Heute in den Feuilletons

Unheilpraktiker

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.07.2008. In der FR fragt Juli Zeh, was es bedeutet, dass die Serben selbst Karadzic festgenommen haben. Der Tagesspiegel wünscht sich nun Eile und Präzision im Verfahren gegen den mutmaßlichen Kriegsverbrecher. In der SZ erzählt Slavenka Drakulic, wie Karadzic dem russischen Dichter Eduard Limonow ein MG in die Hand drückte und dieser tatsächlich schoss. Die NZZ beschreibt eine Initiative innerbelgischer Vökerverständigung.

FR, 23.07.2008

Kaum war in Serbien eine Regierung mit dem nötigen politischen Willen im Amt, war die Festnahme Radovan Karadzics nur noch eine Frage der Zeit. Die Schriftstellerin und Juristin Juli Zeh ahnt, warum eigentlich sonst niemand Karadzic fing. Immerhin steht Bosnien seit 1995 unter internationaler Verwaltung: "Im Jahr 2001 erzählte mir ein deutscher Beamter der internationalen Polizeitruppe beim Bier, dass 'jeder weiß, wo Karadzic ist'. Bei großen Fischen wie Karadzic und Milosevic geht es eben nicht nur darum, Verbrecher vor Gericht zur Verantwortung zu ziehen und den Opfern Genüge zu tun. Symbolfiguren braucht man für symbolische Handlungen. Wenn Belgrad seine zweifelhaften Volkshelden selbst einfängt und ausliefert, beinhaltet das eine Anerkennung westlicher Deutungshoheit, die für eine Rechtfertigung des internationalen Vorgehens auf dem Balkan und anderswo von großer Bedeutung ist."

Weiteres: In einem aus der Zeitschrift Akzente übernommenen Gespräch unterhalten sich die beiden Autoren Ingo Schulze und Norbert Niemann über das Romaneschreiben, die Tradition und den verschwundenen Westen. Harry Nutt schreibt zum plötzlichen Tod des Historikers und Philosophen H.D. Kittsteiner. Auch Daniel Kothenschulte verspürt schon die "Allmacht des Jokers", auch wenn der neue Batman-Film, wie er betont, erst Ende August in die deutschen Kinos kommt. In Times mager wappnet sich Ina Hartwig gegen die von Ettore Ghibellino verbreiteten Thesen um Goethes Liebesleben.

Besprochen werden eine Ausstellung des Fotografen F.C. Gundlach in den Hamburger Deichtorhallen und die Schau "Ein Platz für Tiere" im Museum für Angewandte Kunst in Frankfurt.

Tagesspiegel, 23.07.2008

Jahrelang haben die serbischen Behörden es geleugnet, aber sie wussten doch, wo sich Radovan Karadzic aufhielt, hält Caroline Fetscher nach der Verhaftung des Kriegsverbrechers fest. Aber auch das Tribunal in Den Haag muss sich jetzt anstrengen: "Denn so drängend die Ankläger Druck auf Staaten wie Serbien ausüben, so schleppend liefen viele Verfahren. Manche drohten, an ihrer Akribie zu ersticken, ein überdimensioniertes Verfahren führte dazu, dass der Angeklagte Milosevic ohne Urteilsspruch in der Haft starb. Eile, Präzision und Beschränkung auf das Wesentliche sind die Zeichen, unter denen der Fall Karadzic stehen sollte. Für viele der Überlebenden unter den Zeugen bedeutet das schmerzhafte Aussagen - und einen Wendepunkt in ihrem Leben. Eine hoffnungsvolle Wende kann es für die Tausende von Opfern nur geben, wenn am Ende auch ein Urteil steht."

SZ, 23.07.2008

Karadzic ist kein Monster, schreibt die kroatische Schriftstellerin Slavenka Drakulic auf den vorderen Seiten. Sie erinnert sich an einen Besuch des russischen Dichters Eduard Limonow bei dem damaligen Präsidenten Serbiens. Karadzic führte seinen Gast zu einem Maschinengewehr auf den Hügeln von Sarajewo und forderte ihn auf, doch mal zu schießen, nur zum Spaß. Limonow schoss, alle waren begeistert. "Wie kommt es, dass Intellektuelle und Dichter und Psychiater wie Karadzic so etwas tun? Es dauerte eine Zeit, bis ich begriff, dass dies die falsche Frage ist. Die Frage unterstellt ja, dass Menschen, die es besser wissen müssten - die Gebildeten, die Intellektuellen, Künstler, um Gottes willen! - höhere moralische Standards haben als wir, die gewöhnlichen Leute. Dabei sehen wir doch immer wieder, dass sie, was Ethik und Moral betrifft, nicht anders sind als wir. Kriegsverbrecher entstammen allen sozialen Schichten, allen denkbaren Milieus. Sie sind Akademiker, Autoren und Mechaniker, Kellner, Bankangestellte und Bauern."

Andrian Kreye erinnert sich an einen Besuch bei Karadzic in Pale 1995. "Als die Tür mit einem lauten Schlag aufsprang, verstummten alle. Sonja stand im Raum, die Tochter des damals amtierenden Präsidenten der Republika Srpska, Radovan Karadzic. Sie bebte vor Wut, brüllte im Kommandoton auf Serbisch. Eine ewige Minute lang brüllte sie, dann schlug die Tür zu ihrem Arbeitszimmer wieder zu. Die Dolmetscherin blickte zu Boden und flüsterte: 'Frau Karadzic bittet darum, die Heimreise zu erwägen.' Da konnte sich Drago aus Belgrad nicht mehr halten. Er schüttelte sich vor Lachen und sagte dann auf Englisch: 'Die bittet um gar nichts. Sie hat gesagt, wenn es dir nicht passt hier, dann sollst du ihr einen lutschen, oder dich zurück nach Belgrad verpissen.'"

Weitere Artikel: Barack Obama ist eine "universelle Ikone", auch für Deutschland, findet Ijoma Mangold, der selbst schwarz ist. Denn Obamas Hautfarbe stehe "nicht mehr für ein soziales Milieu, auch nicht für eine kulturelle Identität, nicht einmal mehr für eine ethnische Zugehörigkeit. Obama hat das Schwarz seiner Hautfarbe globalisiert." Alex Rühle hat in Atlantic Monthly Nicolas Carrs Essay über dessen chronisch wachsendes Aufmerksamkeitsdefizit gelesen. Carr glaubt, das Internet sei daran schuld und einige medizinisch-psychologische Studien, so Rühle, belegen diese These. In der 4. Folge von Joachim Kaisers Geburtstagsartikeln erzählt Kaiser, warum ihn Adornos gesellschaftskritisches Denken heute kalt lässt, während er den Kunstkritiker und Künstler Adorno immer noch liebt. Fritz Göttler schreibt zum 70. Geburtstag Götz Georges, Michael Struck-Schloen zum 80. des Pianisten Leon Fleisher. Oliver Herwig schildert das erfolgreiche Kunststoffmarketing von BASF: "Die Formfinder und Gestalter kommen mittlerweile zuhauf".

Besprochen werden einige CDs und Bücher, darunter Jonathan Carrs Geschichte des Wagner-Clans (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 23.07.2008

Matthias Heine stellt im Aufmacher die These auf, dass in Kunst und Kommerz nach nicht mehr überbietbaren Gewaltdarstellungen der Ekel als Feld immer neuer Exzesse entdeckt wurde und nennt Charlotte Roches "Feuchtgebiete" als Beispiel für die Tendenz. Hannes Stein freut sich über den Erfolg der als Buch herausgegebenen Abschiedsvorlesung des Pittsburger Professors Randy Pausch, der sich trotz seiner Krebserkrankung seinen Optimismus nicht nehmen lässt und damit sogar den armen George W. Bush tröstete. Uwe Wittstock begrüßt die mit einem Gedichtband begonnene große Werkausgabe für Wolfgang Hilbig. Hannes Stein erinnert an den Putsch der Jungtürken vor hundert Jahren und erinnert daran, wie aus einer demokratischen und laizistischen Bewegung die Partei des Genozids an den Armeniern wurde. Manuel Brug porträtiert den Regisseur Willy Decker, der als Chef der Ruhrtriennale die Weltreligionen ins Zentrum des Festivals setzen will. Peter Dittmar kommentiert die Meldung, dass sich Russen und Chinesen, nach Jahrzehnten bösen Streits, auf den Grenzverlauf zwischen beiden Ländern geeinigt haben. Michael Pilz erinnert an den einzigen surfenden Beach Boy, Dennis Wilson, der vor 25 Jahren ertrank. Eckhard fuhr schreibt zum Tod von Heinz Dieter Kittsteiner.Und Martin Zöller liest eine Studie, die sich mit dem deutsch-italienischen Verhältnis nach dem Mauerfall auseinandersetzt.

Besprochen werden eine Ausstellung über österreichische Künstler der Moderne, die emigrieren mussten, in Wien und Ereignisse des Theaterfestivals von Avignon.

NZZ, 23.07.2008

Marc Zitzmann stellt eine Initiative der beiden belgischen Tageszeitungen Le Soir und De Standaard vor, die helfen soll, die Gräben zwischen den zwei Sprachgemeinschaften des Landes zu überbrücken. Darin sollen hundert Kulturschaffende die Zukunft Belgiens imaginieren - mit äußerst unterschiedlichen Ergebnissen: "So ruft der Werbefachmann Peter Vijgen auf zur Partnersuche über die Sprachbarriere hinweg: 'Wenn ein Flame eine Wallonin mitnimmt oder umgekehrt, können sie umsonst die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Und wenn sie heiraten, bekommt Madame eine Handtasche von Delvaux geschenkt und Monsieur ein Designstück von Bikkembergs.'"

Um die literarische Qualität Ernst Jüngers kreist eines der "beharrlichsten deutsch-französischen Missverständnisse", räumt Jürgen Ritte ein, findet die Aufnahme der "Kriegstagebücher" in die Bibliotheque de la Pleiade dennoch in Ordnung: "Es war ein Denken, das symptomatisch und repräsentativ eine mächtige und fatale Zeitströmung in sich aufnahm und sublimierte. Mit solchen Unternehmungen ist uns, ungeachtet des literarischen Werts oder Unwerts von Jüngers Tagebüchern, mehr geholfen als mit den Phantastereien a la Jonathan Littell."

Weiteres: Gerhard Gnauck berichtet, wie sich die Ukraine, auf der Suche nach ihrer staatlichen Identität, nun ihrer eigenen Geschichte stellt: das umfasst die Erinnerung an den Holomodor, aber auch an ukrainische Verbrechen wie das Massaker an polnischen Zivilisten in Wolhynien (mehr hier). Michael Wenk gratuliert "Der Explosion eines Schauspielers" Götz George zum siebzigsten Geburtstag. Marion Löhndorf findet die Ausstellung der niederländischen Modemacher Viktor & Rolf, die ihre Kreationen nun in der Londoner Barbican Art Gallery präsentieren, "einfallsreich und berechnend" zugleich.

Besprochen werden Peter Wendes Abhandlung über "Das britische Empire", Siri Hustvedts Roman "Die Leiden eines Amerikaners" sowie der Architekturband "Max Vogt - Bauen für die Bahn" von Ruedi Weidmann und Karl Holenstein (mehr ab 14 Uhr in der Bücherschau des Tages).

TAZ, 23.07.2008

Dominikus Müller ist enttäuscht von einer Ausstellung zur Geschichte des Fertighauses in einer Baulücke neben dem New Yorker Museum of Modern Art. Denn die soziale Dimension dieser Architektur werde nicht thematisiert. "So bleibt der Traum vom erschwinglichen Wohnen von der Stange auch im Zeitalter der 'Mass-Customization' der Traum weniger und die Spielwiese von Architekten, die ab und an ganz gerne die Grenzen ihres Berufsstandes in Richtung Ingenieurswesen und Produktdesign durchbrechen. Da mag es symptomatisch erscheinen, dass sich diese Ausstellung viel zu wenig der sozialutopischen Komponente eines billigen Bauens für Jedermann widmet. Dieser Anteil schwingt zwar beständig mit, wird aber letztlich viel zu wenig expliziert und verschwindet hinter der Betonung von innovativen Ingenieursleistungen und ästhetischen Konzepten."

Besprochen werden Chris Carters Kinofilm zur TV-Serie "Akte X - Jenseits der Wahrheit" und das neue Buch von Oliver Sacks "Der einarmige Pianist. Über Musik und das Gehirn" (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

Und Tom.

FAZ, 23.07.2008

Als "Dr. Dabic" machte sich Radovan Karadzic um die alternative Medizin verdient, berichtet Michael Martens, der in Belgrad stationierte Balkan-Korrespondent der FAZ, unter der Überschrift "Der Unheilpraktiker": "Niemand hätte Verdacht geschöpft, denn dieser schlohweiße Zottelkopf, so, wie ihn die am Dienstag verbreiteten Fotos zeigten, hat die Rolle des leicht weltfremden Heilpraktikers bestimmt glänzend gespielt. Vielleicht hätte er noch etwas Kluges über Kultur gesagt und einem dann eine Tüte sündhaft teurer Heilkräuter aus den bosnischen Bergen verkauft, und die Leute hätten gesagt: Dieser Dr. Dabic, das ist ein sympathischer Mann."

Weitere Artikel: Jürg Altwegg fragt sich, was in Bernard-Henri Levy gefahren ist, der einen offensichtlich harmlosen Text des Charlie-Hebdo-Karikaturisten Sine gegen Sarkozys Sohn Jean als antisemitisch verurteilte und die inzwischen beschlossene Entlassung des Satirikers unterstützt. (Der Nouvel Obs bringt ein großes Dossier zur Affäre.) Christoph von Dohnanyi fordert in seiner "Bayreuth-Vision" Uraufführungen in Bayreuth und eine offensive Auseinandersetzung mit der Rolle der Wagner-Familie in der Nazizeit. Wolfgang Sandner gratuliert dem Pianisten Leon Fleisher zum Achtzigsten. Alexandra Kemmerer berichtet von einer Tagung der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen in Genf.

Auf der Medienseite nimmt Ulrich Wickert zur Frage der Interview-Autorisierung Stellung - und empfiehlt einfach Live-Interviews. Und Harald Keller gratuliert Götz George zum Siebzigsten. Auf der letzten Seite erinnert Dirk Schümer an den spätromantischen Komponisten Franco Alfano, dessen "Cyrano de Bergerac" langsam wieder Eingang ins Repertoire findet. Und Teresa Grenzmann berichtet vom Münchner Tollwood-Festival.

Besprochen werden eine Retrospektive des Modefotografen F. C. Gundlach in Hamburg, eine Ausstellung mit Kupferstichen Anton Würths in Offenbach und DVDs, darunter eine Edition aller drei Teile des "Paten", Michael Ritchies "Freibeuter des Todes" und Jules Dassins "Rififi".