Heute in den Feuilletons

Die ersten wirklichen Europäer

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.06.2008. Vor dem großen Halbfinale: In der Welt bekennt Zafer Senocak seine gespaltenen - oder doppelten - Loyalitäten. Auch in Frankreich wird über Journalismus im Internetzeitalter debattiert, wie ein Artikel von Pascal Riche in Le Monde zeigt. Die FR schildert eine denkwürdige Begegnung zwischen Tariq Ramadan und Jürgen Habermas. Die FAZ macht sich Sorgen um Olafur Eliasson: je monumentaler seine Werke, desto dekorativer.

Welt, 25.06.2008

Vor dem großen Spiel zwischen Deutschland und der Türkei bekennt Zafer Senocak seine gespaltenen - oder doppelten - Loyalitäten. Aber so ganz glücklich ist er mit der heutigen Inszenierung und emotionalen Aufladung des Fußballs nicht: "Für alles Mögliche muss der Fußball heute herhalten. Er tröstet, er stachelt an, er heilt. Angeblich. Die Deutschen und ihr gekränktes Nationalbewusstsein hängen nun auch am Fußball und fliegen durch die Luft, wenn ein Treffer für Deutschland fällt. Bei den Türken verhält es sich nicht anders, die türkische Seele, die sich von Europa gekränkt und gedemütigt fühlt, sucht Zuflucht unter dem verschwitzten Hemd ihrer Fußballhelden. Die Deutschen entdecken ihre Tugenden wieder, als hätten sie die jemals aufgegeben, und die Türken tun so, als wären sie die besseren Deutschen."

Weitere Artikel: Berthold Seewald widmet dem "Staunen machenden Unternehmen" einer Ausstellung über Wirklichkeit und Mythos von Babylon, die heute im Berliner Pergamonmuseum eröffnet, die ganze Aufmacherseite des Feuilletons. Matthias Heine kommentiert den Umstand, dass Suhrkamp eine kleine Monografie über Johnny Cash herausbringt, als Aufnahme der Countrymusik in die Suhrkamp-Kultur. Manuel Brug gratuliert Claudio Abbado nicht ohne die eine oder andere liebevolle Spitze zum 75. Geburtstag. Thomas Vitzthum interpretiert die "Illustrative", in der Werke von Illustratoren ausgestellt werden, als möglicherweise neueste Tendenz des losgelassenen Kunstmarkts. Martina Scheffler besucht eine Ausstellung in Ulm über den dort 1958 geführten ersten großen NS-Prozess der Nachkriegsgeschichte. Manuel Brug kommentiert den Abschied Andreas Homokis von der Komischen Oper Berlin - er geht nach Zürich und überlässt seinen Posten dem australischen Enfant terrible Barry Kosky. Und Thomas Lindemann porträtiert Ralph Baer, einen Pionier der Computerspiele, der seine prähistorischen Gerätschaften einem Museum übergab.

NZZ, 25.06.2008

Andrea Köhler resümiert die jüngsten Verwerfungen im amerikanischen Wahlkampf, in dem sich der Machismo der weißen Männer nicht mehr gegen Hillary Clinton, sondern gegen Barack Obama richtet: "Die entsprechenden Adjektive heißen 'hysterisch', 'zimperlich' oder 'metrosexuell'. Die New York Post brachte die Besorgnis in SMS-Abbreviatur auf den Punkt. 'Bam: Our 1st Woman Prez?' titelte das Klatschblatt."

Weiteres: Uwe Justus Wenzel widmet sich den Ergebnissen einer Ethik-Kommission, die ergründen sollte, inwieweit die Verfassungsrang genießende "Würde der Kreatur" auch für Pflanzen gelte: Gentechnik geht in Ordnung, nicht aber das grundlose Köpfen von Wildblumen am Wegesrand. Michael Hampe erinnert an den amerikanischen Philosophen W. V. O. Quine, der vor hundert Jahren geboren wurde. Barbara Villiger Heilig schreibt den Nachruf auf die italienische Schriftstellerin Fabrizia Ramondino.

Besprochen werden Winston S. Churchills Sudan-Bericht "Kreuzzug gegen das Reich des Mahdi", die beiden ersten Bände von Hans Maiers "Gesammelten Schriften" und Mordecai Richlers 68er-Roman "Cocksure".

Weitere Medien, 25.06.2008

Auch in anderen Ländern wird über Journalismus und Internet debattiert. In Le Monde schreibt Pascal Riche, Chefredakteur des sehr empfehlenswerten Onlinemagazins rue89: "Auch wenn das Internet immer wieder als 'Chance' beschrieben wird, empfindet die Branche es als eine scheußliche Bedrohung. Nie schien sie so fiebrig. Zwar verstärken die Zeitungen ihre Netzauftritte, aber häufig zu Tode betrübt und zögernd, 'weil man eben nicht drum rum kommt'. Die Journalisten fühlen sich belagert von jenen Barbaren, die als Surfer, Blogger oder gar 'Kommentatoren' auftreten. Sie klammern sich an ihre Pressekarte und haben das Gefühl zu widerstehen. Dabei bedroht das Internet, wie jüngst der amerikanische Blogger Joshua Micah Marshall bemerkte, die Journalisten, aber nicht den Journalismus."

FR, 25.06.2008

Von einer denkwürdigen Begegnung auf Schloss Elmau weiß Arno Widmann zu berichten: Tariq Ramadan, umstrittener Kämpfer für die europäischen Muslime, traf auf Jürgen Habermas, den "Cheftheoretiker der Neuen Unübersichtlichkeit". Sehr beeindruckt von Ramadan, überlegt Widmann nun selbst, dass es die deutschen Juden waren, die zuerst Deutsche wurde: "Die meisten Deutschen fühlten sich als Hessen, Frankfurter, Bayern, Pfälzer, bevor sie sich als Deutsche begriffen. Die Juden hatte keine Chance, sich als Bayern zu begreifen. Sie wollten Deutsche sein. Vielleicht befindet sich Europa heute in einer ähnlichen Situation. Die Iren sind zuallererst Iren, die Dänen Dänen, die Deutschen Deutsche, die Belgier zuerst Flamen oder Wallonen; den Einwanderern, denen es verwehrt wird, Iren, Dänen, Deutsche zu werden, von denen aber verlangt wird, europäischer zu sein, als die Europäer es jemals waren, bleibt nichts anderes übrig, als Europäer zu werden. Sie werden die ersten wirklichen Europäer sein. Ohne Muslime kein Europa."

Auf der Medienseite berichtet Harald Maass, wie Peking die Olympia-Reporter mit unwichtigen Informationen überschüttet: "Mal werden die Medienvertreter über die 'Standardisierung der Englischen Übersetzung der öffentlichen Schilder in Peking' informiert; mal steht die 'Pressekonferenz zur Startzeremonie des Olympischen Zugs der All-chinesischen Jugend' auf dem Programm."

Besprochen werden Volker Löschs Adaption von Lars von Triers "Manderlay" in Stuttgart, Klaus-Jürgen Müllers Biografie "Generaloberst Ludwig Beck" und Rick Moodys Novellen "Paranoia".

Perlentaucher, 25.06.2008

Robin Meyer-Lucht erklärt im Perlentaucher, warum der kürzlich vorgestellte Rundfunkstaatsvertrag so ein Flop ist: "Rundfunkfreiheit 2.0 ist schwer durchsetzbar, denn sie läuft zugleich den Interessen von Politik, Rundfunkanstalten und Verlagen entgegen. Die Politik würde ihre Macht an die externe Aufsicht verlieren und könnte weniger im Hinterzimmer regeln. Die Rundfunkanstalten müssten einen spezifischen Auftrag und strengere Aufsicht akzeptieren. Die Verlage müssten hinnehmen, dass es zukünftig online in ihrem Geschäftsfeld einen gebührenfinanzierten Mitbewerber gibt."
Stichwörter: Rundfunkstaatsvertrag

TAZ, 25.06.2008

Tobias Kargoll porträtiert den rheinländischen Rapper Favorite, dessen Comic-Rap die offenbar ebenso klamme wie ratlose Szene aufmischt. "Ob harmlosere Charaktere nun mehr erreichen werden, bleibt offen. Doch irgendwie ist nun die Zeit gekommen für ein paar erfrischende Chaoten, bevor die nächste Gangstawelle die Jugend fluten kann. Sogar Aggro-Aushängeschild Sido reagierte auf die geänderte Marktlage bereits, indem er in seiner aktuellen Single einen Kinderchor gewalthemmend 'Mama, mach die Augen auf' singen lässt."

Weiteres: Katrin Bettina Müller berichtet über das Festival Theater der Welt in Halle. Dirk Knipphals würdigt im Nachruf die "gigantische Aura" des Theaterregisseurs Klaus Michael Grüber. Niklaus Hablützel kommentiert den Intendanzwechsel an der Komischen Oper Berlin, wo Barrie Kosky ab 2012 den ans Opernhaus Zürich wechselnden Andreas Homoki ablösen wird.

Und hier Tom.

SZ, 25.06.2008

Thomas Steinfeld berichtet von einer Revolte im Deutschen Literaturarchiv in Marbach: Die Schillergesellschaft (der Bürgerverein, der das Literaturarchiv trägt), protestierte mit der Abwahl von vier Mitgliedern des leitenden "Ausschusses" gegen angedeutete Versuche, den Bürgerverein durch eine Stiftung zu ersetzen. Dann wäre es vorbei mit dem "ungewöhnlichen Fall, dass die Angestellten ihren eigenen Chef nicht nur mit seinem Amt betrauen, sondern ihn auch beurteilen".

Joachim Kaiser erinnert sich an Interpretationen des Adagios in Beethovens Hammerklavier-Sonate und an seine Überlegungen, ob es "unendlich langsam" vorgetragen werde muss, um seine "uneinholbare Herrlichkeit" zu entfalten. Hier eine Interpretation von Alfred Brendel:



Weitere Artikel: Franziska Augstein erzählt anlässlich der Buchvorstellung "Das Deutsche Rote Kreuz unter der NS-Diktatur. 1933 - 1945", geschrieben von Birgitt Morgenbrod und Stephanie Merkenich, die nicht sehr rühmliche Geschichte des Deutschen Roten Kreuzes im Dritten Reich nach. Holger Liebs porträtiert den Künstler Damien Hirst als Unternehmer. Till Briegleb besuchte das staatlich geförderte Maritime Museum des ehemaligen Springer-Vorstandsvorsitzenden Peter Tamm: "Was man dort nämlich faktisch lernen kann, ist, wer mit 196 Schiffen die meisten Versenkungserfolge in der Geschichte des U-Boot-Krieges vorzuweisen hat und wie toll die Kameradschaft auf einem deutschen Kriegsschiff der Nazizeit war." Reinhard J. Brembeck beglückwünscht die Zürcher zur Wahl ihres neuen Opernintendanten Andreas Homoki, jetzt noch an der Komischen Oper Berlin: "Eine riskante, zukunftsträchtige Wahl." Malte Dahlgrün erinnert an den vor hundert Jahren geborenen Philosophen Willard Quine. Martina Knoben sah zornige politische Filme aus Italien beim Münchner Filmfest.

Auf der Medienseite kündigt Metro-Chef Per Mikael Jensen an, dass auch Deutschland a la longue mit einer Gratiszeitung beglückt werden wird.

Besprochen werden einige CDs und Bücher, darunter Wolfgang Wiesers Studie "Gehirn und Genom" und Roland Barthes' "Fragmente einer Sprache der Liebe" als Hörbuch (mehr in unserer Bücherschau des Tages).

FAZ, 25.06.2008

Je größer der Großkünstler Olafur Eliasson wird, desto mehr wird sein Werk Ingenieurs- und Dekorationskunst, bedauert Julia Voss. Und größer als gerade geht's kaum noch: "Im East River baut Eliasson vier vierzig Meter hohe Wasserfälle, jede Minute werden Tausende von Litern in die Höhe gepumpt; die Stadt hofft auf einen Touristenansturm und damit verbundenene 55 Millionen Dollar Mehreinnahmen. Eliassons Kunst sprengt die Grenzen bisheriger Superlative. Eliasson wird nicht nur von zahlreichen Medien als 'bedeutendster Künstler der Gegenwart' gefeiert, er ist auch längst zum Liebling von Reiseveranstaltern, Spekulanten und Konzernen wie BMW oder Vuitton geworden. Und irgendwann stellt sich dann doch die Frage: Geht das? Gibt es einen Punkt, wo es umschlägt? An dem ein Künstler monströs wird, seine Werke, wie die Dinosaurier, an ihrer Größe zugrunde gehen?"

Weitere Artikel: Matthias Hannemann erklärt, warum die geschlechterparitätische Ausrichtung des Denkmals zur Erinnerung an die Verfolgung von Schwulen und Lesben im Dritten Reich fehlgeht. Die Historikerin Claudia Schoppmann komme nämlich zum Ergebnis, dass es "keine systematische Verfolgung lesbischer Frauen gegeben hat, die mit derjenigen homosexueller Männer vergleichbar ist". "Anrührend" findet Christian Geyer den Enthusiasmus, mit dem sich Jürgen Habermas für Europa einsetzt (hier, hier und hier). Von der "Theater der Welt"-Veranstaltung, die in diesem Jahr in Halle an der Saale stattfand, berichtet Irene Bazinger. Warum ein Klosterprojekt des Architekten Renzo Piano in der Nähe von Le Corbusiers Kirche in Ronchamp für Ärger sorgt, weiß Joseph Hanimann. Paul Ingendaay weist auf die Eröffnung eines Onlinearchivs für Fotos aus der Zeit der Belagerung Madrids im Bürgerkrieg von 1939 bis 1939 hin. Günter Paul informiert darüber, warum nach neuer wissenschaftlicher Erkenntnis Odysseus am 16. April 1178 v. Chr. nach Ithaka zurückgekehrt ist. Gina Thomas vermeldet die Entdeckung eines erstaunlich Appeasement-geneigten Leserbriefs des Deutschenhassers Ian Fleming aus dem Jahr 1938. Klein meldet auf der Medienseite Michael Hanfeld: "Mit dem Erscheinen des Hefts Nummer 26 vom 23. Juni 2008 hat der Spiegel eine Korrekturspalte eingeführt, wie sie im angelsächsischen Journalismus die Regel ist, während die Fehlerkorrektur in der hiesigen Redaktionspraxis unterschiedlich gehandhabt wird." (So kann man das auch sagen.)

Auf der DVD-Seite werden eine Box mit elf Fußballfilmen, eine Edition von Damiano Daminanis Mafiathriller "Warum musste Staatsanwalt Traini sterben?" und vor allem Billy Wilders bisher nicht auf DVD greifbarer Film-Noir-Klassiker "Double Indemnity" empfohlen.

Besprochen werden Karoline Grubers Leipziger Inszenierung von Richard Strauss' Oper "Ariadne auf Naxos", Nicolas Philiberts Film "Rückkehr in die Normandie" und Bücher, darunter Helge E. Baas' philosophische Studie "Der elende Mensch" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).