Heute in den Feuilletons

Riesenburger grillen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.07.2008. In der Welt erklärt Jonathan Franzen, warum er Berlin liebt: Es ist ein Schatten seiner selbst. Die Berliner Zeitung weiß, warum es in der Berliner Staatsbibliothek künftig keinen Sinn hat, nach neuen Büchern zu suchen. Die FR rät: Keine Angst vor den Chinesen. Die NZZ blickt in die Zukunft des Kinos, die digital sein wird. Die Blogs schreiben über ein Gerichtsurteil, das Google zwingt, Nutzerdaten an die Musikindustrie herauszugeben.

Welt, 04.07.2008

Wieland Freund führt ein hübsches Gespräch mit Jonathan Franzen, der zur Eröffnung der amerikanischen Botschaft in Berlin zu weilen scheint und über die Vorzüge der deutschen Sprache und Literatur spricht - und über Berlin: "Es ist großartig, in eine Stadt zu kommen, die die Struktur und ein Stück vom Ehrgeiz einer wahren Weltklassestadt hat, aber in gewisser Weise verletzt ist. Berlin ist ein Schatten seines früheren Selbst. Das ist sehr bewegend."

Peter Zander informiert noch einmal über die wiedergefundenen Szenen von Fritz Langs "Metropolis". Rainer Rother vom Filmmuseum in Berlin bekundet im Gespräch seine Freude und stellt das Internetprojekt "Lost Films" vor: "Da dokumentieren wir zunächst 33 sehr berühmte deutsche Filme, darunter von F. W. Murnau und Fritz Lang, die verloren sind nach bisherigem Kenntnisstand. Wir tragen zusammen, was über Fotografien, Plakate, Drehbücher, Zensurkarten etc. über die Titel gesagt werden kann, so dass diese Missing links zumindest in dieser Weise wieder in die Filmgeschichte inkorporiert werden."

Weitere Artikel: Rainer Haubrich wundert sich, dass die architektonische Restauration nach Frauenkirche und Stadtschloss nun bei zweitrangigen Monumenten wie dem Berliner Staatsopernsaal angekommen ist. Berthold Seewald bereitet uns auf eines der Jubiläen des an Jubiläen reichen Jahre 2009 vor, den 150. Geburtstag Wilhelms II, über dessen Rolle der Wilhelm-Biograf John C.G. Röhl weitere 1.600 Seiten (nach den ersten Bänden mit 1.000 und 1.400 Seiten) herausbringen wird. Besprochen werden ein Konzert mit Jack White & The Raconteurs in Berlin und eine Opernversion von David Cronenbergs Film "Die Fliege" in Paris

Maxeiner & Miersch meditieren in ihrer gleichnamigen Kolumne über das Webmagazin Utopia.de, das ein Werbeumfeld für Green Glamour schafft: "Dahinter steckt die populäre Vorstellung, dass man durch ausgetüfteltes Konsumverhalten einer Klimakatastrophe entkomme. Und so findet man dort hauptsächlich Tipps, welche Handtasche oder welcher Kaffee das Weltklima stabilisieren."

TAZ, 04.07.2008

Das Pergamonmuseum schickt sich in einer neuen Ausstellung an, die ganze Wahrheit über Babel herauszufinden. "Beispiellos" umfassend geschieht das laut Catherine Framm und Brigitte Werneburg, aber vollständig ist es bei weitem nicht. "Wo bleiben die Frauen?" Kein Wort dazu, wie sie langsam von den Männern verdrängt wurden. "Der Codex Hamurabi etwa hatte in dieser Hinsicht nachhaltige Wirkungen. Durch die Regelung der Abtreibung und Geburtenkontrolle stellte er die weibliche Sexualität unter staatliche Kontrolle. Von der Sitte, dass die heiratsfähigen Frauen an den Ehemann verkauft wurden, waren selbst Frauen von Status und Herkommen nicht ausgenommen. 1250 v. Chr. gab das mittelassyrische Recht dem Staat schließlich das Aufsichtsrecht über die Verschleierung der Frauen in der Öffentlichkeit."

Weiteres: Nur online berichtet Julia Niemann, dass Google und Youtube jetzt von einem New Yorker Gericht gezwungen wurden, Nutzerdaten an die urheberrechtsbesorgte Viacom herauszugeben. In der zweiten taz macht sich Cigdem Akyol nach Stuttgart und Lörrach auf, um zwei Exemplare der seltenenen Gattung von Richtern aufzusuchen, die keine deutschstämmigen Eltern haben.

Besprochen werden Becks Album "Modern Guilt" und John Stevensons etwas zu ernster Animationsfilm "Kung Fu Panda".

Und Tom.

Berliner Zeitung, 04.07.2008

Wer eine gute Bibliothek sucht, sollte nach Amerika gehen. In der Berliner Staatsbibliothek gilt ab jetzt nämlich ein striktes Bücherkaufverbot, berichtet Reinhard Markner: "Deutschlands größte Bibliothek wird dieses Jahr keine Bücher mehr kaufen, die nicht schon geordert sind. Das hat zwar keine guten, aber doch zwingende Gründe. Der Erwerbungsetat, der 2000 bereits knapp 25 Millionen DM erreicht hatte, blieb im vergangenen Jahr unter der 10-Millionen-Euro-Marke, und für 2008 ist kurzfristig eine weitere Absenkung um eine Million Euro vorgesehen."
Stichwörter: Bibliotheken

Aus den Blogs, 04.07.2008

Die Gerichte werden das Internet in Zusammenarbeit mit der Medienindustrie schon noch kaputtkriegen. "Google soll alle Youtube-Logs an Musikindustrie übergeben", melden Netzpolitik.org und andere Blogs. Ein amerikanisches Gericht hat entschieden: "Damit Viacom von Google Geld verlangen kann, sollen die Daten aller Menschen, die sich jemals ein Youtube-Video (auch wenn es woanders eingebettet war) angesehen haben, an Viacom übergeben werden."

Tagesspiegel, 04.07.2008

Bora Cosic beklagt das Ende des satirischen Blatts Feral Tribune in Kroatien: "Ich hoffe, die Nachricht, dass der Feral sein Licht löschen musste, hat die Freigeister in Deutschland aufgeregt und verwundert. Weil das in ebenjenem Land geschieht, wo Leute, die der Kriegsverbrechen angeklagt sind, zu Helden hochstilisiert werden, wo man sich auf dem Hauptplatz in diesem Staat das Konzert des populären Sängers Thompson anhört, der die allzu geringe Effektivität der Konzentrationslager beklagt."

FR, 04.07.2008

Keine Angst vor den Chinesen, fordert Robert Schröpfer. Die entwickeln sich noch wie die Deutschen! Die überschwemmten im 19. Jahrhundert das britische Empire "nicht nur mit Ware 'cheap and bad', sondern scheute auch vor Produktpiraterie und Industriespionage gegen die damals führende Industrie- und Handelsmacht England nicht zurück: Methoden, die im 21. Jahrhundert eher einer anderen Wirtschaftsmacht nachgesagt werden, die sich wie Deutschland damals vom Agrar- zum Industrieland aufschwingt." Und was war? Deutschland entwickelte sich so rapide, dass aus "cheap and bad" deutsche Wertarbeit wurde. "Und so wie englische Hersteller bald dazu übergingen, deutsche Herkunftszeichen zu fälschen, erscheint es auch heute nicht mehr unvorstellbar, dass einmal deutsche Firmen ihre Waren als 'warranted made in China' ausgeben, um vom Renommee der dann 'garantiert chinesischen Wertarbeit' zu profitieren."

Weitere Artikel: Beklemmend findet Christian Thomas die amerikanische Botschaft am Potsdamer Platz, und er weiß sich damit nicht allein: "'Schwere Verluste für die urbanen Rituale' nannte das vor einigen Wochen der einst bärenstarke Mann von Berlin, Hans Stimmann, sprach von einem obendrein 'unverständlichen Gemenge von Glasvorbauten und Eingangstoren', vom 'verpollerten Gesicht der USA', dem Holocaustmahnmal direkt gegenüber." In Times Mager schildert Ina Hartwig eine unbehagliche, von der türkischen Regierung organisierte Journalistenreise in die Türkei.

Besprochen werden Nikolaus Harnoncourts Inszenierung des "Idomeneo" in Graz und Bücher, darunter Christoph Thens Buch über die Biotechnologie "Dolly ist tot" und ein Band über den "Flick-Konzern im Dritten Reich" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 04.07.2008

Auf der Medienseite blickt Birgit Heidsieck in die Zukunft des digitalen Kinos, das neben dem Schutz vor Raubkopierern auch saftige Investitionskosten für der Kinobetreiber mit sich bringen wird. "Die Digitalisierung ermöglicht es den Kinos, zusätzlich zu den Filmen alternativen Content einzusetzen wie Konzerte, Opern- und Ballettaufführungen, Sport-Events oder Theateraufführungen. Kurzfristig können die Kinos davon profitieren, weil sie für diese Programmangebote einen erheblich höheren Eintrittspreis von bis zu 30 Euro erhalten. Langfristig verliert das Kino dadurch jedoch seine Identität als klassischer Abspielort für Filme, weil es dadurch - ähnlich wie das Fernsehen - zu einer Multimediaplattform für Spartenkanäle mutiert."

Angesichts der größeren Bedeutung von Finanzinvestoren in den Medien plädieren die Medienforscher Otfried Jarren und Pascal Zwicky für eine Stärkung des kulturell eingebundenen Kapitals: "Im Idealfall entzieht es sich den Moden, durchbricht es eine einseitig ökonomische Handlungslogik und verschafft Journalisten damit, auch in einem globalisierten Wirtschaftssystem, den nötigen Freiraum für eine unabhängige und fundierte Arbeit. Letztlich ist das die Basis für das publizistische Geschäft."

Im Feuilleton blickt Felix Philipp Ingold zurück auf die Geschichte des deutsch-russischen Kulturtransfers, der seit Peter dem Großen so stark war, dass selbst das Slawophilentum vom deutschen Geist geprägt wurde. Ganz dem Schweizer Liberalismus verpflichtet, kommentiert Joachim Güntner etwas befremdet den Fall um die Sterbehilfe des Roger Kusch.

Besprochen werden die Dessous-Ausstellung "Secrets" im Textilmuseum St. Gallen, die Ausstellung "Die 1968" im Historischen Museum Frankfurt, Nikolaus Harnoncourts "Idomeneo"-Inszenierung in Graz, neue Aufnahmen von Helmut Lachenmann, Peter Kurzecks Hörbuch "Ein Sommer, der bleibt" und Politische Bücher (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 04.07.2008

Gerade am Nationalfeiertag würde Jens Bisky etwas Freundliches über die USA schreiben - aber beim Anblick der neuen Botschaft am Pariser Platz helfen die besten Vorsätze nichts: "Angenehme Proportionen, rhythmische Akzente fehlen. Die Eingangsrotunde und die aufgesetzte Laterne fügen sich nicht ins Ganze. Die Fenster sind so klobig geraten wie die osteuropäischer Grundschulen. Die Gitter darüber sehen aus, als wollte hier einer Riesenburger grillen. Die auskragenden Lamellen dienen dem Sonnenschutz und leisten unter ökologischen Gesichtspunkten gewiss Vortreffliches. Elegant aber oder angenehm ins Auge fallend sind sie nicht... Was ist das für eine Großmacht, die derart belanglos baut, sich beinahe ängstlich präsentiert." (Hier ein paar Eindrücke.)

Weitere Artikel: In Auszügen abgedruckt wird ein Vortrag von Chris Dercon, Direktor des Münchner Hauses der Kunst, in dem er die bedenkliche Tendenz privater Kunst-Sammler zur Einrichtung eigener, einander immer ähnlicher "Showrooms" kritisiert. Jörg Königsdorf stellt die südafrikanische Cape Town Opera vor, die mit einer "Porgy and Bess"-Inszenierung nach Deutschland kommt. Stefan Koldehoff erklärt, warum und zu welchen Konditionen es zwischen dem Arp-Verein und dem Land Rheinland-Pfalz zur Trennung kommt. Eine Meldung informiert uns, dass sich der Börsenverein des Deutschen Buchhandels über ein alles in allem sehr erfolgreiches "Rekordumsatz"-Jahr 2007 freut. Jonathan Fischer gratuliert dem Soul-Sänger Bill Withers zum Siebzigsten.

Auf der Medienseite sieht Caspar Busse die Fronten bei der Berliner Zeitung nach dem Sieg der Geschäftsführung vor Gericht erst recht verhärtet: "Einige sprechen von zwei Zügen, die aufeinander zurasen. Am Ende könnte die Berliner Zeitung auf der Strecke bleiben."

Besprochen werden ein Liederabend mit Dorothea Röschmann in München und Bücher, nämlich Hanns Josef Ortheils und Klaus Siblewskis Band "Wie Romane entstehen" und der deutschen Erstübersetzung von William Blakes Satire "Eine Insel im Mond" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 04.07.2008

Patrick Bahners hat eine friedliche Revolution zu vermelden, die, wie es sich für deutsche Revolutionen gehört, im Amtsblatt verborgen war: "Der deutsche Gesetzgeber hat eine Revolution beschlossen, und niemand hat es bemerkt. Erst ein Aufsatz in einer Fachzeitschrift hat jetzt die öffentliche Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass das zum 1. Januar 2009 in Kraft tretende neue Personenstandsgesetz die Möglichkeit schafft, kirchlich zu heiraten, ohne eine Ehe im Sinne der staatlichen Gesetze zu schließen."

Weitere Artikel: Rainer Hermann hat sich mit dem Historiker Fuad Sezgin unterhalten, der in Istanbul ein jetzt eröffnetes Museum für arabisch-islamische Wissenschaftsgeschichte gegründet hat. Mit einer Aussage Kafkas zur "schrecklichen inneren Lage dieser Generation" setzt sich Marcel Reich-Ranicki in der neuen "Kafkas Sätze"-Serie auseinander. Oliver Tolmein, der ein scharfer Kritiker der Suizidbeihilfe ist, hält dennoch ein geplantes Gesetz, das schon deren geistige Wegbereiter bestrafen will, für rechtstaatlich höchst bedenklich. Gar nicht glücklich ist Dieter Bartetzko über das "Architektur gewordene Reader's Digest", als das sich die neue Amerikanische Botschaft am Pariser Platz für ihn darstellt. Eduard Beaucamp macht auf eine "Raus aus den Museen"-Tendenz unter deutschen Privatsammlern aufmerksam. Jürg Altwegg hat in Schweizer Zeitschriften geblickt, aber auch in deutsche Zeitschriften, die in die Schweiz geblickt haben. Andreas Kilb porträtiert Gary Smith, Leiter der vor zehn Jahren gegründeten American Academy in Potsdam. In der Glosse hat Hubert Spiegel ein Potpourri aus Martin Walser, Marcel Reich-Ranicki und dem Zeitgeist zusammengestellt. Edo Reents gratuliert dem Soul-Sänger Bill Withers zum Siebzigsten. Zum Tod des Museumsdirektors Gerhard Storck schreibt Andreas Rossmann.

Auf den Wirtschaftsseiten zeigt Springer-Chef Mathias Döpfner in einem Gespräch unter anderem großen Optimismus, was die Internet-Entwicklungen des Verlags angeht: "Ich kann mir aber vorstellen, dass unser Haus in etwa zehn Jahren die Hälfte von Umsatz und Gewinn online erwirtschaftet. "

Besprochen werden der von Nikolaus Harnoncourt in Graz als "Gesamtkunstwerk" aufgeführte "Idomeneo", das Eröffnungskonzert von Joan Baez' Deutschland-Tournee in Wattenscheid (!), der Will-Smith-Film "Hancock" und Bücher, darunter Sarah Shun-lien Bynums Roman "Madelaine schläft" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).