Heute in den Feuilletons

Der Mond scheint hell dazu

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.06.2008. Rainald Goetz schließt sein Blog bei Vanity Fair mit Anmerkungen über Walter Kempowski. In der Berliner Zeitung erklärt Julia Kristeva, warum sie sich für weibliche Genies interessiert. Olivier Roy sieht in der FR die Wurzeln der islamistischen Radikalisierung im Westen. In der SZ kommentiert Slavenka Drakulic die Entscheidung der UN, Vergewaltigung als Kriegsverbrechen einzustufen.

FR, 23.06.2008

In einem Interview mit Michael Hesse sieht der französische Islam-Kenner Olivier Roy die Ursache für die Radikalisierung junger Muslime nicht im Islam, sondern in der westlichen Politik: "Der Westen denkt, dass der Islam die Wurzel der Radikalisierung ist, also sehen wir automatisch in Bin Laden den Vorreiter der muslimischen Welt. Vielmehr sollten wir ihn bekämpfen als Terroristen, nicht als Muslim. Faktisch werden junge Menschen nicht deshalb zu Terroristen, weil sie den Koran lesen oder in die Moschee gehen. Sie tun es um der Wirkung willen. Sie sind die wirklichen Erbberechtigten der Ultralinken der 1970er Jahre: besessen von Amerika und der Wall Street, sind sie antiimperialistischer als die Befürworter der Scharia. Ein Blick in die auf Video aufgezeichneten Inszenierungen der Enthauptungen der Geiseln im Irak genügt, um zu sehen, dass es sich um Reproduktionen des Mordes an Aldo Moro durch die Roten Brigaden handelt - das hat nichts zu tun mit der traditionell muslimischen Vorstellungswelt."

In Times Mager staunt Judith von Sternburg über die neue Möglichkeit, sich einen Paparazzo zu mieten. Sybille Oetliker berichtet vom Ärger, den ein Theaterstück Ghassan Kanafanis in Tel Aviv ausgelöst hat: Dem palästinensischen Autor wird vorgeworfen, 1972 als Mitglider der "Volksfront zur Befreiung Palästinas" an einem Anschlag auf den Flughafen von tel Aviv beteiligt gewesen zu sein (woraufhin er vom Mossad getötet wurde).

Die Medienseite berichtet von neuen Sparplänen in Montgomerys Berliner Verlagsholding. In dieser Runde solle 150 bis 200 Mitarbeiter entlassen werden.

Besprochen werden Michael J. Sandels Schrift "Plädoyer gegen die Perfektion", eine Aufführung von "Romeo und Julia" in Bad Hersfeld, eine Ausstellung zu Kirchenbauten während des Nationalsozialismus in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand.

Aus den Blogs, 23.06.2008

Die letzten Zeilen aus Rainald Goetz' Blog bei Vanity Fair: "Es hatte ja aufgehört, nachts überhaupt noch ganz dunkel zu werden, in diesen letzten Nächten kurz vor Sommeranfang, Sonnwendnacht. Feuer werden abge-brannt, Autos angezündet, und der Mond scheint hell dazu. Irgendwann war ich mitten in der Nacht, längst im Hellen, aufgewacht und hatte Kempowskis Somnia fertig gelesen. Es endete sein Tagebuch des Jahres 1991, kurz vor Weihnachten, mit dem in, hier sonst nirgends verwendeten Großbuchstaben gesetzten Wort: SCHLAG-ANFALL. Ein glücklicher Mensch war er wirklich nicht."
Stichwörter: Goetz, Rainald

Berliner Zeitung, 23.06.2008

Sabine Rohlf unterhält sich mit der Theoretikerin Julia Kristeva, deren letztes Buch von "weiblichen Genies" handelt. Unter anderem will sie sich damit gegen die Tendenz wenden, "den Kampf für die Befreiung einer Gruppe auf Kosten der Individualität des Einzelnen gehen zu lassen. Sie kennzeichnet die großen Befreiungsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts, und es gibt sie auch unter Feministinnen. Daher der Appell: Bitte nehmt die Singularität, die individuellen Leistungen aller zur Kenntnis - das ist die Basis für jede Befreiung!"

TAZ, 23.06.2008

Noch ist nichts online bei der taz, deshalb haben wir aus der Printausgabe abgeschrieben.

Dorothea Marcus wundert sich bei der Biennale in Bonn, wie bissig das junge türkische Theater ist. Berkun Oyas "Feuergebet" zum Beispiel. "Eine Frau, ein Mann und eine Art Transvestit sind in einer unseligen Menage-a-trois aneinander gefesselt, in einem verloren Plexiglaskubus der Zukunft, der spektakulär seine Farbe wechselt. Sie sind 2000 Jahre alte, übrig gebliebene Unsterbliche, sitzen im Rollstuhl und ihre Haare stehen zu Berge, weil die Schwerkraft nicht funktioniert. Während sie auf einen Untergang warten, der nie kommen wird, verwickeln sie sich in müde Streitereien und Beschimpfungen. Eine Metapher für ein Istanbuler Lebensgefühl? 'Feuergebet' läuft seit vier Jahren im dortigen Staatstheater und hätte alles, was konservative Türken vielleicht provozieren könnte."

Weiteres: Dirk Knipphals wärmt sich auf für den anstehenden 125. Geburtstag von Franz Kafka und empfiehlt zur Einstimmung die neue Biografie von Franz Stach. Detlef Kuhlbrodt verbringt einen netten Berliner Abend mit Rainald Goetz, der seinen "Klage"-Blog mit einer kleinen Feier unter Freunden auslaufen ließ. Im Medienteil notiert Boris Rosenkranz, dass die WAZ-Titel entgegen der bisherigen Tradition nun inhaltlich miteinander kooperieren werden.

Und Tom.

Welt, 23.06.2008

Elmar Krekeler stellt "das beste Sportbuch des Jahres" vor, Tim Adams' "Being John McEnroe", das die großen Zeiten des Tennissports heraufbeschwört. Uta Baier unterhält sich mit dem Briten Liam Gillick, der den deutschen Pavillon bei der Biennale in Venedig gestalten wird. Hannes Stein war bei einer Veranstaltung in New York, wo George Marshalls gedacht wurde, dem die Deutschen (und andere) in der Nachkriegszeit eine Menge verdankten. Manuel Brug beschreibt die vielfältige und zur Zeit blühende Opernlandschaft in Paris. Alexander Kluy besucht das Franz-Marc-Museum in Kochel am See, das erweitert wurde. Dankwart Guratzsch erinnert an die Sprengung der Potsdamer Garnisonkirche vor vierzig Jahren.

Besprochen werden eine Ausstellung über Paparazzi in Berlin, Messiaens "Saint Francois d'Assise" unter Ingo Metzmacher in Amsterdam, eine Choreografie nach Heinrich Mannes "Professor Unrat" in Wiesbaden und eine Ausstellung über das Altern in der jüngsten Kunst in Dresden.

Auf der Forumsseite wird eine Rede Heinrich-August Winklers über die Machtergreifung der Nazis vor 75 Jahren in gekürzter Form nachgedruckt.

NZZ, 23.06.2008

Die NZZ trauert um den Schweizer Schriftsteller Gerhard Meier. Der Autor Werner Morlang schreibt: "Popularität blieb ihm versagt, aber darauf hatte es sein beispiellos konsequentes, nur den eigenen Anliegen verpflichtetes Werk nie abgesehen. Dafür waren ihm seine Leser bedingungslos zugeneigt." Roman Bucheli preist Meier als "Solitär unter den Schriftstellern", verschiedene Stimmen erinnern sich.

Weitere Artikel: Marion Löhndorf berichtet vom kulturellen Facettenreichtum der Türkei, die Schwerpunkt der Bonner Biennale war. Thomas Schacher sah eine Open-Air-Aufführung von Verdis "Giovanna d'Arco" in St. Gallen. Alfred Zimmerlin fordert "klare dirigentische Hilfen" für das Tonhalle-Orchester Zürich. Markus Jakob gibt anlässlich der Expo 2008 (die Weltausstellung musste ohne Beteiligung der USA und Großbritanniens stattfinden) einen Einblick in die spanische Stadt Saragossa.

Gemeldet wird außerdem die Vergabe des Heinrich-Heine-Preises an den israelischen Schriftsteller Amos Oz, den 2006 noch sein Kollege Peter Handke bekommen sollte, was recht heftig diskutiert wurde.

Tagesspiegel, 23.06.2008

Gerrit Bartels betrachtet die Krisen bei den Verlagen Aufbau und Suhrkamp und findet eine Parallele: "Der eine ist der Vorzeigeverlag aus dem Westen, der alten Bundesrepublik, einst zuständig gleich für eine ganze Kultur, die 'Suhrkamp-Kultur'. Der andere gilt als einstiger Vorzeigeverlag aus dem Osten, der untergegangenen DDR, seinerzeit zuständig für gewissenhafte Klassikerausgaben, zuweilen auch für ein wenig dissidente Literatur, die bessere DDR, wenn man so will, nicht zuletzt gern schon mal bezeichnet als 'Suhrkamp des Ostens'."

SZ, 23.06.2008

Der UN-Sicherheitsrat hat am Donnerstag Vergewaltigung als eine Kriegstaktik verurteilt, die als Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Bestandteil des Völkermordes geahndet werden könne (mehr hier). Die kroatische Schriftstellerin Slavenka Drakulic erklärt, welches Argument von Vergewaltigern künftig nicht mehr zieht: "Als ich an meinem Buch 'Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht' über Kriegsverbrecher vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien arbeitete, stieß ich auf den 'Fall Foca'. Es ist der Fall von drei Serben, die muslimische Mädchen gefangen hielten, folterten, zu Sexsklavinnen machten und vergewaltigten. Doch die Männer verstanden nicht ganz, warum sie nun angeklagt wurden. Einer von ihnen verteidigte sich mit den Worten: 'Aber ich hätte sie doch auch töten können!' Aus seiner Sicht hatte er ihnen sogar das Leben gerettet."

Der Regisseur Andreas Dresen erzählt im Interview, was ihn zu seinem Film "Wolke 9" inspiriert hat: "Ich habe schon vor vielen Jahren einen sehr schönen kleinen Dokumentarfilm gesehen, der hieß 'Die Männer meiner Oma'. Und in diesem Film erzählt eine 78-jährige Frau über die Männer, die sie im Leben gehabt hat, über den Sex, den sie mit diesen Männern gehabt hat, und auch über den Sex, den sie gegenwärtig hat. Sie masturbiert, wenn sie vom Arzt kommt. Irgendwann sagt sie: Jetzt hatte ich aber vor kurzem einen Infarkt, und jetzt traue ich mich das nicht mehr, ich will nicht daran sterben."

Weitere Artikel: Ein sehr schlechtes Beispiel für Bauen im Bestand ist für Günter Kowa der Tagungsbau, den die Stiftung Denkmalschutz in Quedlinburg hingeklotzt hat. Michael Knoche, Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, erklärt, warum die historischen Buchbestände in Bibliotheken und Archiven ohne zusätzliches Geld und ein "Kompetenzzentrum" gefährdet sind. Alexander Kissler untersucht die neuesten Zuckungen der Hirntod-Debatte. Andreas Dorschel besucht die generalüberholte Klosterbibliothek im österreichischen Admont. Ijoma Mangold war auf der Abschiedsparty für das Blog von Rainald Goetz. Niklas Hofmann schickt - nur auf Papier - Nachrichten aus dem Netz. Skoh. schreibt zum Tod des Kunsthändlers Klaus Perls, Hans-Peter Kunisch zum Tod des Schweizer Schriftstellers Gerhard Meier.

Besprochen werden eine Foto-Schau im Deutschen Historischen Museum zu 60 Jahre Luftbrücke, ein "Rigoletto" in Dresden, DVDs mit Filmen von Jia Zhang Ke, Billy Wilder und Orson Welles, Volker Löschs Inszenierung des Lars-von-Trier-Films "Manderlay" in Stuttgart, die Ausstellung "Favoriten" im Kunstbau des Lenbachhauses und Bücher, darunter Saskia Sassens Studie über Territorium, Autorität und Rechte im globalen Zeitalter, "Das Paradox des Nationalen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 23.06.2008

In der Serie zur Zukunft Bayreuths übernimmt Elke Heidenreich die Macht und erklärt, auch im Namen ihres Kölner-Kinderoper-Ko-Leiters Christian Schuller, dass unter ihrer gemeinsamen Führung bei den Festpielen ab 2011 der ganze Wagner gespielt wird. Und: "Mit der Tradition von Premierenfreikarten für politische und mediale Prominenz werden wir radikal brechen." In der Glosse kann Hubert Spiegel feststellen, dass die Jury des Heinrich-Heine-Preises nach dem Handke-Skandal vor zwei Jahren mit Amos Oz einen Preisträger gefunden hat, der "in literarischer, politischer und moralischer Hinsicht untadelig" ist. Ebenfalls Spiegel berichtet von der Trauerfeier für Peter Rühmkorf. Ingeborg Harms liest deutsche Zeitschriften, unter anderem die Lettre-Ausgabe zum zwanzigjährigen Jubiläum des Hefts. Paul Ingendaay porträtiert den Tristram-Shandy-Übersetzer Michael Walter, der nun den Helmut-Braem-Übersetzerpreis erhält. Andreas Kilb war mit dem Unterwelten-Verein im Berliner Untergrund unterwegs. Über eine Moskauer Tagung mit Beteiligung deutscher wie russischer Wissenschaftler, bei der es um russische Traumata ging, informiert Kerstin Holm. Wolfram Kinzig schreibt zum Tod des Historikers Henry Chadwick.

Besprochen werden Nikolaus Lehnhoffs "Rigoletto"-Inszenierung an der Dresdner Semperoper ("szenisch spannend und gesanglich herausragend", lobt Jürgen Kesting), Stuttgarter Inszenierungen von "Manderlay" und "Woyzeck", die Martin Halter am Sinn des Theaterbesuchs zweifeln lassen, die Ausstellung "Malewitsch und sein Einfluss" im Kunstmuseum Liechtenstein, der Film "Lucie & Maintenant", in dem ein Künstlerpaar Julio Cortazar und Carol Dunlop nachreist, und Bücher, darunter Mordecai Richlers Hippie-Satire "Cocksure" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).