Heute in den Feuilletons

Ein salziger Strom von Epitheta

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.06.2008. Ein Gernegroß: Die Welt geht sehr hart mit Aufbau-Verleger Bernd Lunkewitz ins Gericht. Auch Richard Wagner schickt ihm im Tagesspiegel keine Freundlichkeiten hinterher: "Er ist als Mäzen auf der Flucht und als Gläubiger im Anmarsch." Über die Ukraine denkt Wagner ebenfalls nicht so gut und macht es in der NZZ bekannt. Alle würdigen, wie Yves Saint Laurent die "Geheimnisse der männlichen Uniform in das frivole Reich der Seiden" zog. Huffington Post und Gawker wissen, wen Bill Clinton 'sleazy', 'dishonest', 'slimy' und einen 'scumbag" nannte und warum und mit wem er verheiratet ist.

Welt, 03.06.2008

Sehr hart geht Tilman Krause mit dem Verleger Bernd Lunkewitz ins Gericht, der sich nach der Insolvenz des Aufbau-Verlags bei der gestrigen Pressekonferenz über die gefährdete Zukunft des Hauses nicht blicken ließ: "Hat irgendjemand ernsthaft erwartet, dass er sich anders verhalten würde? Mit dem Mann, der 1991 von der Treuhand den Aufbau-Verlag erwarb, gibt ein Gernegroß klein bei. Niemanden, der ihn in den letzten Jahren beobachtet hat, kann überraschen, mit welcher Kaltschnäuzigkeit er jetzt seine Mitarbeiter im Stich lässt."

Weitere Artikel: Eckhard Fuhr gibt Matthias Matussek in seiner Replik auf Alice Schwarzers Burma-Artikel in der FAZ weitgehend recht. Fuhr schreibt auch einen Artikel über die Eröffnung der Lübecker Ausstellung "Ein Bürger für Brandt - Der politische Grass", in der Grass die altgewohnte Kämpferpositur einnahm. Cosima Lutz stellt ein neues, sich als multikulturell verstehendes Frauenmagazin namens Gazelle vor. Und Marko Martin berichtet über eine Initiative israelischer Intellektueller, die sich für eine Aufnahme von Flüchtlingen aus Darfur einsetzen (Video) - viele dieser Flüchtlinge werden von der israelischen Regierung zur Zeit noch nach Ägypten abgeschoben und damit ihrem Schicksal überlassen.

Besprochen werden eine Boulevard-Version von Tschechows "Drei Schwestern" mit prominenten Schauspielerinnen am Theater am Kurfürstendamm, ein Auftritt John Fogertys in Berlin und Monteverdis "Poppea" in Glyndeboune.

Auf der Magazinseite nimmt Inga Griese Abschied vom großen Yves Saint Laurent.

FR, 03.06.2008

Christian Schlüter hat sich die ersten Bände der neuen "edition unseld" angesehen, mit der sich Suhrkamp nicht weniger als die Versöhnung von Natur- und Geisteswissenschaften zum Ziel gesetzt hat: "Man hätte die Reihe auch 'naturwissenschaft aktuell' nennen können, gewissermaßen aus gegebenen Anlass, weil in letzter Zeit mit den Diskussionen über die Gen- oder Biotechnologie, über den Klimawandel, über den Welthunger, über die Menschheitsgeißel Aids oder über das globale Artensterben die immense Bedeutung der Naturwissenschaften ins öffentliche Bewusstsein rückte. Und tatsächlich hat Suhrkamp bereits einer anderen Weltdeutungsmacht, den Religionen, ein eigenes Verlagssegment gewidmet. Von einer 'dritten Kultur' sind wir also noch weit entfernt."

Weiteres: Choreograf William Forsythe spricht im Interview mit Sylvia Staude über das Stück "Impressing the Czar", das er nach zwanzig Jahren wieder aufführt, nun mit dem Königlichen Ballett von Flandern: "Es braucht Geschwindigkeit, Akkuratesse. Zum Beispiel, was die Hände betrifft. Ich sage immer zu ihnen: Hände, Hände, Hände. Der Winkel vom Handgelenk, die Finger, da bin ich Fanatiker.") Jörg Plath meldet den neuesten Stand im Drama um den Aufbau-Verlag. Frauke Hartmann berichtet von den Hamburger Autorentagen. In Times Mager bewundert Ina Hartwig die Weltläufigkeit von Carlo Ginzburg und Paul Holdengräber.

Besprochen werden die "Fidelio"-Inszenierung an der Oper Frankfurt (mit Erika Sunnegardh als Leonore und Höhepunkt der manchmal etwas ungeschickten Inszenierung), die Ausstellung "Ein Bürger für Brandt" im Lübecker Günter-Grass-Haus, ein Konzert der kanadischen Sängerin Feist in der Frankfurter Jahrhunderthalle und die heute Abend auf arte zu sehende Doku "Spielzone" über spielsüchtige Jugendliche.

TAZ, 03.06.2008

Die taz hat die Krise des Aufbau-Verlags zum Thema des Tages gekürt: Dirk Knipphals ist nach der Pressekonferenz zur Insolvenz guter Dinge, dass das Haus auch ohne Lunkewitz eine Zukunft haben könnte. Das sagt auch der Insolvenzverwalter. "So ist die operative Bilanz des Verlages seinen Erkenntnissen zufolge gegenwärtig ausgeglichen, wenn man Zinsen und Tilgung langfristiger Verbindlichkeiten abrechnet. Und die spielen nach Einreichung des Insolvenzantrags erst einmal keine Rolle mehr. Noch wichtiger: Außerdem würde der Hauptteil des Verlagsumsatzes (im Jahr 2007 14,2 Millionen Euro, im Jahr zuvor 12,6 Millionen) mit Buchrechten erwirtschaftet, die nach 1992 erworben wurden. Das ist insofern zentral, weil diese Rechte unstrittig tatsächlich beim Aufbau-Verlag liegen." Lunkewitz scheint sich nicht im Frieden getrennt zu haben. "Er plante offenbar eine Liquidierung des Unternehmens. Noch am Freitag kündigte er den Vertrag für die Verlagsräume, die er seinem Unternehmen zur Miete überlassen hatte. Das war schnell. Aber nicht schnell genug, der Insolvenzantrag seiner Geschäftsführung war vorher beim Gericht eingegangen: Nun braucht der Verlag erst einmal gar keine Miete zu zahlen."

Außerdem im Aufbau-Schwerpunkt: Wiebke Porombka beschreibt Bernd F. Lunkewitz als "Mischung aus windigem Finanzbonzen und etwas missglückter Brecht-Karikatur". Detlef Bluhm, der Geschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels in Berlin-Brandenburg, hofft gegenüber Deniz Yücel auf das Fortbestehen eines "der bedeutendsten konzernunbahängigen Verlage".

Weiteres: Tal Sterngast feiert den israelischen Maler Jacob Mishori, der zwar schon dreißig Jahre im Geschäft ist, auf der Berlin Biennale aber gerade hierzulande entdeckt wird. Daniel Bax verfolgt im Goethe-Institut in Istanbul eine lebhafte Diskussion über Säkularität, Grundrechte und Europatauglichkeit der Türkei. Ganz begeistert ist Isolde Charim über die Kunststudentin Liddy Scheffknecht, die in der Wiener Ausstellung "Games. Kunst und Politik der Spiele" der Fußballmanie in Österreich mit aus einem Video ausradierten Kickern die Stirn bietet. Andreas Fanizadeh spricht mit dem griechischen Schriftsteller Petros Markaris über seine Kommissarfigur Kostas Charitos und den neuen deutschtürkischen Ermittler, der im nächsten buch Premiere feiert. Für die zweite taz besucht Mareike Barmeyer das Set von "Dutschke" - der Film.

Und Tom.

Aus den Blogs, 03.06.2008

Wenn einen deutsche Blogs langweilen, kann man immer noch bei Huffington Post gucken. Dort berichtet Mayhill Fowler, wie Bill Clinton wegen eines Vanity Fair-Artikels ausrastete: "Former President Bill Clinton today unleashed a salty stream of epithets to describe former New York Times reporter and current Vanity Fair writer Todd Purdum, calling him 'sleazy', 'dishonest', 'slimy' and a 'scumbag.'" Clintons Reaktion darf man auch in einem Video betrachten. Vanity Fair hat den Artikel online gestellt. Purdum trägt hier wenig glamouröse Details über Clintons Lebenswandel und Transportgewohnheiten zusammen (Privatjets von Superreichen). Und Gawker wartet mit Hintergrundinformationen auf: "the fact that Purdum is married to Clinton's former press secretary Dee Dee Myers."

NZZ, 03.06.2008

Der Schriftsteller Richard Wagner weist das Begehren der Ukraine harsch zurück, EU und Nato beizutreten: "Lembergs Innenstadt mag, als museale 'Wien-Miniatur', schön anzusehen sein. Aber muss das Land deswegen in die EU? Wenn heutzutage überall in Ostmitteleuropa das alte Österreich gepriesen wird, so muss auch daran erinnert werden, dass all die Völker, die sich auf es berufen, an der Zerstörung des Habsburgerreiches mitgewirkt haben. Nicht zuletzt die Ukrainer Galiziens, ihre politische und kulturelle Elite. Mit dieser Zerstörungsarbeit haben sie sich den Weg nach Europa selbst versperrt. Die Konstruktion des heutigen ukrainischen Nationalstaats hat ihr reales Zentrum außerhalb des EU-Projekts, außerhalb des Limes. Das ist nicht bloß zu bedenken, es ist vor allem zu berücksichtigen."

Weiteres: Zum Tod des Pariser Couturiers Yves Saint Laurent schreibt Marc Zitzmann. Zu lesen ist der aus dem Italienischen übersetzte Fußball-Text "Mannschaftsaufstellung" des Schriftstellers Giovanni Orelli. Joachim Güntner sieht im Streit um die Insolvenz des Aufbau-Verlags Hoffnung keimen. Gemeldet wird, dass die Berliner Philharmonie nach einem Großbrand vor zwei Wochen nun wieder geöffnet wurde. Marianne Zelger-Vogt erlebte Ovationen und Buhrufe bei der Premiere von Beethovens "Fidelio" in der Oper Frankfurt, und Jürg Huber lauschte Evgeny Kissin in der Zürcher Tonhalle.

Besprochen werden Edward P. Jones' Erzählband "Hagars Kinder", Jürgen Kaubes soziologische Glossen "Otto Normalabweicher" und die "Gesammelten Werke" von Clemens Eich, den Paul Jandl als einen "Wanderer durch Zwischenwelten" bezeichnet.

Tagesspiegel, 03.06.2008

Autor Richard Wagner sieht etwas ratlos auf den auseinanderbrechenden Aufbau-Verlag und fragt sich, zu welchem von beiden er wohl gehört hat: "In welchem bin ich jetzt? In dem von Niekisch und Lichtenberg? Und in welchem Verlag begegnete ich meinem Lektor Gunnar Cynybulk, dem Geschäftsführer Rene Strien und all den anderen, die meine Bücher auf den Weg gebracht haben? Es waren für mich, den Autor, acht erfreuliche Jahre, von den zunehmenden Launen der Buchhaltung einmal abgesehen. Vielleicht gelingt es der Geschäftsführung ja doch noch, das einzigartige Label zu retten, trotz der Doppelrolle des Ex-Verlegers. Schön wäre es. Er ist als Mäzen auf der Flucht und als Gläubiger im Anmarsch. Und somit dabei, den einen Aufbau-Verlag zugunsten des anderen Aufbau-Verlags zu enteignen. Und zwar jenen, in dem die Autoren und die Verlagsangestellten sitzen, zum Vorteil dessen, der ein Rechtskonstruktsleben führt. Mao, sag was dazu!"

Gerrit Bartels liefert die Hintergründe zum Drama um Aufbau.

FAZ, 03.06.2008

Ingeborg Harms würdigt den verstorbenen Modemacher Yves Saint Laurent als Couturier, der auch das Bild des Mannes veränderte, indem er ein neues Bild der Frau schuf: Er "unterwanderte ..., indem er aus den Trümmern der steifen X-, A- und Y-Silhouetten der fünfziger Jahre eine fließende, kühl-elegante, an unnachahmlichen Schultern und markanten Hüften aufgehängte Damenmode schuf, das männliche Geschlecht. Ohne dass es seinen reichen Kundinnen bewusst geworden wäre, zog er die Geheimnisse der männlichen Uniform in das frivole Reich der Seiden, Drucke und Farbkaskaden hinüber. Unter dem Einfluss von weiblichen Persönlichkeiten wie Paloma Picasso, Marguerite Duras, Marie-Helene de Rothschild und Catherine Deneuve schuf er eine Frau, die zugleich völlig feminin, verspielt, unberechenbar und respekteinflößend war."

Weitere Artikel: Ganz energisch widerspricht Michael Hanfeld Alice Schwarzers in der FAZ "zur Debatte gestellter" Kritik an der Burma-Kritik - wer eine Position wie die Schwarzers einnehme, übe vielmehr "den intellektuellen Kotau vor einem Regime, dessen Fassade eines 'asiatischen Sozialismus' von ganz anderer Fadenscheinigkeit ist als die Menschenrechtsappelle von westlichen Politikern". In der Glosse schildert Dirk Schümer einen Zeugen-Mord der neapolitanischen Müll-Camorra, der wie die makabre Fortsetzung des verfilmten Bestsellers "Gomorra" klingt. Wie es beim Aufbau-Verlag nach der Insolvenz weitergeht, darüber informiert Andreas Kilb: erst einmal schon aus insolvenzrechtlichen Gründen im Normalbetrieb. Beeindruckt zeigt sich Andreas Rossmann von der Selbstkritik Elmar Goerdens, der als Intendant in Bochum zurücktreten wird, weil es ihm, wie er selbst eingesteht, nicht gelungen sei, eine überzeugende eigene "Handschrift" zu entwickeln. Von neuen Funden im nichtsdestoweniger von Verfall und Camorra bedrohten Herculaneum weiß Dieter Bartetzko, der dort war. Die Diskussionen bei der Fritz-Stern-Vorlesungen der American Academy, die sich um die Lehren aus der Geschichte des Nationalsozialismus drehten, hat Alexandra Kemmerer notiert. Auf der Medienseite berichtet Kerstin Holm, dass in Russland Medien, die von der Zwangsprostitution bei jungen Soldaten berichteten, zu einer Geldstrafe und dazu verurteilt wurden, sich bei den beschuldigten Armeegenerälen etc. zu entschuldigen. Claudia Hangen schildert außerdem, wie zwei junge kritische Journalistinnen in Russland unter Druck gesetzt wurden.

Besprochen werden Einspielungen von Felix Mendelssohn Bartoldys "Paulus" und des "Elias", eine Madrider Aufführung von Claudio Monteverdis "Orfeo", eine Garofalo-Ausstellung in Ferrara, das Frankfurter Abschiedsdirigat von Paolo Carignani mit Beethovens "Fidelio", die Tschechow-Version "Drei Schwestern" am Berliner Theater am Kurfürstendamm, eine Lübecker Ausstellung zum politischen Grass und Eugeni Xammars Reportagen aus den Jahren 1922 bis 1924 "Das Schlangenei" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 03.06.2008

Gerd Kroencke zeichnet ein zartes Porträt Yves Saint Laurents und erinnert an dessen Maxime: "Nichts kleide die Frauen besser als die Arme des Mannes, den sie liebt, 'für alle die nicht dieses Glück haben, bin ich da'."

Weiteres: Rebecca Casati erzählt, worin Yves Saint Laurent der erste war. Nach erheblichen Widerständen der ungarischen Staatsanwaltschaft werden das Open-Society-Archiv und das Budapester 1956er-Institut das 52-stündige Tonband mit dem Prozess gegen Imre Nagy "vom 9. bis zum 15. Juni komplett und in Realzeit" abspielen, berichtet Kathrin Lauer. Nagy, Ministerpräsident und einer der Haupthelden Ungarnaufstands, war 1956 mit zwei Mitstreitern zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Lothar Müller erfährt auf einer Pressekonferenz vom Insolvenzverwalter des Aufbau Verlags Joachim Voigt-Salus, dass der Verlag überleben kann - vorausgesetzt, Bernd F. Lunkewitz entscheidet sich bald: Für die Überführung des Verlages an einen neuen Eigentümer unter Löschung der bisherigen GmbH oder für einen Neuanfang innerhalb der bisherigen GmbH. Willi Winkler darf heute für die SZ-DVD "Lola, das Mädchen aus dem Hafen" Jacques Demy redaktionell werben. Jörg Magenau war bei einem Podiumsgespräch mit Günter Grass und Siegfried Lenz anlässlich der Eröffnung der Ausstellung "Ein Bürger für Brandt. Der politische Grass" im Günter Grass-Haus in Lübeck. Die Privatisierung der Eisenbahn ist ein alter Konflikt, erinnert Jens Bisky. Stephan Speicher porträtiert Gesine Schwan als heitere und "dezidiert bürgerliche Person mit bürgerlichen Wertvorstellungen". Volker Breidecker war beim Frankfurter Literaturfestival LiteraTurm. Tobias Lehmkuhl berichtet über ein ein gehässiges Gedicht Derek Walcotts gegen V.S. Naipaul: "I have been bitten, I must avoid infection/ Or else I"ll be as dead as Naipauls fiction." (Mehr beim Observer und dem New Statesman.) Karl Bruckmaier schreibt zum Tod des Rock'n'Roll-Musikers Bo Diddley.

Besprochen werden Händels Oratorium "Belshazzar" an der Berliner Lindenoper, Rosa von Praunheims filmische Familienrecherche "Meine Mütter", neue Pop-Alben von alten Helden, Arthur Millers "Auferstehungsblues" bei den Ruhrfestspielen in Marl und Bücher, darunter Domingo Faustino Sarmientos Polemik "Barbarei und Zivilisation" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).