Heute in den Feuilletons

So unbestreitbare Wahrhaftigkeit

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.08.2008. In der Welt beschreibt Gerd Koenen, wie ihn die Lektüre des "Archipel Gulag" veränderte. Auch für Viktor Jerofejew ist es vor allem der "Archipel Gulag", der Epoche machte. In der FAZ äußern sich unter anderem Ralph Dutli und Marcel Reich-Ranicki. Richard Wagner bezweifelt in der Tagespost, dass sich die deutsche Linke je mit Solschenizyn auseinandergesetzt hat. Die taz meldet außerdem: Das Geschäftsmodell Musik gegen Geld ist endgültig tot.

Welt, 05.08.2008

Solschenizyn ist Tagesthema. Gerd Koenen beschreibt, wie ihn die Lektüre des "Archipel Gulag" veränderte: "Dieser auf die Erzählungen und Erinnerungen von 227 Toten und Überlebenden gegründete, durch ein Netzwerk von Ex-Häftlingen und Helfern konspirativ gesammelte, verwahrte und kopierte Text war von einer so unbestreitbaren Wahrhaftigkeit, dass es schon spezifischer narzisstisch-ideologischer Imprägnierungen bedurfte, um sich dem zu entziehen. Dass es beim Autor dieser Zeilen, wie bei vielen bundesdeutschen Neuen Linken der Siebzigerjahre, noch eine Weile dauerte, bis er sich dieser Lektüre auszusetzen wagte, sei mit einer gewissen Beschämung vermerkt."

Auch für Viktor Jerofejew ist es vor allem der "Archipel Gulag", der Epoche machte: "Der 'Archipel Gulag' zerstörte den Eurokommunismus: Er trieb die letzten 'linken' Illusionen über eine 'leuchtende Zukunft' auseinander."

Außerdem erinnert im Solschenizyn-Dossier der Autor Rolf Schneider an die wesentlich weniger aufgeregte Rezeption in der DDR. Jens Hartmann erzählt die Biografie. Und Manfred Quiring sammelt russische Stimmen.

Im Feuilleton denkt Wolf Lepenies aus Anlass der gerade gegründeten Mittelmeermeerunion über die Bedeutung von Fernand Braudels großem Mittelmeerbuch für die Franzosen nach. Gernot Facius gratuliert dem Theologen Johannes Baptist Metz zum Achtzigsten. Hanns-Georg Rodek porträtiert den Schauspieler Jet Li als ersten Weltstar der Volksrepublik China. Und Hella Boschmann besucht den Neubau des großen Tadao Ando für das Clark Art Institute in Williamstown.

Besprochen werden Sciarrino-Konzerte in Salzburg und eine Man-Ray-Schau in Berlin.

TAZ, 05.08.2008

Schlechte Nachrichten für die Musikindustrie überbringt Thomas Winkler in tazzwei: das Geschäftsmodell Musik gegen Geld ist endgültig tot. Der Beweis: "Die britische Gema (Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte) ließ vom Marktforschungsunternehmen Big Champagne untersuchen, wie Kunden ein avantgardistisches Angebot von Radiohead annahmen: Die bekannte britische Band hatte ihr letztes Album 'In Rainbows' zuerst als Download auf der eigenen Website angeboten, und die Kunden konnten selbst bestimmen, ob überhaupt und wie viel sie zahlen wollten. Trotzdem, das ergab nun die Studie der MCPS-PRS, luden die meisten Interessenten 'In Rainbows' nicht umsonst auf der Radiohead-Seite herunter, sondern lieber illegal über Internettauschbörsen. ... Im Klartext: Radiohead verschenkten ihr Album, aber die Hörer klauten die Musik lieber weiter wie gewohnt zwei Mausklicks nebenan."

Weiteres: Für den Kulturteil schlendert Birgit Rieger durch die Kunst- und Galeristenszene Moskaus. Isolde Charim fragt sich anlässlich eines Experiments in Berlin, ob sie ein sujet suppose savoir ist. Auf den vorderen Seiten würdigt Barbara Kerneck den literarischen Solschenizyn, Klaus-Helge Donath kritisiert den politischen. Christian Semler (damals noch Vorsitzernder der KPD/AO) erinnert sich daran, wie "Der Archipel Gulag" Anfang der Siebziger "den Blick auch vieler Linker bei uns auf ein Universum der Ausbeutung und Unterdrückung" öffnete.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Porträts des malischen Fotografen Malick Sidibe im Centro Andaluz de Arte Contemporaneo in Sevilla, eine CD mit Tanzmusik von Tocotronic-Schlagzeuger Arne Zank und Leonardo Paduras Roman "Der Nebel von gestern" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR, 05.08.2008

Im Interview mit Julia Kospach erklärt die Sinologin Susanne Weigelin-Schwiedrzik, warum sie China die olympischen Spiele gönnt und nichts von zu viel Einmischung hält: "Die chinesische Bevölkerung, die übrigens in großen Teilen über ein stärker ausgeprägtes politisches Gespür verfügt, als man im Westen annehmen würde, lebt mehrheitlich mit dem politischen System, weil es derzeit dazu keine Alternative gibt. Sie hat Angst vor dem Chaos."

Weiteres: Zum Tod Alexander Solschenizyns schreibt Karl Grobe, dass er ein rückwärtsgewandter Utopist gewesen sei, ein Historiker: "Sein Leben in der Gegenwart hatte ihm das Sowjetregime mehrmals gestohlen." Auf der Medienseite stellt Jan Freitag die Zeitschrift Landlust vor.

Besprochen werden Salvatore Sciarrinos Musiktheaterstück "Luci mie traditrici" in Salzburg und die Aufführung der "Nibelungen" in Worms.

NZZ, 05.08.2008

"Solschenizyn hat deutlich gemacht, dass die Einkerkerung des Geistes auch im grausamsten Straflager nicht möglich war. Seine Freiheit ist die Freiheit des Wortes", schreibt Ulrich M. Schmid in seinem Nachruf auf den großen Dissidenten und Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn: "Allerdings wird man seiner artistischen Vielfalt nicht gerecht, wenn man ihn auf seine Rolle als Ankläger eines Terrorregimes reduziert. Die monumentale Darstellung des sowjetischen Straf- und Verfolgungssystems im 'Archipel Gulag' will nicht nur das Ausmaß des begangenen Unrechts dokumentieren, sondern bedeutet auch eine Rückbesinnung auf die erste Aufgabe von Kunst: den Menschen über seine Situation in der Welt aufzuklären. Der künstlerische Aspekt von Solschenizyns Werk ist allerdings in den Wirren der Tagesaktualität untergegangen. Die Präsentation des mehrbändigen 'Archipel Gulag' in westlichen Bücherregalen gehörte während des Kalten Kriegs nachgerade zum guten Ton, wirklich gelesen hatte den 'Gulag' aber kaum jemand."

Weiteres: Abgedruckt wird der kurze Text "In den Alpen" von Iwan Bunin. Joachim Güntner meldet, dass die älteste erhaltene Bibel nun im Internet frei zugänglich ist, der um das Jahr 360 entstandene "Codex Sinaiticus". Patricia Benecke berichtet vom Jugendtheaterfestival New Connections am National Theatre in London. Besprochen werden die Salzburger Gounod-Inszenierung "Romeo et Juliette" in Salzburg mit einer Nino Machaidze, die der Julia einen "Sopran von perlendem Glanz" verlieh, und Bücher, darunter Susan Sontags Essays "Zur gleichen Zeit"(siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 05.08.2008

Für die französischen Intellektuellen war Solschenizyn tatsächlich ein Schock, aber für die deutschen? In der Tagespost bezweifelt Richard Wagner, dass sich die deutsche Linke überhaupt je mit Solschenizyn auseinandergesetzt hat: "Der aus der Sowjetunion ausgewiesene Solschenizyn wurde zwar von einem Heinrich Böll empfangen und von einem Horst Bienek hoch geschätzt, aber die bundesrepublikanischen Genossen Meisterdenker hatten Besseres zu tun, als sich mit dem Kommunismus auseinanderzusetzen. Dieses Versäumnis, diese Ignoranz, ist bis heute zu spüren, und sei es im sorglosen Umgang mit der DDR-Vergangenheit und politischen Hochstapler-Phänomenen wie der Linkspartei." (Und spricht es nicht für sich, dass der "Archipel Gulag" und die meisten andren Bücher Solschenizyns in Deutschland vergriffen sind?)

Tagesspiegel, 05.08.2008

Christiane Peitz führt ein Interview mit dem Pianisten Lang Lang. Doch bevor es losgeht, hat der erst mal eine Frage an sie:
"Was ist denn das?
Mein Aufnahmegerät.
Machen Sie eine Videoaufnahme?
Nein, das ist für den Ton, wir machen ein Interview für die Zeitung.
Solche Geräte sind sonst viel kleiner.
Das ist ein altmodisches analoges Gerät, mit einer Tonkassette.
Aha. So etwas habe ich noch nie gesehen."

Außerdem: Christina Tilmann weiß, was die Welt bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele erwartet: "Grüne Marsmenschen und blaue Wale, eine Weltkugel in der Mitte des Stadions, rosarote Ladies aus Hongkong und eine Fee auf einer goldenen Lotusblüte". Den Nachruf auf Solschenizyn schreibt ein im Netz ungenannter Autor.

Aus den Blogs, 05.08.2008

Thomas Knüwer empfiehlt das Pekinger Blog des Sportjournalisten Jens Weinreich (geschasst von der geschätzten Führung der Berliner Zeitung), der - so Knüwer - wie kein anderer über die Bedingungen der Berichterstattung von den Olympischen spielen informiert: "Der Wlan-Zugang im MPC und allen Sub-Pressezentren kostet rund 350 Euro... Kollegen sagen, am Morgen hätte man noch 'Falun Gong' googeln können. Als ich es im MPC mit Wlan versuche, ist Google sofort gesperrt."

FAZ, 05.08.2008

Solschenizyns wird schon auf Seite 1 gedacht. Frank Schirrmacher erinnert im Leitartikel an den "Solschenizyn-Schock": "Als der 'Archipel GULag' 1973 in Paris erschien, veränderte sich die Tektonik der intellektuellen Welt. Wie benommen von der Wucht des Materials schrieb Heinrich Böll in dieser Zeitung: 'Ja, ja und nochmals ja'. Wutentbrannt liefen die westlichen Verteidiger des Kommunismus zwischen den Trümmern eines zusammengestürzten Weltbildes umher."

Im Feuilleton geht's weiter. Der ehemalige ARD-Korrepondent Hans-Peter Riese erinnert sich in einem sehr persönlichen Text an Solschenizyn in Langenbroich bei Köln, wo Böll seine Bauernkate hatte, und in Cavendish, Vermont. "Ich hatte einen gebeugten Mann erwartet, der seine Familie als Geisel im Gewahrsam der Staatsmacht in Moskau zurücklassen musste und einem ungewissen Schicksal als Emigrant entgegensah. Stattdessen: ein selbstbewusster, kämpferischer Mann mit Prophetenbart..." Und Kerstin Holm beschreibt seine Rückkehr nach Russland im Jahr 1994: "Alexander Solschenizyn ist ein Beweis für die ungeheure, beinahe übermenschliche Kraft, die im historischen Unglück wurzeln kann - und damit ein echtes Symbol Russlands."

Dann unterhält sich noch Felicitas von Lovenberg mit Marcel Reich-Ranicki, der an die durchaus unterhaltende Kraft von Solschenizyns Romanen erinnert. Der Mandelstam-Übersetzer Ralph Dutli legt einen längeren biografischen Essay vor. Und Reinhard Veser sammelt russische Stimmen.

Weitere Artikel: Helmut Mayer mokiert sich in der Leitglosse über eine Bochumer Aktion des Künstlers Jochen Gerz, die Europa im Sinn hat. Peter Schilder unterhält sich mit dem Theologen Johann Baptist Metz, der heute achtzig Jahre alt wird. Für die letzte Seite besucht Annika Müller das alle fünf Jahre stattfindende und nationalgeschchtlich bedeutsame große lettische Sängerfest in Riga. Andreas Rossmann berichtet, dass die Traditionsverlagsbuchhandlung Wotschak in Sulzbach-Rosenberg mit langer Geschichte als Familienunternehmen zu einem Veranstaltungsort umgewidmet werden soll.

Besprochen werden Konzerte mit Werken Salvatore Sciarrinos in Salzburg und Ereignisse des Festivals "Mitte Europa" in der deutsch-tschechischen Grenzregion.

Berliner Zeitung, 05.08.2008

Der 1928 geborene Autor Boris Chasanow, der selbst viele Jahre im Gulag gesessen hat, erinnert sich an die Wirkung von Solschenizyns erster Erzählung "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch": "Dieser Mann hat offiziell keinen Namen, er ist durch einen Buchstaben und eine Zahl auf Mütze und Kleidung ersetzt. Das Lagerdasein erscheint als etwas Normales, beinahe Natürliches, es existiert überhaupt kein anderes Leben. Die Erzählung machte mit einem Schlag das verlogene offizielle Schrifttum der Sowjetunion zu Makulatur. Die kunstvolle Kunstlosigkeit, die Wahrheitstreue, Detailgenauigkeit und der eigentümliche Stil, eine Legierung aus bäuerlicher Sprache und Lagerjargon, all das war etwas unerhört Neues. Zugleich fasste man die Erzählung als Fortsetzung der russischen Klassik auf, deren unbeirrbare Zuwendung dem Menschen aus dem Volk galt, der ein Leben lang schuftet und duldet."

Außerdem: Jutta Harms stellt die neue chinesische Comic-Szene vor.
Stichwörter: Gulag, Kleidung, Die Mütze

SZ, 05.08.2008

Beschwingt rühmt Wolfgang Schreiber den "Salvatore Sciarrino"-Schwerpunkt bei den Salzburger Festspielen: "Eine so unerhörte Musik, die den unendlich vielfältigen Ereignissen und Tönungen in der Natur abgelauscht zu sein scheint, muss 'inwendig voller Figur' sein, um einen Werktitel des Komponisten Klaus Huber zu benutzen. Und sie kann eine Sogwirkung ausüben, wie sie nur wenigen zeitgenössischen Komponisten gelingt. 'Studi per l"intonazione del mare' beispielsweise heißt ein Werk Sciarrinos aus dem Jahr 2000, und diese Übungen zur 'Intonation des Meeres' müssen von 100 Flöten und 100 Saxophonen hervorgebracht werden. Klang- und Hörmysterien, wie sie sich vielleicht nur der späte Luigi Nono ausdenken konnte." Wer?

Thorsten Schmitz porträtiert den palästinensischen Bauunternehmer Jawdat Kudari, der im Gaza-Streifen ein archäologisches Museum gegründet hat: "Kudari stellt in dem Museumsraum nur einen Bruchteil der Gegenstände aus, die er besitzt. Von den Skulpturen etwa, die er bei sich zu Hause lagert, sieht man in dem Museum keine einzige. Unter ihnen befindet sich auch eine Aphrodite, die ein enganliegendes Kleid trägt und deren Brüste unverhüllt sind. Kudari liebt den Anblick dieser Statue, aber sie im Gaza-Streifen auszustellen, 'das würde zu weit gehen', sagt er. Vor ein paar Tagen habe er einen Emissär der neuen Machthaber im Gaza-Streifen, einen vollbärtigen Hamas-Kulturbeauftragten, durch die Ausstellung geführt. Dieser sei begeistert gewesen, sagt Kudari, und räumt ein, dass er an der Begeisterung des Hamas-Mannes nicht unbeteiligt gewesen ist: 'Ich habe mich selbst zensiert.' So begnügt er sich damit, Fotos von der Aphrodite-Skulptur auf seinem Handy zu zeigen."

Weitere Artikel: Mit lautem Wehgeschrei (und das heißt nicht, dass er unrecht hat), beklagt Volker Breidecker den Ausverkauf der bislang unveräußerlicher Patrimonialgüter durch die Regierung Berlusconi. Gestern noch hatte Gustav Seibt frohgemut den geplanten Verkauf des Stichwortmanuskripts zu Max Webers "Politik als Beruf"-Manuskript angekündigt, heute bezweifelt Andreas Zielcke die Provenienz des Manuskripts, denn die Bayerische Akademie der Wissenschaften macht - ziemlich entfernte - Besitzansprüche geltend. Karl Bruckmaier stellt die "ungeschliffenen Diamanten des Indie-Pop im Sommer 2008" vor. Matthias Grünzig beklagt den Verfall des im Dresdner Elbtal liegenden Schlosses Übigau, derweil sich alle um die Waldschlösschenbrücke streiten. Holi. berichtet kurz von Aufregungen um eine Kippenberger-Kröte in Südtirol. Auf der Literaturseite würdigt Alexander Kissler den politischen Theologen Johann Baptist Metz, der heute achtzig Jahre alt wird.

Gesammelt werden Stimmen zum Tod Solschenizyns. Auf der Seite 3 schreibt Sonja Zekri einen ausführlichen Nachruf.

Besprochen werden die Ausstellung "Bewegtes Leben. Körpertechniken in der Frühen Neuzeit" in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, eine Ausstellung von Cornelia Schleime in der Kunsthalle Tübingen, Peter Lunds Inszenierung von "My Fair Lady" im Berliner Admiralspalast und Bücher, darunter Cyril Pedrosas Album "Drei Schatten" und Philippe Jaccottets "hervorragende" Auswahl Westschweizer Lyrik (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).