Heute in den Feuilletons

Dieser Reinheitseifer

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.07.2008. Grenzen sind für die Feuilletons heute zum Überschreiten da: In der Welt möchte Thea Dorn mit Doping das demokratische Mittelmaß überwinden, in der SZ erteilt Martin Walser allen Siemens-Bestechern die Absolution. Die NZZ fragt sich, ob der Medienrummel der Geisel Ingrid Betancourt genutzt oder geschadet hat. Spiegel Online erschaudert vor der Datenkrake Google. Und die FAZ genießt abseits des Sternerummels still ihren Seewolf mit Meeresalgen-Gurkensalat.

NZZ, 05.07.2008

Marc Zitzmann schießt im französischen Freudentaumel um die Befreiung von Ingrid Betancourt quer. "Die hehren Absichten der hiesigen 'Komitees für die Befreiung von Ingrid Betancourt' stehen außer Frage. Anderseits eignete ihren Aktionen stets eine gewisse Ohnmacht. Konzerte und Petitionen, Messen, Märsche und Matchs: Das alles dürfte die Entführer herzlich unbeeindruckt gelassen haben. Allenfalls mochte es ihre Gewissheit bestärken, ein wertvolles Pfand in der Hand zu halten. Ob die Mediatisierung des Entführungsfalls und der 'internationale Druck', den die Komitees verstärkt zu haben sich rühmen, produktiv war oder nicht, darf zumindest diskutiert werden. In seinem Buch 'Ingrid Betancourt, par-dela les apparences' befindet der Lateinamerika-Spezialist Jean-Jacques Kourliandsky, die deutsche Diskretion bei Geiselnahmen in Kolumbien und anderswo sei ungleich wirkungsvoller als das durch Massenmedien, Politiker und Vertreter der Zivilgesellschaft orchestrierte französische Politspektakel."

Weiteres: Barack Obamas Fans lassen sich jetzt Hussein taufen, um auf die Harmlosigkeit seines zweiten Vornamens hinzuweisen, wie Andrea Köhler staunend zu Protokoll gibt. Adolf Muschg erklärt sich in der Serie "Was ist schweizerisch?" noch immer voll verteidigungsbereit. "Bewegung 1: Sie ziehen, mit einem scharfen Ruck, die Waffe so vor den Leib, dass sie zu diesem (als Kreuz gedacht) eine Diagonale bildet."

In der Beilage Literatur und Kunst begutachtet die NZZ die europäische Trennung von Religion und Politik, über die sie sehr froh ist. Lukas Wick fordert islamische Rechtsgelehrte auf, endlich die negative Religionsfreiheit zu sichern. Friedrich Wilhelm Graf gibt einen Überblick zu den verschiedenen Kohabitationsmodellen von Religion und Politik in Europa. Thomais Maissen tut dasselbe nocheinmal für die Schweiz. Florian Coulmas weist darauf hin, dass es in Japan sehr leicht ist , eine religiöse Sekte zu gründen. Aldo Keel untersucht Skandinavien, Micha Brumlik äußert sich zu Israel.

Besprochen werden die Ausstellung mit Holzschnitten des japanischen Künstlers Hokusai im Pariser Guimet-Museum, Ferruccio Busonis "Doktor Faust" in der Version von Nicolas Brieger im Münchner Nationaltheater, eine Schau mit Zeichnungen des finnischen Architekten Alvar Aalto im Münchner Architekturmuseum, und Bücher, darunter Gao Xingjians Erzählungen "Die Angel meines Großvaters" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Spiegel Online, 05.07.2008

Henryk M. Broder steigt in die Debatte um das Täter-Kartell des UN-Menschenrechtsrats ein, der künftig über den "Missbrauch der Meinungsfreiheit" berichten möchte, wenn es dabei um "rassistische oder religiöse Diskriminierung" gehe. "Natürlich ging es der Organisation nicht darum, Schmähungen des Christentums durch muslimische Fanatiker zu ahnden oder antisemitische Karikaturen in der iranischen Presse zu verurteilen. Es ging darum, jede Kritik an der Praxis des Islam mit einem Bann zu belegen, eine Diskussion über den Islam und die Menschenrechte im Keim zu ersticken. Hätte ein Vertreter des Papstes einen solchen Antrag lanciert, wäre die Empörung in den westlichen Medien wohl maßlos gewesen. Etliche Kommentatoren hätten von 'Anmaßung' und 'Zensur' geschrieben. Weil es aber darum ging, die islamische 'Religion des Friedens' vor Zumutungen zu schützen und sie vor einer weiteren Belastungsprobe ihrer Friedfertigkeit zu bewahren, war in den westlichen Medien nur lautes Schweigen zu vernehmen." (Natürlich abgesehen von Pascal Bruckners Appell im Perlentaucher)

Frank Patalong schreibt über den amerikanischen Prozess zwischen Viacom und Youtube (also Google) und erkennt einen doppelten Skandal. Der eine Skandal ist, dass die Richter Viacom Zugang zum Datenmaterial von Google zusprachen, der andere Skandal sind die Massen an Datan die Google tatsächlich sammelt: "Spektakulärer wurde dem Unternehmen selten die Hose heruntergelassen. Einmal mehr erscheint das freundliche Unternehmen als Datenkrake, die fleißig daran arbeitet, unser aller Medienverhalten zu durchleuchten."

FR, 05.07.2008

Im Gespräch erklärt der gefeierte Choreograf Wayne McGregor, was er sich von der Zusammenarbeit mit Neurowissenschaftlern verspricht: "Es wird Videoaufnahmen geben, Neuropsychologen werden uns zusehen. Und ich werde ein neues Stück erarbeiten, genau so, wie ich normalerweise meine Stücke erarbeite. Das gesammelte Datenmaterial wird den Wissenschaftlern irgendetwas sagen. Sie haben Ähnliches schon mit Panzer-Fahrern gemacht, um zu sehen, was im Gehirn passiert, wenn Menschen gemeinsam etwas tun. Es geht um Tätigkeiten, die einen von mehreren Leuten geteilten kognitiven Rahmen haben. Bei einer Choreografie passiert ja ständig ein Austausch zwischen Choreograf und Tänzern. Dies zu beobachten, soll uns Antworten geben, wie das Gehirn arbeitet."

Weitere Artikel: Elke Buhr informiert über das Berliner "Tuned City"-Festival, bei dem es um den Klang in Kunst und Architektur geht. Außerdem kommentiert sie die heftig umstrittene Aktion der Leipziger Galerie für Zeitgenössische Kunst, die ihre Räume und Infrastruktur für zwei Jahre privaten Sammlungen zur Verfügung stellt. In einer Times Mager kann Peter Michalzik den vermeldeten Suhrkamp-Personalia - Thomas Sparr und Jonathan Landgrebe, beide bisher schon bei Suhrkamp tätig, werden neue Geschäftsführer - keinen fürs große Kulturbetriebsganze bedeutsamen Sinn abgewinnen. Marcia Pally fragt in ihrer Kolumne, mit welchem Lied wohl Barack Obama am besten beschrieben wäre. Christoph Schröder hat eine Frankfurter Lesung der Junge Welt-Autoren Franz Dobler und Jamal Tuschick besucht.

Besprochen wird Jan Böttchers Wenderoman "Nachglühen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 05.07.2008

In gekürzter Form abgedruckt wird Martin Walsers schon durch die Feuilletons rumorende Festrede zum sechzigjährigen Bestehen der Bayerischen Akademie der Schönen Künste vom Mittwoch. Es geht darin um den Zeitgeist, der manchmal schon, öfter aber nicht, glaubt Walser, aus Walser sprach. Es geht um "Stammtischgeblöke", Vietnam, Peter Handke und Hermann Lenz, Ignacio Lopez, einen Traum, in dem Reinhard Baumgart "Scheiße" sagt und natürlich die deutsche Teilung und wie Walser, glaubt Walser, in dieser Sache recht behielt. Und dann wird noch Siemens verteidigt: "Nun wissen natürlich wirklich alle, dass in der ganzen Welt die großen Firmen ihre Großaufträge durch Bestechung hereinholen. Es handelt sich ja in keinem Fall um persönliche Bereicherung der Manager. Und vor 1998 konnte man dergleichen noch von der Steuer absetzen. Aber Staatsanwälte und Medien finden diese Praxis unter allen Umständen kriminell. Mich erinnert dieser Reinheitseifer an das katholische Gebot, das den ehelichen Geschlechtsverkehr nur erlaubt, wenn er stattfindet zur Fortpflanzung."

Weitere Artikel: Zur Untertreibung wenig geneigt ist Gottfried Knapp in seinem Kommentar zum Einjahresunescowelterbeverlustultimatum in Sachen Waldschlösschenbrücke: "Sollte im nächsten Jahr Dresden wirklich vom Olymp der internationalen Staatengemeinschaft verstoßen werden, belädt sich Deutschland mit einem kulturellen Makel, der nur schwer zu tilgen sein wird." Reinhard J. Brembeck ist sich sicher, dass die erste Live-Übertragung aus Bayreuth - am 27. Juli gibt es Katharina Wagners "Meistersinger" auf dem Vorplatz und im Internet - auch im Falle technischer oder künstlerischer Widrigkeiten ein voller Erfolg wird. Kristina Maidt-Zinke hat für die "Bergman-Woche" die Ostseeinsel Faro besucht, die sich der Meisterregisseur zur Heimat erkoren hatte. In der "Wetterbericht"-Serie erklärt der katalanische Autor Sergi Pamies, warum der Klimawandel in Wahrheit ein "literarisches Genre" ist. Jens Bisky schreibt zum Tod des spätbürgerlichen Bohemiens , Soziologen und Autobiografen Nicolaus Sombart.

Besprochen werden Matthias Hartmann Zürcher "Carmen"-Inszenierung mit Vesselina Kasarova in der Titelrolle und eine nach Verbot weitgehend ausgefallene Kunstaktion am Leipziger Flughafen beim Festival "Theater derWelt".

Für die SZ am Wochenende ist Sonja Zekri in den Kaukasus gereist, wo das in der öffentlichen Wahrnehmung eher totenstille Russland seine lautstark mörderischen Seiten offenbart. In Inguschetien etwa: "Am 9. November wurde der sechsjährige Rachim Amrijew in einem Gefecht vom Geheimdienst FSB erschossen. Am 13. April 2008 töteten Unbekannte den Stellvertretenden Richter des Obersten Gerichtes in seinem Mercedes. Der Staat mordet, die Aufständischen morden, Monat um Monat geht das so, Tag für Tag."

Außerdem: Auf der Aufmacherseite gibt es eine Wellness-Analyse von Werner Bartens. Die Geschichte Amsterdams wird erzählt. Eine Spitzbergen-Reiseerzählung von Cees Nooteboom wird vorabgedruckt. Der Erfolgsmusiker Jack Johnson wird interviewt und spricht über "Gelassenheit".

TAZ, 05.07.2008

Eine an sakralen Aufladungen interessierte Diskursfeindlichkeit ist längst wieder salonfähig im deutschen Theater, schimpft Tobi Müller, der auch gleich Namen nennt: "Viele Regisseure fühlen sich rasch in ihrer Würde angegriffen, wenn man es wagt, ihre Arbeit zu deuten. Dimiter Gotscheff blättert in Büchern nach dem perfekten Heiner-Müller-Zitat, Jürgen Gosch und sein Bühnenbildner Johannes Schütz sagen oft gar nichts und kochen, angewidert vom profanen Fragefrevel, vor sich hin. Und Michael Thalheimer vermutet hinter Deutungsangeboten stets den Phantomverriss. Klar gibt es Gegenbeispiele, etwa Jan Bosse oder Thomas Ostermeier. In der Regel aber spricht man mit Vorliebe über religiöse Erfahrungen. Über überwältigende Emotionen, unglaubliche Ensembleleistungen und die schöne Stimmung auf den Proben. Gelogen ist das bestimmt nicht. Aber zuweilen forciert wie die Andacht einer angeschickerten Bibelgruppe."

Weitere Artikel: Tobias Rapp fordert sofortigen Weltkulturerbestatus für den Berliner Club "Berghain", der nicht nur europäischen Easyjet-Ravern Spaß bietet, sondern jetzt auch noch neue Lautsprecherboxen hat. Auf der Meinungsseite warnt der Publizist Rifat Bali aus Anlass des Türken-Juden-Vergleichs von Faruk Sen - den Bali mindestens "populistisch" findet - im Interview auch vor türkischem Antisemitismus.

Besprochen werden die Doppelausstellung der Künstlerinnen Andrea Zittel und Monika Sosnowska im Schaulager Basel, Olivier Schrauwens Comic "Mein Junge" und Bücher, darunter Claude Leforts 68er-Essays "Die Bresche" und Tom Segevs Klassiker "Die ersten Israelis" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

In der zweiten taz findet Nina Apin, dass die neue US-Botschaft doch bestens an einen fürs Leben in Berlin total uninteressanten Ort wie den Pariser Platz passt. Julia Niemann vermeldet, dass Google jetzt laut Gerichtsbeschluss die YouTub-Logfiles an Viacom herausrücken muss. Im taz mag schreibt Uwe Rada eine lange Liebeserklärung an die Memel als den Fluss, der durch Bescheidenheit berückt. Wie wenig europäische Flüsse mit unberührter Natur zu tun haben, erläutert Jan Feddersen.

Und Tom.

Welt, 05.07.2008

Schluss mit dem demokratischen Mittelmaß! In der Literarischen Welt fragt Thea Dorn, warum Sportler eigentlich nicht dopen dürfen - Jörg Immendorff und Pete Doherty hätte das Koksen ja auch nicht geschadet: "Was bedeutet es, wenn wir uns vom Prinzip des 'höher, schneller, weiter', das von jeher der Zivilisationsmotor war, verabschieden? Gesellschaften können nicht nur am Größenwahn zugrunde gehen. Sondern ebenso im geduldigen Mittelmaß versinken. Und entgegen populärer Selbsteinschätzung ist letzteres in Demokratien die realere Gefahr. Deshalb brauchen wir Individuen, die um jeden Preis über die Grenzen des Natürlichen hinausgehen wollen. Und vielleicht ist es kein Zufall, dass in den Mythen, die von solchen Grenzüberschreiten handeln, verbotene Substanzen eine prominente Rolle spielen: Eva biss in den Apfel vom Baum der Erkenntnis. Faust wurde für seinen Teufelspakt mit einem dubiosen Trank belohnt. Belohnen wir die Fausto Coppis, Tom Simpsons und Marco Pantanis wenigstens posthum damit, dass wir den Sport vom Reinheitsgebot und der damit verbundenen Heuchelei erlösen."

Im Feuilleton fordert Dankwart Guratzsch nach dem Unesco-Ultimatum gegen Dresden: Die Stadt soll den Brückenbau stoppen. Der Schriftsteller Rolf Schneider bekennt seine Affinität zu Wachsfigurenkabinette, weswegen er auch einem dort ausgesteltten Adolf Hitler etwas abgewinnen kann. Sven Felix Kellerhoff kommentiert fassungslos, wie weich die kommunistischen Verbrechen in russischen Schulbüchern gezeichnet werden. Rainer Haubrich weist darauf hin, dass man über die Berliner Botschafts-Architektur streiten mag, im Innern der Repräsentationbauten aber, "in der Wohnwelt der Diplomaten ist die Moderne mausetot". Tilman Krause schreibt den Nachruf auf den schillernden Berliner "Universalpoeten" Nicolaus Sombart. Besprochen wird die Zürcher "Carmen" mit einer antiromantischen Vesselina Kasarova.

FAZ, 05.07.2008

Pfeifen Sie auf die Sterne, die der Münchner Koch Karl Ederer nicht hat, rät Jürgen Dollase. Probieren Sie seine purifizierte Küche. "Das 'Seewolffilet, im Aromadampf gegart, mit einem japanischen Meeresalgen-Gurkensalat und Wasabi-Marinade' serviert Ederer in zwei getrennten Partien: die eine mit Wasabi, die andere, identisch aufgebaut, ohne. Wieder fasziniert zuerst die Reinheit der Komposition, die auf das ungebrochene Zusammenspiel von Algen, Salicornes, Gurkenscheiben, etwas Frisesalat und Pilzen baut - und das zu einem hauchfein aromatisierten Fischstück. Die Variationsbreite von Jod und Chlorophyll ist elegant."

Weiteres: Andrea Jeska zweifelt an der Partnervermittlungsfähigkeit des Internets. Alexander Cammann verfolgt im Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung eine Diskussion über den Begriff der "politischen Kultur". Lorenz Jäger schreibt einen kurzen Nachruf auf den Kultursoziologen Nicolaus Sombart. Dass das Festival "Theater der Welt" in Halle "apart" geblieben ist, möchte Irene Bazinger in ihrem Resümee als Kompliment verstanden wissen. Rose-Maria Gropp gratuliert dem Schriftsteller Bodo Kirchhoff zum sechzigsten Geburtstag. Im Medienteil annonciert Michael Hanfeld, dass das ZDF seine drei digitalen Kanäle umgestaltet.

In Bilder und Zeiten gleitet die FAZ langsam in die Ferien hinein. Marcus Jauer tingelt durch die Sommerfeste von Politik und Medien. Patrice Chereau gratuliert dem Kollegen Luc Bondy zum Zürcher Festspielhaus. Edo Reents berichtet von einem erfolglosen Versuch, sich ein paar Lieder der Felice Brothers runterzuladen. Auf der letzten Seite erfährt Wolfgang Sandner vom Jazzpianisten Hank Jones, wie man in dem Geschäft neunzig Jahre alt wird. "Ich rauche nicht, trinke nicht, nehme keine Drogen und gebe mich nicht mit ausgeflippten Frauen ab."

Besprochen werden die Ausstellung mit Bildern des Renaissancemalers Sebastiano del Piombo in der Berliner Gemäldegalerie, Matthias Hartmanns Inszenierung von Bizets Oper "Carmen" am Opernhaus Zürich, ein Konzert der amerikanischen Band "My Morning Jacket" in Köln, Al Greens Album "Lay It Down" und die "Heritage"-Reihe des Londoner Royal Opera House und Bücher wie Roland Barthes' Vorlesungen aus den Jahren 1978 bis 198 (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).