Heute in den Feuilletons

David hat keinen Stein in der Schleuder

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.07.2008. In der NZZ möchte Olivier Roy den Islam zur "reinen Religion" entwickeln. In der FR klagt Carla Bruni über ihr schweres Los als Präsidentengattin. In der New York Times annonciert Benny Morris einen israelischen Angriff auf iranische Atomanlagen im nächsten halben Jahr. Don Alphonso kommentiert die gerichtlichen Auseinandersetzungen zwischen Facebook und StudiVZ. Die Blogger haben sich auch sonst sehr gern. Siegfried Lenz in der FAZ und die Welt erinnern an den Tag, der die Literaturkritik in Deutschland veränderte: Marcel Reich-Ranickis Rückkehr nach Deutschland vor fünfzig Jahren.

NZZ, 21.07.2008

Der Islamforscher Olivier Roy plädiert in der Reihe "Perspektiven auf den radikalen Islamismus" für einen neuen Umgang mit dem Islam, und zwar für eine echte Säkularisierung: "Man müsste eine Entwicklung des europäischen Islam hin zur reinen Religion unterstützen, freilich ohne dabei theologische Fragen zu stellen. 'Reine' Religion - das hieße Glaubensfreiheit ohne Konzession an andere Kulturen, Predigten in europäischen Sprachen, Moscheen, die (mit oder ohne Minarett) ihren Raum in der urbanen Landschaft behaupten dürfen, religiöse Erziehung nach Modellen, wie sie für Christen oder Juden vorgesehen sind. Der Islam als Religion muss gleiche Behandlung erfahren wie die anderen Religionen, er muss dieselben Privilegien genießen und den gleichen Einschränkungen unterstellt sein."

Weiteres: Die Autorin Melitta Breznik erklärt, wie die norwegische Stadt Stavanger, eine der beiden europäischen Kulturhauptstädte funktioniert - ungefähr so wie die Schweiz: "Man hängt die Fahnen an den Mast vor seine Wochenendhütte, wenn man anwesend ist. Was dem Schweizer das Maiensäss, ist dem Norweger die Fjellhytta." Marco Frei unternimmt einen Sparzierung mit dem Dirigenten Mariss Jansons durch dessen Heimatstadt St. Petersburg. Makarand Paranjape, stellt den noch relativ unbekannten, aber gewichtigen Commonwealth Writers Prize vor, bei dem er in diesem Jahr als Juryvorsitzender agiert. Georges Waser bespricht die Ausstellung "Jack the Ripper" im Museum der Londoner Docklands.

Weitere Medien, 21.07.2008

In der New York Times (hier) und am Samstag in der Welt (hier) eröffnet der israelische Historiker Benny Morris eine wenig gemütliche Perspektive: "Israel wird in den kommenden vier bis sieben Monaten die iranischen Atomanlagen angreifen. Das ist so gut wie sicher, und die Politiker in Teheran und Washington sollten innig hoffen, dass der Angriff erfolgreich ist und das Atomprogramm Irans beträchtlich zurückwirft, wenn nicht völlig ausschaltet. Denn sollte der Angriff fehlschlagen, gibt es im Nahen Osten höchstwahrscheinlich einen Atomkrieg."

FR, 21.07.2008

Donnerwetter, dass Carla Bruni es so schwer hat, hätten wir nicht gedacht. "Außerhalb meiner Musik, wie auch bei unserem Gespräch jetzt, reagiert man auf jedes Wort, das ich sage, als wäre ich die Sprecherin des Präsidenten", klagt sie im Interview mit Serge Simonart. "Manche Leute haben mich sogar beschuldigt, ich würde Dinge im Auftrag meines Mannes sagen, weil sie aus meinem Mund charmanter klängen. Das ist völlig absurd. Andere wieder versuchen, mich und Nicolas gegeneinander auszuspielen." Alles gelogen! Und wie war das mit der Erotik der Macht bei Nicolas Sarkozy? "Wenn es um unsere Leidenschaft geht, ist es nicht sein Status als Präsident, der mich erregt."

Im Feuilleton berichtet Sandra Danicke von der Kunst-Biennale Manifesta in und um Franzenfeste. Opernregisseur Stefan Herheim spricht im Interview über seine Parsifal-Inszenierung, die am Freitag die Bayreuther Festspiele eröffnen wird. In Times Mager spielt Daland Segler mit seinem iphone. Auf der Medienseite informiert uns Eva Schweitzer, dass mit David Hiller jetzt der dritte Chefredakteur der Los Angeles Times in wenigen Jahren gehen musste.

Besprochen werden ein Konzert von Chick Corea beim Klavierfestival Ruhr und eine Ausstellung mit Werken von Lovis Corinth im Museum der Bildenden Künste in Leipzig.

Aus den Blogs, 21.07.2008

Don Alphonso kommentiert Nachrichten von vor Gericht ausgetragenen Streitigkeiten zwischen berühmten Internetangeboten und schlechten Geschäftsergebnissen: "Facebook, StudiVZ, Myspace, Flickr und Youtube sind nur die prominenteren Beispiel der großen Web2.0-Malaise, die man schon aus der New Economy kannte: Die Nutzer sind da, aber das Geschäftsmodell geht nicht auf." Und: "Ich möchte wetten, dass man bei einigen Printprodukten der Holtzbrinckgruppe kotzt über das Geld, das durch StudiVZ und den kommenden Prozess verpulvert wird."

Henryk Broder greift in der Achse des Guten die Meldung auf, dass "das unter einer Hyperinflation leidende Simbabwe den 100-Milliarden-Dollar-Schein einführt" und empfiehlt dies als einen Fall für die in Afrika stark engagierten "Bono, Geldof und Grönemeyer".

Putzig, wie sich unsere dürre Alphabloggerszene bekriegt. Stefan Niggemeier schrieb am Freitag zu den angeblich wenigen Klicks auf Artikel, die bei turi2 verlinkt sind: "Die Leute lesen turi2 also nicht, um auf diese Weise interessante Artikel zu finden; sie lesen turi2, um die interessanten Artikel nicht zu lesen." Und turi2 zitiert aus einem (leider nicht online stehenden) Artikel aus dem heutigen Spiegel über die Bloggerszene: "David hat keinen Stein in der Schleuder. Also schmeißt er mit Dreck." (Medienlese resümiert und kommentiert den Spiegel-Artikel.)

TAZ, 21.07.2008

Dirk Teschner geißelt die Erfurter Kulturpolitik, die dem örtlichen Kunsthaus jegliche finanzielle Unterstützung gestrichen hat und statt dessen lieber "200 Jahre Erfurter Fürstenkongress 1808-2008" mit mehreren hunderttausend Euro finanziert. Katharina Granzin erinnert an die Schriftstellerin Brigitte Reimann, die heute 75 geworden wäre und deren Briefe an ihre Eltern jetzt erschienen sind. Auch Chick Corea ist Scientologe, teilt Tim Caspar Boehme mit. Carolin Pirich berichtet vom Augsburger Brecht-Festival.

Besprochen wird die Ausstellung "Female Trouble" in der Münchner Pinakothek der Moderne.

Und Tom.

Welt, 21.07.2008

Uwe Wittstock erinnert an den Tag, der die Literaturkritik in Deutschland veränderte: Marcel Reich-Ranickis Rückkehr nach Deutschland vor 50 Jahren. "Er hat nur einen Koffer bei sich, eine Aktentasche und eine alte Schreibmaschine. Fast niemand in Deutschland kennt ihn. Aber die Deutschen werden ihn kennen lernen. Er hat nie eine Universität besucht, über Diplome oder Titel verfügt er nicht. Er hat keine Kontakte zu Verlagen oder Redaktionen, das kulturelle Leben der Bundesrepublik ist ihm fremd. Ja, er hat die vergangenen 20 Jahre in Polen verbracht und durfte bis vor kurzem nicht einmal Bücher oder Zeitschriften aus dem Westen lesen. Dennoch wird der Mann nur anderthalb Jahre später bereits einer der maßgeblichen, weit-hin anerkannten Literaturkritiker Deutschlands sein."

Weiteres: Gerhard Gnauck erzählt zudem, wie Reich-Ranicki seine Ausreise aus Polen bewerkstelligte. Hendrik Werner antwortet denen, die wie Charles Leadbeater kürzlich im Spectator die große "konservative Kraft des Internets" preisen, dass technische Speicher nur über eine "erfahrungslose Intelligenz" verfügen. Dankwart Guratzsch schildert, wie Frankfurt am Main seinen Frieden mit Hochhäusern machte. Berthold Seewald feiert die große Londoner Ausstellung zu Hadrian, dem "Imperator des Goldenen Zeitalters", im British Museum. Wieland Freund erzählt in der Randspalte die Geschichte des Children's Room der New York Public Library, der nach mehr als dreißig Jahren Brooklyner Exil wieder in das Hauptgebäude an der Fifth Avenue zurückkehrt. Kai Luehrs-Kaiser präsentiert die Salzburger Buhlschaft dieses Jahres: Sophie von Kessel, deren Erotik er als "unverbraucht und sophisticated" schätzt. Besprochen wird auch die Glücksspiel-Ausstellung "Volles Risiko" im Karlsruher Schloss.

Tagesspiegel, 20.07.2008

Ausgerechnet die Deutschen machen den Ukrainern, die doch so gern in die EU wollen, das Leben schwer, klagte Juri Andruchowytsch am Sonntag im Tagesspiegel. Zum Beweis erzählt er die Geschichte einiger ukrainischer Saisonarbeiter, die auf dem Weg von Madrid nach Breslau von deutschen Beamten festgehalten wurden und sich laut dem Bericht einer ukrainischen Zeitung unter dem Gelächter der Beamten nackt ausziehen mussten. "Vor vier Jahren haben diese Menschen die Kraft aufgebracht, dem Ruf der Zukunft zu folgen und auf dem Kiewer Maidan die europäischen Werte zu verteidigen, unter anderem Freiheit, Würde und die Unverletzlichkeit der Person. Vier Jahre später stehen sie wieder da - irgendwo in der ihnen verschlossenen Schengenzone frei von Grenzen und schon deshalb gesegnet. Hier nehmen ihnen die Vertreter eben jener europäischen Werte ihr Geld ab und erniedrigen sie wie sie nur können - Polizisten eines großen Landes, deren Nationalhymne zweimal die Worte Recht und Freiheit wiederholt. Also frage ich erneut: warum wieder du, Deutschland?"

SZ, 21.07.2008

Nicht das Klima ist schuld an den Unwettern in den Mittelmeerländern, meint der spanische Autor Rafael Chirbes in einer Reihe mit Schriftstellertexten zum Klimawandel, sondern Landwirtschaft und Urbanisierung: "Der ganze mediterrane Raum ist zu einem bis unters Dach mit Licht getäfelten Badezimmer verkommen, zu einem wohlklimatisierten Wohnzimmer mit kostenloser Energie, in dem die Pensionäre aus halb Europa und aus der ehemaligen Sowjetunion wohnen wollen. Es ist der Druck dieser Massen, diese neue urbane Freizügigkeit, die das sensible Wassergleichgewicht durcheinander gebracht hat."

Weitere Artikel: Für den Aufmacher beobachtete Thomas Steinfeld den Krimiautor Henning Mankell beim Moralpredigen im südschwedischen Heim des ehemaligen UNO-Generalsekretärs Dag Hammarskjöld und rechnet mit den erbaulichen Mustern von Mankells Kriminalromanen gleich mit ab. Für die "Nachrichten aus dem Netz" besucht Wolfgang Schreiber die neue Website der Bayreuther Festspiele. Gemeldet wird, dass der Archäologe Ernst Pernicka den Thesen Raoul Schrotts zu Homer widerspricht. Der Schriftsteller Ralf Bönt erledigt Chris "Long Tail" Andersons neueste Theorie vom "Ende der Theorie" im Zeitalter von Datenkraken wie Google, die die letzte Fragen schon beantworten werden, als "provinziell: nämlich ungebildet". Roswitha Budeus-Budde gratuliert dem Verleger und Romanautor Hermann Schulz zum Siebzigsten. Kathrin Lauer schreibt über die Einladung von Securitate-Spitzeln ins rumänische Kulturinstitut in Berlin, gegen die Herta Müller (hier) und Richard Wagner (hier) neulich protestierten. Oliver Herwig recherchiert über die Buchverlage, die ihre Backlist immer schneller verramschen.

Besprochen werden ein Schubert-Liederabend Ian Bostridges in München, ein paar neue DVDs, und Bücher, darunter Sybille Bedfords "Weinprobe in Bordeaux" und Gertrud Fusseneggers Erinnerungen.

Auf der Medienseite wird eine heute in der ARD laufende Dokumentation über Doping in China empfohlen.

FAZ, 21.07.2008

Vor fünfzig Jahren kam Marcel Reich-Ranicki nach Deutschland zurück. Siegfried Lenz erinnert sich an ihre Freundschaft und benennt, was Reich-Ranickis Urteile von denen so vieler heutiger Kritiker unterschied: "Da gab es kein laues Sowohl-als-auch, da wurden keine Rabatte zum Trost erteilt; Mildtätigkeit und preiswerte Schonung kamen in seinem Spruch nicht vor, stattdessen glänzten sie durch Entschiedenheit und, wenn es sein musste, auch durch Unerbittlichkeit.

Weitere Artikel: Ingo Metzmacher entwickelt in der Reihe "Bayreuth-Visionen" tatsächlich eine Vision: "Das Experimentelle, das Erforschen, das Suchen würde im Vordergrund stehen." Marcus Jauer kommentiert die Schwierigkeiten Barack Obamas, für seine Berlin-Rede einen Ort zu finden, der symbolisch nicht überfrachtet ist. Oliver Jungen unterhält sich mit dem Insolvenzverwalter des Aufbau-Verlags, Joachim Voigt-Salus, der erklärt, dass er sich mit Bernd Lunkewitz geeinigt hat und einem Verkäufer ein sicheres und komplettes Angebot machen kann: "Die Odyssee um die Rechte am Aufbau-Verlag wird durch die konzertierte Aktion ein Ende haben." Martin Otto berichtet, dass die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten in einem Rechtsstreit mit der Fotoagentur Ostkreuz liegt, der sie das Fotografieren in ihren Parks untersagen will. Dirk Schümer gratuliert dem italienischen Humoristen und Berlusconi-Kritiker Beppe Grillo zum Sechzigsten.

Auf der Medienseite fürchtet Nina Rehfeld, dass der konservative Publizist und Politikberater Karl Rove als Fox-Kommentator dem Wahlkampf der Demokraten schaden könnte. Und Gerd Gregor Feth schildert das heitere und erfolgreiche Treiben bei der Münchner Abendzeitung. Auf der letzten Seite porträtiert Jordan Medias die Lyrikerin Kay Ryan, die von Charles Simic das Amt des "poet laureate" der USA übernimmt. Und Mark Siemons führt sein olympisches Alphabet glücklich zum "Z".

Besprochen werden eine Ausstellung über "Vlad III. Dracula, Woiwode beziehungsweise Fürst der Walachei" im Kunsthistorischen Museum auf Schloss Ambras, Sandra Prechtels und Sascha Hilperts Dokumentarfilm "Sportsfreund Lötzsch" über die traurige Geschichte des DDR-Radfahrers Wolfgang Lötzsch, die Ausstellung "Islands and Ghettos" über die Städte Dubai und Caracas in Heidelberg und Umgebung und Sachbücher, darunter ein Suhrkamp-Bändchen mit Habermas' soziotheologischen Diskussionen.