Oliver Geden. Jörg Häntzschel erzählt von einer Kampagne amerikanischer Comickünstler, die sich dafür einsetzen, dass die Zeichnerin Dina Babbitt die Bilder zurückbekommt, die sie in Auschwitz für Josef Mengele gemalt hatte (mehr hier, hier spricht sie darüber auf youtube). Thomas Speckmann liest die Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, deren neue Ausgabe dem kubanischen Befreiungskrieg gegen Spanien gewidmet ist. Anke Sterneborg schreibt zum Tod des Komikers Bernie Mac, Thomas Avenarius zum Tod des palästinensischen Dichters Mahmud Darwisch.

Auf der Medienseite wundern sich zwei nur mit Kürzel zeichnende Autoren über die starke Ähnlichkeit des neuen Spiegel-Titels mit dem Titel der vorletzten Ausgabe von Atlantic.

Besprochen werden eine Puppenspiel-Posse von Sciarrino in Salzburg, eine Ausstellung mit politischen Fotomontagen von Heartfield und Marinus im Kölner Museum Ludwig, Musik-DVDs mit Arthur Rubinstein und Florence Foster Jenkins und Bücher, nämlich eine Studie von Bernd-Olaf Küppers über "Macht und Verantwortung der Wissenschaft" und Karen Russells Erzählband "Schlafanstalt für Traumgestörte" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).