Heute in den Feuilletons

Letzte Konzerte - gemischte Gefühle

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.05.2008. In der Welt kritisiert der Romanist Manfred Flügge das nationalistische Geschichtsbild Nicolas Sarkozys. Die taz staunt: Die Amerikaner sind ja gar nicht so rassistisch, wie es das Klischee gerne will. In der SZ erklärt Slavenka Drakulic, warum sie das Wort "Balkanisierung" gar nicht mag. Die FR beschreibt, wie Putin das Internet kontrollieren will. Die FAZ berichtet über die Nahrungsmitelkrise in Indien.

Welt, 06.05.2008

Als schweren Rückfall in vergangen geglaubte Zeiten geißelt Manfred Flügge das völlig einseitig nationalistische Geschichtsbild des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy: "Patriotische Rituale, wie sie Sarkozy inszeniert, hat man lange nicht mehr gesehen. Sie transportieren ein ungebrochen positives, ja klischeehaftes Bild der französischen Geschichte und bringen dabei Mythen und Legenden nicht nur der Gaullisten, sondern auch der Kommunisten wieder ins Spiel. Themen wie die französische Mitschuld an den Deportationen, die Untaten aus den Kolonialkriegen, die Spur der Gewalt in der französischen Geschichte haben da keinen Platz, erst recht keine kritische Aufarbeitung, wann, von wem, zu welchen ideologischen Zielen seit den Anfängen der Dritten Republik ein verklärendes Geschichtsbild konstruiert und vermittelt wurde."

Auf der Forumseite wird ein Auszug aus dem Blog "Generation Y" der Kubanerin Yoani Sanchez abgedruckt, die dieses viel gelesenen Blogs wegen soeben vom Nachrichtenmagazin Time auf die Liste der 100 einflussreichsten Personen der Welt gesetzt wurde: "Ich habe mich ... einfach nur dem gewidmet, was mir wichtig erscheint: die Wahrheit von meinem verzerrten Standpunkt zu erzählen, ausgehend von meinen Emotionen und all den Fragen, dei sich mir stellen."

Weitere Artikel: Sven Felix Kellerhoff feiert den Abschluss der dreizehnbändigen Buchreihe "Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg". In der Glosse übersetzt Thomas Vitzthum den vom designierten Londoner Bürgermeister Boris Johnson angebrachten Vergleich von Journalisten mit "hyrkanischen Tigern" ins Heutige: "Deine Mutter kauft deine Unterhosen bei KIK". Michael Stürmer erinnert an den vor 250 Jahren geborenen Maximilien Robespierre, der in seinem recht kurzen Revolutionärsleben beide Seiten der Guillotine kennenlernte.

Besprochen werden die große Ferdinand-Hodler-Ausstellung in Bern, eine Ausstellung mit Fotografien von Helen Levitt in Hannover, eine Kölner Ausstellung zur visuellen Poesie Gerhard Rühms, die Londoner Uraufführung von Harrison Birtwistles Oper "Minotaur", Nikita Michalkows Putin huldigender Film "12", der jetzt in russischen Kinos läuft und Murray Perahias neues Album mit einer Einspielung von Bachs Partiten 2, 3 & 4.

TAZ, 06.05.2008

Auf der Meinungsseite staunt Marcia Pally über die Amerikaner, die auch nicht mehr so rassistisch sind, wie das Klischee sie gerne hätte: "Hillary gewann in 12 Staaten bei den männlichen Weißen; Obama schaffte dies immerhin auch in 10 Staaten. Und der Grund dafür, dass er in Pennsylvania verlor, ist das Beste, was ich jemals in Sachen Rassismus gehört habe: Obama verlor, weil die Demokraten aus Pennsylvania ihn für 'elitär' und abgehoben links halten."

Im Feuilleton empfiehlt Robert Misik zwei Bücher über John Maynard Keynes und Joseph Schumpeter. Maurice Summen bespricht die neue CD von Madonna. Robert Misik macht die erstaunliche Feststellung, dass Kunst erst dann einen Marktwert hat, wenn sie einen Symbolwert hat. Robert Schminke unternimmt einen Rundgang über den Leipziger Galerienrundgang. Und Clemens Niedenthal freut sich über die mit Revolutionsfoklore spielende Werbung für ein Dacian-Auto.

Schließlich Tom.

NZZ, 06.05.2008

Ein anregendes Wochenende hat Roman Bucheli bei den 30. Solothurner Literaturtagen verbracht. Einer der Höhepunkte war - neben den Lesungen von Adolf Muschg und Tim Krohn - der Auftritt von Marius Daniel Popescu: "... gebannt (und vielleicht auch ein wenig verwundert oder entgeistert) konnte man den wilden Gesängen des 1989 aus Rumänien eingewanderten und seither in Lausanne als Buschauffeur tätigen Marius Daniel Popescu lauschen: wohl wissend, dass der Zauber des Textes verfliegen würde, müsste man ihn selber lesen und hörte man nicht in der rauen Stimme des Autors die Wälder Transsilvaniens rauschen. Für seinen Erstlingsroman 'La symphonie du loup', den er leider, wie er sagte, nicht erst bei 900 Seiten, sondern schon auf halber Strecke habe abschließen müssen, wurde er jüngst mit dem Robert-Walser-Preis ausgezeichnet. Seine geradezu in schamanischer Trance vorgetragene Prosa handelt von nichts und allem, sie befasst sich mit dem Leben und dem Nonsens, sie legt literarisch Zeugnis ab von der rumänischen Diktatur und verwandelt Biografie in Literatur. 'La poesie est partout', sagt er und träumt nicht mit Flaubert von einem Roman über nichts, sondern von einem Buch, das nie endet."

Lilo Weber staunt immer noch, dass Boris Johnson Bürgermeister von London werden konnte. "Laut Sunday Times war er bereits am Tag nach der Wahl wieder der Alte, als er 'humane Euthanasie' für jene städtischen Angestellten versprach, die den Tories ihren Sieg neiden."

Besprochen werden Lars-Ole Walburgs Inszenierung von Arno Geigers Roman "Es geht uns gut" bei den Wiener Festwochen ("hübsch kommt das heraus, witzig zum Teil, manchmal sogar ernst, meist indessen verniedlichend und nie bewegend", schreibt Barbara Villiger Heilig), die Aufführung von Gerald Barrys Oper "Die bitteren Tränen der Petra von Kant" in Basel (Alfred Zimmerlin findet die Musik so unverbindlich, dass sie "den Text über weite Strecken gleichsam entemotionalisiert", Inszenierung und Sänger machten das aber fast wieder wett) und Bücher, darunter Deborah Eisenbergs Erzählband "Rache der Dinosaurier" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 06.05.2008

Auf der Medienseite berichtet Florian Hassel, wie der russische Geheimdienst FSB das Internet kontrolliert. Offiziell gibt es zwar noch kein Internetgesetz, doch: "Spätestens seit dem Inkrafttreten von Erlass Nr. 130 des Kommunikationsministers vom 25. Juli 2000 müssen alle Mobiltelefongesellschaften dem FSB oder der Polizei Zugriff gewähren, alle Internet-Provider auf eigene Kosten Überwachungsgeräte installieren, eine Leitung zur jeweiligen FSB-Zentrale legen oder ein Überwachungszimmer bereitstellen - und Zugriff zu allen Internet- und Telefondaten gewähren." Ein Vorbild für die deutsche Musikindustrie?

Morgen wird in Frankfurt "Jagden und Formen" uraufgeführt, eine Zusammenarbeit von Sasha Waltz und dem Ensemble Modern mit Musik von Wolfgang Rihm. Im Gespräch erklärt Roland Diry, Klarinettist des Ensemble Modern, wie sich die Musik verändert hat: "Das Stück beruht auf zwei Wurzeln aus den neunziger Jahren, aus ihnen ist dann 'Jagden und Formen' im ersten Zustand entstanden, es folgten weitere. Als man über die 'Frankfurter Positionen 2008' sprach, fand man, dass Rihms Idee von der Veränderung eigentlich dem Thema sehr nahe kam. Er hat insgesamt neun neue Teile komponiert, die in das Werk integriert wurden. Dadurch ist es sehr verändert worden, hat eine sehr viel solistischere Dimension erhalten."

Weiteres: Matthias Thieme hat neben "steilen Thesen" auch einige sachliche Fehler in Götz Alys Buch "Unser Kampf" über 1968 entdeckt und warnt die Bundeszentrale für politische Bildung vor der Verbreitung einer Volksausgabe des Buchs (wegen der Fehler oder der Thesen?).

Besprochen werden die Fischli/Weiss-Retrospektive in den Hamburger Deichtorhallen, der von Chris Kraus inszenierte und Claudio Abbado dirigierte "Fidelio" in Baden-Baden, ein Konzert mit Werken von Messiaen in der Frankfurter Alten Oper, die Aufführung von Gerald Barrys Fassbinder-Oper "Die bitteren Tränen der Petra von Kant" in Basel, Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Tschechows "Onkel Wanja" am Thalia Theater, ein Konzert Mark Knopflers in Frankfurt und drei Bücher über Israel (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 06.05.2008

Tobias Moorstedt porträtiert die einst gegen Bush gegründete Organisation moveon.org, die inzwischen professionellen Wahlkampf für die Demokraten macht: "Die Demokraten sind durch den endlosen Vorwahlkampf zwischen Clinton und Obama wie gelähmt. 'McCain fährt währenddessen durch das Land als wäre er schon Amtsinhaber', heißt es bei der Organisation. Also übernimmt Moveon.org die Aufgabe den Senator zu attackieren, schickt eine Email, in der nachgewiesen wird, dass er ein Abtreibungsgegner ist, schaltet TV-Spots und Internetkampagnen, die immer wieder ein Bild zeigen: George W. Bush und McCain in zärtlicher Umarmung."

Die Autorin Slavenka Drakulic erklärt, warum sie das Wort "Balkanisierung" nicht erträgt, denn es dient Europäern nur zur Verdrängung: "Als wäre Europa ein von der Berührung des Teufels verschontes Terrain. . . Als wären die europäischen Nationalstaaten oder Revolutionen nicht aus Blut geboren. . . Als hätte es Auschwitz nie gegeben. . ."

Weitere Artikel: Willi Winkler hat herausgefunden, dass Wilhelm Schelsky, Chef der von Siemens gegen die IG-Metall installierten Pseudogewerkschaft AUB, Sohn des gewerkschaftsfeindlichen Soziologen Helmut Schelsky war, der außerdem schon vor 1933 in der SA war. Damian Dombrowski berichtet, dass der postfaschistische Bürgermeister der Stadt Rom Gianni Alemanno an seiner im Wahlkampf formulierten und jetzt doch schon etwas abgemilderten Absicht festhält, Richard Meiers neues Museum der Ara Pacis abzureißen, während er faschistische Bauten renovieren will. Christoph Schröder verfolgte ein Frankfurter Gespräch mit Michel Houellebecq über das Wesen des modernen Tourismus. Egbert Tholl stellt das erste Programm des Intendanten Nikolaus Bachler an der Staatsoper München vor. Burkhard Müller freut sich über die Wiederherstellung des Schlosses Janowitz in Böhmen, wo Sidonie Nadherny von Borutin Karl Kraus und Rilke empfing.

Besprochen werden Alfred Brendels letzter Klavbierabend in München ("Abschied, Trennung, letzte Worte, letzte Konzerte - gemischte Gefühle", beschreibt Wolfgang Schreiber), eine von Lars-Ole Walburg besorgte Dramatisierung von Arno Geigers Roman "Es geht uns gut" in Wien, eine Tobias Rehberger-Retro in Amsterdam, und Bücher, darunter Michael J. Sandels "Plädoyer gegen die Perfektion - Ethik im Zeitalter der genetischen Technik".

FAZ, 06.05.2008

Dramatische Formen nimmt die Nahrungsmittelkrise in Indien an. Nicht nur können sich die Ärmsten kaum noch die Existenzsicherung leisten - vor allem die Lage der Kleinbauern ist, wie Martin Kämpchen berichtet, katastrophal: "Der Preis für Saatgut, Düngemittel und Pestizide ist so enorm gestiegen, dass sich manche Bauern eine zweite Aussaat auf ihrem Feldbesitz nicht mehr leisten können... Der Boden ist inzwischen so teuer geworden, dass sich ein Verkauf lohnt. Großbauern werden die Hände danach ausstrecken. Aber damit schmälert ein kleiner Bauer für sich und seine Nachkommen unwiederbringlich seine wirtschaftliche Basis. Allein in den Provinzen Maharashtra, Gujarat und Andhra Pradesh haben in den letzten fünf bis sechs Jahren hunderttausend verzweifelte Bauern den Freitod gewählt, weil sie ihre Bankschulden nicht mehr begleichen konnten."

Weitere Artikel: Stefanie Peter stellt Filme rund um das polnische 1968 vor, im Zentrum: Yael Bartanas Video "Mary Koszmary", "eine Montage aus Metaphern, Bildern, Anspielungen und Formulierungen des sozialistischen Wortschatzes, des Zionismus und der polnisch-jüdischen Geschichtsrhetorik". In der Glosse vermittelt Oliver Jungen eine Ahnung von einem denkwürdig uninspirierten Auftritt Michel Houllebecqs, der in Frankfurt über Tourismus diskutieren sollte, aber so recht offenbar nicht wollte. Vom New Yorker Pen World Voices Festival berichtet Jordan Mejias. Arnold Bartetzky freut sich, dass die Restaurierung der Leipziger Versöhnungskirche in sehr absehbarer Zukunft - nämlich bis 2009 - vollendet sein wird. Dieter Bartetzko porträtiert Berta Benz, die sich vor 120 Jahren ans Steuer eines von ihrem Ehemann gebauten Autos setzte und zur ersten motorisierten Fernfahrt der Geschichte zwischen Mannheim und Pforzheim aufbrach. Martin Otto hat eine Tagung besucht, die nach dreißig Jahren DFG-geförderter Reichskammergerichtsforschung Bilanz zog. An die Gründung der dezidiert liberalen Zeitschrift Commentaire durch Raymond Aron vor dreißig Jahren erinnert Jürg Altwegg. Auf der Medienseite informiert Reinhard Olt über eine Debatte um einen offen antisemitischen Kommentar in der eher liberalen ungarischen Tageszeitung Magyar Hirlap. Michael Hafeld berichtet, dass ARD und ZDF weiterhin bei den Bundesländern unterwegs sind, um ihre Internetpläne zu verwirklichen.

Besprochen werden die Berner Ferdinand-Hodler-Ausstellung, Lars-Ole Walburgs Uraufführung des von ihm ko-dramatisierten Arno-Geiger-Romans "Es geht uns gut", Sven-Eric Bechtolfs Wiener "Siegfried", die von Alexander Schulin inszenierte, von Georg Fritzsch dirigierte Uraufführung von Cristobal Halffters Oper "Lazarus" in Kiel, zwei Alben von und mit der Mezzosopranistin Christa Ludwig, ein Frankfurter Mark-Knopfler-Konzert, ein Kölner Konzert von MGMT und Cecile Wajsbrots Roman "Aus der Nacht" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).