Heute in den Feuilletons

Sensationell angewidert

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.04.2008. In der Berliner Zeitung herrscht Aufruhr über die jüngsten Stasi-Enthüllungen über zwei Redakteure. Die NZZ staunt wie gestern schon die FAZ über die Qualität der Pariser "Wozzeck" unter Christoph Marthaler und Sylvain Cambreling. In der Welt kritisiert Wolf Lepenies das Pariser Musee des arts premiers und fordert Konsequenzen für Berlin. Und Michail Gorbatschow verteidigt Gabriele Krone-Schmalz.

Berliner Zeitung, 01.04.2008

Der Chefredakteur der Berliner Zeitung Josef Depenbrock nimmt auf Seite 1 Stellung zu den Stasivorwürfen gegen den Leitenden Redakteur Thomas Leinkauf und den Redakteur Ingo Preisler: "Mitte der 90er-Jahre musste der Verlag nach einer Studie zum Journalismus bei SED-Bezirkszeitungen feststellen, dass zwölf Journalisten als Inoffizieller Mitarbeiter tätig waren; sie verließen die Redaktion zeitnah. Die Zeit verstrich und die Sorge wich zunehmend, erneut in den Sog der Vergangenheit zu geraten. Bis zum Freitag." Depenbrock kündigt eine eingehende Untersuchung der Stasi-Verstrickungen in der Zeitung an. Auch Leserbriefe sind online nachzulesen.

Unter Leinkaufs Ägide erschien im Magazin der Berliner Zeitung ein sehr scharfer Artikel (den wir so resümierten) gegen Hubertus Knabe, Leiter der Stasi-Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen, gegen den Knabe eine lange Gegendarstellung durchsetzte.

FR, 01.04.2008

Arno Widmann gibt die Parole "Auf nach Solingen!" aus, denn hier, im Bergischen Land, entsteht Deutschlands erstes Museum der verfolgten Künste. Derzeit zeigt es Jürgen Serkes Sammlung verbrannter und verbannter Dichter: "Warum gibt es ein solches Museum nicht in Frankfurt, Hamburg, München? Warum nicht in Berlin? Was waren die Einwände gegen seine Einrichtung in den anderen Städten? Warum hat es bis 2008 gedauert, bis ein solches Museum in Deutschland entstehen konnte? Die Solinger Ausstellung schlägt sich nicht an die Brust. Weder damit, dass sie die Geschichte der verfolgten Künste besser zeigt als irgendwer sonst in der Republik. Sie lässt auch gar nicht erst den Eindruck aufkommen, es handele sich bei dem obrigkeitlichen Kampf gegen Literatur und Kunst um etwas spezifisch Deutsches. Hier kann die Vorstellung, Deutschland sei gerade durch seine Verbrechen etwas Besonderes, gar nicht erst aufkommen."

Weiteres: In der Times Mager widmet sich Harry Nutt prügelnden Fußballern und sich in Koma trinkenden Jugendlichen. "Die Fassung ist okay", segnet Petra Kohse Uwe Eric Laufenbergs Bühnenadaption von Rushdies "Satansichen Versen" für das Potsdamer Hans-Otto-Theater ab. Besprochen werden auch die Ausstellung "Laughing in a Foreign Language" in der Londoner Hayward Gallery, (die Sandra Danicke allerdings überhaupt nicht komisch fand), Hans Neuenfels' Inszenierung von Richard Wagners "Tannhäuser", eine Aufführung von "Vor der Sintflut" der Brüder Presnjakow in Stuttgart, Konzerte beim Internationalen Kammermusikfestival in Eilat und Peter Rühmkorfs Gedichte "Paradiesvogelschiss".

Von den Stasi-Verwerfungen bei der Berliner Zeitungen berichtet Ben Reichardt auf der Medienseite.

Weitere Medien, 01.04.2008

Dem Blog Medienlese verdanken wir den Link auf einen Offenen Brief Michail Gorbatschows an die deutsche Journalistenschaft, der er tendenziöse Berichterstattung vorwirft. Und wer objektiv berichte, kriege Ärger: "So kürzlich geschehen im Fall der Fernsehjournalistin und Autorin Gabriele Krone-Schmalz nach der Veröffentlichung des Buches 'Was passiert in Russland?'. Der allgemeinen Mode zuwider beschränkte sie sich nicht auf eine Aufzählung der Schattenseiten, sondern führte vielfältige Tatsachen aus dem Leben meines Landes auf, die sich nicht in das Prokrustesbett der modisch gewordenen Anschuldigungen zwängen lassen. Was geschah danach? Erst taten renommierte Zeitungen so, als hätten sie die Buchveröffentlichung nicht bemerkt, dann griffen einige von ihnen die Autorin mit Anschuldigungen an, die an die Kritik aus der Zeit des kalten Krieges erinnern."

NZZ, 01.04.2008

Geradezu den Atem geraubt hat Peter Hagmann der Pariser "Wozzeck" aus dem Dirigent Sylvain Cambreling ein ganz neues Stück gemacht hat: "Gleich in den ersten Takten wird hörbar, wie brillant und wendig das Orchester der Pariser Nationaloper aufspielt; die musikalische Sprache ist zwar atonal, kommt aber in einer Geschmeidigkeit daher, dass man es gleichsam erst auf einer zweiten Ebene des Hörens bemerkt. Zugleich aber, und das ist hier gerade kein Paradox, tritt die Modernität von Bergs Partitur voll heraus. Nichts wird in dieser Auslegung abgemildert oder beschönigt, die dissonanten Reibungen fahren in aller Schärfe durch das musikalische Geflecht. Doch sind sie aufgehoben und eingebettet in schillernde Farbenpracht... Dazu kommt die unerhörte Wärme, die aus dem Graben steigt."

Weiteres: Der Biochemiker Gottfried Schatz klärt uns in seinem neuesten Stück zu Lebensfragen über die fiese Wissenschaftler-Spezies zeitraubender Chronoklasten. Von Peter Stamm ist die Kurzgeschichte "Die Verletzung" zu lesen. Barbara von Reibnitz schreibt zum Tod des Althistorikers Karl Christ.

Besprochen werden eine Ausstellung zu Lacroix im Pariser Modemuseum und Bücher, darunter Miranda Julys Debüt "Zehn Wahrheiten" und Ljudmila Ulitzkajas Erzählungen "Maschas Glück" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 01.04.2008

Tim Ackermann besucht den französischen Künstler Kader Attia, der als Sohn muslimisch-algerischer Einwanderer in der Pariser Vorstadt Sarcelles groß wurde, in seinem Pariser Atelier. Attia arbeitet mit Bildern aus den Vororten . "Während draußen wieder einmal ein Vorstadtzug vorbeirumpelt, zeigt der Künstler in seinem Atelier auf einen Tisch. Darauf hat er einige leere Plastiktüten drapiert, die er so auch in seiner aktuellen Ausstellung in der Henry Art Gallery in Seattle zeigt. Seine Inspiration waren diesmal die Vorstadtfrauen, die ihre Einkäufe aus dem Billigsupermarkt nach Hause tragen. 'Wir haben das alle tausendmal gemacht: die Milch in den Kühlschrank gestellt und die Tüte auf dem Küchentisch liegen lassen', sagt Attia. Der verbleibende Abdruck der Waren im Schlund eines Plastikbeutels ist für ihn die Verkörperung eines konkreten Moments. Und seiner Vergänglichkeit, seiner Fragilität. 'Die traurige Realität einer Plastiktüte birgt unendliche Möglichkeiten, Skulpturen zu schaffen', sagt Attia."

In der zweiten taz erklärt Reyhan Sahin alias Lady Bitch Ray Cigdem Akyol im Interview, wieso sie eine Karriere als verbale Porno-Rapperin gewählt hat. "Wahnsinn, mit welch wenigen Worten ich Aufsehen erregen kann. Es ist auch ein Spiel für mich. Wäre ich keine Rapperin, dann wäre ich heute eine Boxerin. Ich habe viel Wut in meiner Möse, und die muss ich rauslassen."

Weiteres im Feuilleton: Tobi Müller startet eine Kolumnenserie zur Fußball-Europameisterschaft mit Impressionen aus der überdeutschten Schweiz. Dirk Knipphals traut dem "polyzentrischen" Kulturmanager Klaus-Dieter Lehmann zu, als neuer Präsident des Goethe-Instituts auch inernational segensvoll zu wirken. Robert Misik präsentiert die neue "Edition Unseld" von Suhrkamp, in der demnächst Geistes- und Naturwissenschaften aufeinander treffen sollen.

Marcia Pally weist im Meinungsteil darauf hin, dass sich ein Teil der amerikanischen Evangelikalen von den Republikanern abgewendet hat. Besprochen wird Alison Bechdels Vaterannäherung "Fun Home" in Comicform.

Und Tom.

Welt, 01.04.2008

Wolf Lepenies hat im Hinblick auf das in der geplanten Berliner Schlossattrappe vorgesehene ethnologische Museum nochmal das Musee des Arts premiers in Paris besucht - und formuliert eine scharfe Kritik an seiner Konzeption. Afrika werde vom Architekten Jean Nouvel von neuem als dunkel lockendes Geheimnis inszeniert. Dafür werde der Kolonialismus ausgeblendet: "Der Besucher lernt, dass sich hinter jedem Objekt ein Abenteuer verbirgt - über die Geschichten von Raub und Diebstahl wird er selten und oft unvollständig informiert. Mit den technisch avanciertesten Methoden werden am linken Ufer der Seine die sogenannten 'Naturvölker' in die Unschuld ihrer Frühzeit zurückgebeamt - als ob die Zeit des Kolonialismus auf magische Weise aus der Geschichte getilgt werden kann." Für Berlin fordert Lepenies: "Der Kolonialismus muss dabei ein Thema sein - Berlin war schließlich 1884/85 Ort der von Bismarck einberufenen Afrika-Konferenz."

Leider nur kurz und im Kommentar stellt Michael Pilz die Firma Live Nation vor, bei der sich Madonna und U2 verdingt haben und die vor allem dazu da ist, mit Konzerten Geld zu machen - da aus Platten nichts mehr herauszuholen ist: "Für zehn Jahre bekommt Madonna 120 Millionen Dollar. Dafür, dass sie Konzerte abliefert, die Rechte an bedrucktem Nippes abtritt, Filme macht und DVDs und nebenbei auch drei CDs. In dieser Reihenfolge."

Weitere Artikel: Boris Kalnoky berichtet, dass Richard Dawkins' gottloser Bestseller "Der Gotteswahn" in der Türkei als Volksverhetzung verfolgt wird. Besprochen werden eine Dramatisierung von Salman Rushdies "Satanischen Versen" in Potsdam, die Marthaler-Inszenierung des "Wozzeck" an der Pariser Oper, eine Ausstellung über den Nazi-Propagandafilm "Jud Süß" in Stuttgart und Konzerte des Berliner Festivals Maerzmusuik.

SZ, 01.04.2008

Auf der Medienseite berichten Constanze von Bullion und Viola Schenz über die neuen Stasi-Bekenntnisse in der Berliner Zeitung: "Seit Freitag kursiert die Akte vom Ressortleiter Magazin, Thomas Leinkauf ('IM Gregor'). Am Montag gestand zudem der stellvertretende Leiter des Politik-Ressorts in der Redaktionskonferenz, seit seinem 18. Lebensjahr bis zur Wende für die DDR-Staatssicherheit als Informeller Mitarbeiter (IM) tätig gewesen zu sein. Der Imageschaden der Affäre ist immens. Der Ruf der Zeitung 'als einzigartiges Ost-West-Labor, den sie sich in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten erworben hat' sei schlagartig bedroht, schrieb mit scharfen Worten Christian Bommarius, leitender Redakteur der Zeitung, am Samstag dem Chefredakteur und Geschäftsführer Josef Depenbrock." Lange Passagen aus dem Brief von Bommarius zitiert online Hans-Jürgen Jakobs.

In Italien hat ein Aufsatz des neapolitanischen Autors Antonio Pascale über den Autor als "Verantwortlichen des Stils" eine Literaturdebatte ausgelöst, berichtet Henning Klüver. Pascales wendet sich gegen die "Ästhetisierung des Schmerzes" und gegen eine Rhetorik, die sich unfreiwillig der Sprache derjenigen anverwandelt, die sie eigentlich anklagen will (hier ein Interview). "Andere Schriftsteller wehren sich, indem sie Pascales Argumentation verkürzen und polemisch behaupten, anscheinend gehöre es jetzt zum guten Ton, gegen die Ästhetisierung aller Gefühle zu wettern. Dabei sei doch die Ästhetik gerade das Mittel, das einem Vorgang Bedeutung gebe, schreibt beispielsweise Paola Capriolo im Corriere della Sera. Der Literaturwissenschaftler Andrea Cortellessa spricht sich ganz ähnlich gegen eine 'Ideologie des Dokuments' und einen 'Puritanismus der Klarheit' aus. Er beruft sich auf Carlo Emilio Gadda und dessen Nachkriegs-Polemik gegen den literarischen Neorealismus, der nur die Oberfläche der Phänomene beschrieben hätte aber nicht ihre Tiefe."

Weitere Artikel: Nachdem Christoph Haas erst mal über die "erstaunlich hohe Zahl" von gut dreißig professionellen Manga-Zeichnerinnen in Deutschland und ihr erstaunlich "hohes handwerkliches Niveau" hinweg ist, empfiehlt er einige Anthologien, die in dem Weimarer Kleinverlag Schwarzer Turm erscheinen. Der Musiker Gonzales hat eine neue CD mit Disco und Softrock veröffentlicht (Hörprobe). Im Interview erklärt er seine Vorliebe für Saxofonsolo: "Die Leute sind sensationell angewidert. Sogar der Saxofonist weigerte sich erst, das zu spielen. Großartig! Denn das bedeutet: Es funktioniert, die Hörer kämpfen mit ihrem Geschmack." Der neue Präsident des Goethe-Instituts, der 68-jährige Klaus-Dieter Lehmann, erklärt im Interview, wie er sich seine neue Aufgabe vorstellt: "in Zusammenarbeit mit den Instituten im Ausland Schlüsselthemen erkennen und definieren, Themen, die nicht mit einer Podiumsdiskussion an einem Abend zu bewältigen sind, sondern die sich erst in einem größeren Kontext entwickeln lassen, innerhalb von zwei oder drei Jahren." Der Künstler Angus Fairhurst hat sich auf einer Wanderung in Schottland das Leben genommen, meldet holi. Jean Nouvel erhält den Pritzker-Preis 2008, berichtet Gerhard Matzig.

Besprochen werden die Ausstellung "König Lustik?!" im Fridericianum Kassel über den "Musterstaat" Jerome Bonapartes, Inszenierungen von Goethes "Faust I", Rushdies "Satanischen Versen" und Katharina Schlenders Sozialgroteske "Der Zufriedene" von am Potsdamer Hans-Otto-Theater, Hagen Kellers Film "Meer is nich", Alban Bergs "Wozzeck", inszeniert von Christoph Marthaler und dirigiert von Sylvain Cambreling an der Pariser Opera Bastille und Bücher, nämlich Wolfgang Schullers "Die Welt der Hetären und Elke Erbs findige 5-Minuten-Notate "Sonanz" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 01.04.2008

Dieter Bartetzko gratuliert Jean Nouvel zum Pritzkerpreis, der wichtigsten Auszeichnung für Architekten: "Irgendein unkonventioneller Kommentar ist gewiss, wenn er ihm am 2. Juni in Washington D.C. überreicht werden wird. Nicht umsonst begründete die Jury ihre Wahl mit der 'Qualität seines unermüdlichen Unternehmungsgeistes, seiner Phantasie und dem Hang zum kreativen Experiment'. Diese Sätze fassen gehoben, was andere das beneidenswerte Savoir-vivre Nouvels nennen. Er ist berühmt und bei weniger standfesten Bauherren auch berüchtigt dafür, seine besten Ideen und kühnsten Skizzen während nächtelanger Arbeitsessen in überfüllten Restaurants zustande zu bringen. "

Weitere Artikel: Rainer Hermann stellt die Kulturstiftung "Anadolu Kültür" vor, mit der der Unternehmer Osman Kavala die Kultur in der türkischen Provinz fördern will. Der Molekulapathologe Lukas Kenner erklärt, warum man sich vom Einsatz embryonaler Stammzellen nicht sehr viel versprechen sollte. Kerstin Holm hat das Neu-Golutwin-Frauenkloster im nahe Moskau gelegenen Kolomna besucht, wo die Nonnen progressiv sind, aber gewiss nicht pro-westlich. Die stattliche Verkaufssumme von 764 218 Euro für ein Herge-Original kommentiert Andreas Platthaus. Gina Thomas porträtiert den neuen Leiter der National Gallery in London Nicholas Penny. Kurz gemeldet wird der Tod des britischen Künstlers Angus Fairhurst. Freddy Langer würdigt den FAZ-Autor für Reise und Musik Andreas Obst, der bei einem Tauchunfall ums Leben gekommen ist. Posthum veröffentlicht wird eine Kritik Obsts zu Mike Oldfields mit Lang Lang veröffentlichtem neuen Album "Music of the Spheres".

Auf der "Forschung und Lehre"-Seite kommt Jürgen Kaube nach Lektüre einer Studie zur Geschlechterungerechtigkeit in Berufungsverfahren für Professuren zum Ergebnis, dass nichts außer einer "Frauenquote" zu helfen scheint. Auf der Medienseite informiert Henning Hoff über Probleme bei El Dschazira Englisch. Gemeldet wird, dass nun ein weiterer Redakteur der Berliner Zeitung seine IM-Tätigkeit gestanden hat. Kerstin Holm gibt eine Meldung aus der Komsomolskaja prawda weiter und nennt den Namen des Mannes, der Anna Politkowskaja ermordet haben soll.

Besprochen werden weitere CDs, Uwe Eric Laufenbergs Potsdamer Kombi-Inszenierung von "Faust I" und Salman Rushdies "Satanischen Versen" ("formlos und trivial", klagt Irene Bazinger), Hans Neuenfels' Essener "Tannhäuser"-Inszenierung, die Ausstellung zu Alexander Rodchenko in der Londoner Hayward Gallery und Stefan aus dem Siepens Roman "Die Entzifferung der Schmetterlinge" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).