Heute in den Feuilletons

Danton ist nicht Hitler!

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.07.2008. In der NZZ sucht Ralf Dahrendorf den Weg zum wahren Europa. Die Welt liest ein Schwarzbuch der Französischen Revolution. Die FAZ fragt: Wie stellt sich ideale Schönheit in den Hirnaktivitäten dar? In der Achse des Guten googelt Hannes Stein das Wort "Existenzrecht". Und die Medienlese nennt zehn Gründe gegen das Netz.

NZZ, 02.07.2008

Nach dem irischen Nein fordert der Soziologe und einstige EU-Kommissar Ralf Dahrendorf Europa völlig neu zu denken. Denn der Weg nach Europa führe nicht über Brüssel: "Wir müssen Abschied nehmen von der Sachlogik a la Monnet und Hallstein. Vielleicht müssen wir weiter zurückgehen - zu Winston Churchill und auch zu den Europäern der ersten Stunde, zu Adenauer und Schuman und De Gasperi. Jedenfalls sollten wir noch einmal zu den Grundfragen zurückkehren: Wie kann Europa Frieden und Freiheit für seine Bürger im Lichte alter wie neuer Bedrohungen sichern? Das ist die irische Frage, die Frage also, die die Bürger Europas stellen. Die Antwort wird nicht leicht zu finden sein, doch ist sie des Schweißes der Edlen wert. Nachzudenken ist nicht über krampfhafte Versuche, aus Brüssel doch noch Europa zu machen, sondern über einen neuen Ansatz. Man könnte vielleicht von einem Bund europäischer Demokratien sprechen, wenn das Wort 'Bund' sich übersetzen ließe in die anderen Sprachen. Dabei geht es um die Haltung zu den großen Fragen von Frieden und Freiheit." Nicht um Gurken.

Weiteres: Marc Zitzmann berichtet vom Wirbel in Frankreich um Carla Brunis anstehendes Album "Comme si de rien n'etait". Alfred Zimmerlin war auf dem Klassik-Festival "Boswiler Sommer".

Besprochen werden Frank Hilbrichs Aufführung der "Walküre" in Freiburg, Roger Sabloniers Studie über die "Gründungszeit der Eidgenossenschaft" und Kinderbücher (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 02.07.2008

Neben seinen Erkundungen in Queens (heute in der Welt) bleibt Hannes Stein ein wenig Zeit zum Surfen, wie er heute in der Achse des Guten schreibt: "Ich habe gerade ein kleines Experiment veranstaltet, wie es nur in Zeiten des Internet möglich ist, und das schöne deutsche Wort 'Existenzrecht' gegoogelt. Erleichtert kann ich berichten, dass ich, nachdem ich mich durch circa zehn Seiten mit Internetadressen gekämpft hatte, immerhin drei Einträge gefunden habe, wo auf 'Existenzrecht' nicht das Wort 'Israels' beziehungsweise die Formel 'des jüdischen Staates' folgte: Einmal stellt ein Schlaumeier die Frage, ob ein 'Indianer' das 'Existenzrecht der USA' anerkennen müsse, dann geht es irgendwo um das Existenzrecht der NPD und-last but not least-des Bundeslandes Bremen."

Ronnie Grob greift eine Idee der Zeit online auf, die eine Anti-Web-Bewegung vermisst und verfasst in Medienlese ein Manifest mit "Zehn Gründen gegen das Netz", einer davon: "Es verwaltet meine Bücher, meine Freunde, meine Geschäftspartner, es sagt mir die anstehenden Geburtstage meiner Mitmenschen und übersetzt mir Wörter, die ich nicht verstehe. Eigentlich warte ich nur noch darauf, dass es mir eine angenehme Rücken- oder Fußmassage gibt..."

TAZ, 02.07.2008

Christina Nord unterhält sich mit Regisseur Mike Leigh über dessen Film "Happy-Go-Lucky" und die Hauptfigur darin, eine eine Londoner Grundschullehrerin, die stets guter Dinge ist. Leigh meint: "Andere würden einfach das Feld räumen, aber sie redet mit den Leuten, sie gibt ihnen eine Chance. Ihrem Fahrlehrer begegnet sie mit viel Humor, was aber in letzter Konsequenz nichts hilft, weil er auf geradezu pathologische Weise humorlos ist. Mich faszinieren Menschen ohne Sinn für Humor. Das ist eines der lustigsten Dinge auf der Welt."

Weiteres: Benno Schirrmeister führt durch die erste deutsche Einzelausstellung des dänischen Künstlers FOS in der Bremer Gesellschaft für Aktuelle Kunst, eine begehbare - laut Künstler "familienfreundliche" - Großinstallation. Besprochen werden außerdem die Actionkomödie "Hancock" von Peter Berg mit Will Smith und in tazzwei das Buch "Joschka Fischer and the Making of the Berlin Republic: An Alternative History of Postwar Germany" des in Berlin lebenden amerikanischen Journalisten Paul Hockenos (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Und hier Tom.

Welt, 02.07.2008

Das wäre wohl ein Buch ganz nach Martin Mosebachs Geschmack! Johannes Wetzel stellt ein in Frankreich erschienenes "Livre noir de la Revolution francaise" vor, in dem unter anderem die Massenmorde in der Vendee während des Terrors noch einmal angeprangert werden, die Revolutionäre aber auch gleich als Vorläufer der Faschisten eingeordnet werden: "Da fühlen sich die etablierten Geschichtsforscher zurecht angegriffen: 'Nein, Danton ist nicht Hitler!', ruft die Historikerin Mona Ozouf aus, neben Furet Mitherausgeberin des 'Kritischen Wörterbuchs der Französischen Revolution'. Für sie ist das 'Schwarzbuch der Französischen Revolution' bloß ein Versuch, nach vielen anderen 'Entschuldigungen' der Nation - für den Sklavenhandel oder die Kolonisation - nun auch 'Buße für die Französische Revolution' zu erzwingen."

Weitere Artikel: Heute tagt die Unesco-Welterbe-Kommission in Quebec, wo sie auch über die Waldschlösschenbrücke in Dresden und den Aufnahmeantrag einiger Berliner Reformsiedlungen aus den zwanziger Jahren berät, berichtet Dankwart Guratzsch. Michael Pilz hat Rolling Stone gelesen, wo Barack Obama (Interview) den Inhalt seines Ipod und damit einen insgesamt nicht sehr originellen Musikgeschmack offenlegte. Rainer Haubrich lässt kein gutes Haar an der Architektur der neuen amerikanischen Botschaft, er findet aber auch: "Die wichtigste Botschaft der US-Repräsentanz ist, dass sie überhaupt dort steht am Pariser Platz in der Mitte der deutschen Hauptstadt." Und Hannes Stein ergeht sich in Queens, wo Götter des Jazz wie Louis Armstrong und Ella Fitzgerald ihre heute Besuchern offenstehenden Häuser hatten.

FR, 02.07.2008

Christian Thomas besichtigt die gigantische Baustelle von Frankfurts Universität. Oliver Rehlinger instruiert uns über das Projekt Nossendorf, für das Regisseur Hans Jürgen Syberberg Abertausende von Foto gesammelt ins Netz gestellt hat, die von seiner Rückkehr in die Mecklenburgische Heimatprovinz erzählen. Jürgen Otten besucht Istanbuls Music Festival. In Times Mager studiert Judith von Sternburg Bärenbabies. Besprochen wird W.J.T. Mitchells Medienstudie "Bildtheorie".

Auf der Medienseite berichtet Tobias Romberg von einer neuen Initiative für freie Journalisten: "Freischreiber". Daland Segler meldet, dass heute in Sachen Berliner Zeitung gegen den eigenen Chef vor dem Arbeitsgericht verhandelt wird.

FAZ, 02.07.2008

Semir Zeki, Inhaber des ersten Lehrstuhls für Neuroästhetik, erklärt das Verhältnis seines Fachs zu den Geisteswissenschaften und präsentiert die Fragen, die die Neuroästhetik umtreiben: "Frühere Generationen von Neurobiologen haben sich gescheut, Fragen folgender Art zu stellen: 'Wie stellt sich ideale Schönheit in den Hirnaktivitäten dar?', 'Welche Beziehung besteht zwischen Schönheit und Belohnung oder Lust?', 'In welchem Verhältnis steht sie zum Schmerz?', 'Wie ist das Verhältnis zwischen Hirnaktivität und Kreativität?' Moderne Neurobiologen begrüßen die Möglichkeit, solche Fragen in einem streng wissenschaftlichen Rahmen zu untersuchen, vor allem da wir in den letzten zwei Jahrzehnten so viel über das Gehirn einschließlich des emotionalen Gehirns gelernt haben."

Weitere Artikel: Der Städelschul-Leiter und designierte Venedig-Biennale-Kurator Daniel Birnbaum war in Stockholm, wo sich das Moderna Museet zu seinem fünfzigsten Geburtstag vom Architekten Renzo Piano einen Kunstvorführapparat hat bauen lassen. Lorenz Jäger weiß, warum in Frankreich das Urteil der "Grand Orient"-Freimaurer-Loge auch bei Politmagazinen gefragt ist. Andreas Rossmann hat die in den Kölner Dom zurückgekehrt "Katharina"-Figur besichtigt. In der Glosse wird Jürgen Kaube auf der Suche nach Kandidaten für einen neu ausgeschriebenen Preis für seltsame Buchtitel schnell fündig, von "Blitzkeksen" bis zu "Kleinen geilen Firmen". Gerhard R. Koch war in Kapstadt und stellt die dortige Oper vor, die im Juli für ein Gastspiel mit "Porgy and Bess" nach Berlin kommt. Ingeborg Harms hat eine Berliner Tagung zur Rolle der türkischen Frau in der Literatur besucht. Christian Geyer porträtiert den Wissenschaftshistoriker Michael Hagner, der in diesem Jahr den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa erhält. Karen Krüger meldet, dass der wegen eines Juden-Türken-Vergleichs fristlos gekündigte Leiter des Zentrums für Türkeistudien Faruk Zen jetzt vor Gericht geht. Gerhard Rohde gratuliert dem Dirigenten Sylvain Cambreling zum Sechzigsten. Vermeldet werden die Verleihung des Candide-Preises (15000 Euro) an Martin Kluger, die des Joseph-Breitbach-Preises (50000 Euro) an Marcel Beyer. Auf der Medienseite unterhält sich Jan Freitag mit dem Schauspieler Armin Müller-Stahl, der auch mit siebenundsiebzig international noch bestens im Geschäft ist.

Besprochen werden ein Konzert des Pat Metheny Trio in Darmstadt, John Neumeiers neue Hamburger Choreografien "Josephs Legende" und "Verklungene Feste", eine "Aida" in der Arena von Verona (Dirk Schümer befasst sich aber in erster Linie mit der Finanznot des Freiluftfestivals), der neue DreamWorks-Animationsfilm "Kung Fu Panda" und Bücher, darunter Bärbel Reetz' Roman "Lenins Schwestern" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 02.07.2008

Zwei Artikel befassen sich mit dem Unglück der SPD: Lothar Müller erinnert an ihre historischen Verdienste, die nie recht gewürdigt wurden. Jens Bisky vermisst ihren Glauben an die Zukunft. Wolfgang Schreiber hörte Vertonungen von Rückert-Gedichten in der Liederwerkstatt des Bad Kissinger Sommer-Festivals. Fritz Göttler berichtet über den drohenden Schauspielerstreik in Hollywood. Alexander Menden nimmt das von Ian McEwan verfasste Libretto für Michael Berkeleys - bisher noch nicht aufgeführte - Oper "For You" auseinander. Jörg Königsdorf war bei der Eröffnung des 60. Opernfestival in Aix-en-Provence mit einem von Simon Rattle dirigierten "Siegfried" und der Aufführung von Pascal Dusapins neue Oper "Passion".

Besprochen werden Mike Leighs neuer Film "Happy-Go-Lucky", die Ausstellung "Weiter als der Horizont. Kunst der Welt" im Völkerkundemuseum München, Joachim Meyerhoffs Soloabend "Alle Toten fliegen hoch" am Wiener Burgtheater und Bücher, darunter Michael Hampes "kurze Geschichte des Naturgesetzbegriffs" und Reinhard Kaiser-Mühleckers Erstlingsorman "Der lange Gang über die Stationen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).