Heute in den Feuilletons

Rund hundert Gauner

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.02.2008. Die Welt fragt: Wie definiert man nach dem Ende des Brockhaus den Wissensstand einer Epoche? Die FR ruft: Lebt wohl ihr geliebten Schweinslederschinken! Für die SZ kämpft der Brockhaus ein letztes Rückzugsgefecht eines universellen Kulturbegriffes. Die Zeit bringt eine Satire von Beppe Grillo, der Italien von den Deutschen retten lassen will und eine Reportage von Navid Kermani aus Kaschmir. Alle kommentieren das drastische Entschädigungsurteil gegen Maxim Biller.

TAZ, 14.02.2008

Gestern entschied das Landgericht München über die Höhe des Schmerzensgeldes, das Maxim Biller seiner Exfreundin Ayse R. zahlen muss: 50.000 Euro, berichtet Christian Rath. Zuvor war Billers Roman "Esra" vom Bundesverfassungsgericht wegen Verletzung der Persönlichkeitsrechte von Ayse R. verboten worden. Für das Landgericht "'sind weder das Intimleben noch das Mutter-Kind-Verhältnis legitime Gegenstände öffentlicher Erörterung'. Das Landgericht blieb also ganz auf der Linie des Verfassungsgerichts. Verlagsjuristen wie Rainer Dresen von Random House hatten gehofft, dass das Gericht wegen der Abwägung mit der Kunstfreiheit 'keine gravierende Verletzung' des Persönlichkeitsrechts annimmt. Nimmt man die Kosten für Vertriebsverbot und Schadensersatz zusammen, kann ein Roman mit entsprechenden Inhalten für einen Verlag und/oder Autor ziemlich teuer werden."

Weitere Artikel: Judith Luig verabschiedet die Bestseller-Autorin Eva Heller, die in der vergangenen Woche 59-jährig verstorben ist. Ulrich Gutmair war in 'Clärchens Ballhaus' in Berlin dabei, wo der 93-jährige Budd Schulberg seinen zuerst 1941 im Original erschienenen Hollywood-Schlüssel-Roman "What makes a Sammy run?" vorgestellt hat.

Auf den vorderen Seiten spricht Cristina Nord mit dem amerikanischen Dokumentarfilmer Errol Morris über seinen Abu-Ghraib-Film "Standing Operations Procedure". In der tazzwei porträtiert David Denk die deutsche Nachwuchs-Filmschauspielerin Hannah Herzsprung, die im nächsten Jahr auch in Hollywood dreht.

Auf den Berlinaleseiten widmen sich Kritiken den Filmen "Filth and Wisdom" von Madonna, "Kabei" von Yoji Yamada, Kent Mackenzies "The Exiles", Bruce LaBruces "Otto: or Up With Dead People" und Dror Morehs Dokumentazion über Ariel Sharon "Sharon". Ekkehard Knörer unterhält sich mit dem koreanischen Regisseur Hong Sang-soo. Filme der Reihe "Panorama" werden hier besprochen.

Und Tom.

Welt, 14.02.2008

Matthias Heine weist auf eine fatale Konsequenz hin, die das Ende des gedruckten Brockhaus mit sich bringt: Wir können den Wissensstand einer Epoche nicht mehr nachvollziehen. "Bei Wikipedia ist der Wissenstand von vor fünf Jahren längst millionenfach überschrieben und modifiziert worden. Die Lösung könnte sein, dass der gesamte Datenbestand eines Online-Nachschlagewerks regelmäßig zu einem bestimmten Zeitpunkt gespeichert wird. Wikipedia gibt es ja tatsächlich auch schon auf CD-Rom zu kaufen - naturgemäß in einer Version, die gegenüber derjenigen im Netz veraltet ist, aber für künftige Historiker ein willkommenes Geschenk. Doch digitale Speichermedien veralten ungleich schneller als Bücher. Bis heute kann jeder problemlos den 270 Jahre alten Zedler lesen. Aber Datenträger aus der Frühzeit der EDV sind oft schon nur noch unter größten Mühen entzifferbar."

Weiteres: "Die private Jessye hat hat schwer gearbeitet. Die öffentliche hat Erfolg damit", sagt die gerade durch Deutschland tourende Diva Jessye Norman im Interview mit Kai Luehrs-Kaiser. In der Randglosse kritisiert Uwe Wittstock die Höhe des Maxim Biller auferlegten Schmerzensgelds von 50.000 Euro als existenzgefährdend. Ulrich Ammon berichtet von dem Kongress des weltgrößten Wissenschaftsverbands AAAS, bei dem es um Englisch als Wissenschaftssprache ging. Dankwart Guratzsch beklagt einen sinkenden Wissensstand bei Museumsbesuchern. Thomas Abeltshauser zeigt sich ganz verzückt von Mike Leighs Komödie "Happy-Go-Lucky". Uwe Schmitt hat sich bei Sylvester Stallones sehr blutiger "Rambo"-Fortsetzung bestens amüsiert.

FR, 14.02.2008

"Diese Nachricht ist eine Zäsur", kommentiert Manfred Schneider die Nachricht, dass der Brockhaus im August kostenlos online gehen wird. Doch findet er Trost in der Tatsache, dass "der Schritt aus dem Buchzeitalter der seriösen Wissensspeicherung heraus, den der Brockhaus-Verlag vollzieht, die Chance eröffnet, dass sich auch im neuen Medium nicht nur eine ständig aktuelle, reich verzweigte, auf Seiten in aller Welt verweisende Enzyklopädie anbietet, sondern dass auch wieder Sicherheit und Zuverlässigkeit in den Datenstrom einkehrt. Die Wikipedia-Anarchie hat endlich ausgedient, und die alten deutschen Büchertugenden der Verlässlichkeit und Genauigkeit sollten ihren Segen auch im Hypertextgewirr des Netzes ausbreiten. Lebt wohl ihr geliebten Schweinslederschinken! Adieu, du herrlicher Staub auf aller Erkenntnis!"

"Biller hat mehrfach gesagt, er wolle brutal schreiben. Seine - ästhetisch gemeinte - Brutalität hat sich letztlich an ihm selbst gerächt," merkt Ina Hartwig zum Urteil an, das Maxim Billers früherer Freundin Ayse Romey 50.000 Euro Schmerzemsgeld zuerkannt hat.

Weitere Artikel: in der Kolumne Times Mager gibt Christian Thomas der tükische Ministerpräsident Erdogan zu denken. Auf der Medienseite schreibt Rudolf Walther, dass Frankreichs wichtige Tageszeitungen Le Monde und Le Figaro in finanzielle Zwangslagen geraten sind.

Besprochen werden die beiden Berlinale-Filme "Filth and Wisdom" von Madonna und Mike Leighs "Happy-Go-Lucky", Anne Fletchers Film "27 Dresses", Sylvester Stallones neuer Rambo-Film "John Rambo" ("Auch wenn Sylvester Stallone seine Figur nicht mit einer neuen Idee beleben kann, so bringt er sie doch immerhin auf den neuesten Stand der Splatter-Technik", lästert Michael Kohler), eine Cennini-Ausstellung in der Berliner Gemäldegalerie, und der von Harald Bodenschatz und Ulrike Laible herausgegebene Band über internationale Strategien des Stadtumbaus "Großstädte von morgen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 14.02.2008

Jürg Altwegg verweist auf einen kleinen Erzählband Jonathan Littells, der die Zeit des Wartens auf die angekündigte Biografie des belgischen Faschistenführers Leon Degrelle durch Littell verkürzt. Christian Geyer bereitet uns seelisch auf die heutige Generaldebatte zur Stammzellforschung im Bundestag hin. In der Leitglosse kommentiert Richard Kämmerlings die Entschädigung von 50.000 Euro, die Maxim Biller nun für die in seinem Roman "Esra" angeblich begangenen Veletzungen von Persönlichkeitsrechten an seine ehemalige Geliebte zahlen soll. Gemeldet wird, dass Ian Buruma den mit 150.000 Euro dotierten Erasmus-Preis erhält. Patrick Bahners verweist auf die Tatsache, dass es in Bayern längst Islamunterricht für Kinder türkischer Herkunft gibt. Dieter Bartetzko fürchtet um den Abriss eines Ballhauses im thüringischen Altenburg. Martin Kämpchen verweist auf eine Rede, die Arundhati Roy in Istanbul gehalten hat und die vom Völkermord an den Armeniern, aber auch von Genoziden im allgemeinen handelt (sie ist bei Outlook India nachzulesen). Julia Roebke hat ein Tagebuch aus dem Ersten Weltkrieg gelesen, das von dem Enkel des Soldaten immer auf den Tag genau neunzig Jahr nach den Einträgen ins Netz gestellt wurde. Auf der Forschungsseite liest der Rechtsprofessor Gerd Roellecke Peter Wapnewskis Erinnerungen an 1968.

Auf der Berlinaleseite geht's unter anderem um Antonello Grimaldis Film "Caos calmo" mit Nanni Moretti und den neuen Film von Laetitia Masson. Auf der Medienseite kommentiert Jordan Mejias den Kompromiss nach dem Streik der Hollywoodautoren. Jürg Altwegg berichtet vom Streik der der öffentlich-rechtlichen Sender Frankreichs gegen die geplante Abschaffung von Werbung und vom ersten Interview Carla Bruni-Sarkozys, für das sich das ehemalige Mannequin schon entschuldigen musste.

Für die letzte Seite hat Alessandro Topa einen instruktiven Artikel über die alternative iranische Rockszene geschrieben, die oft vom amerikanischen Exil aus agiert - und er empfiehlt Bands wie Kiosk und Netzines wie Zirzamin und TehranAvenue. Dirk Schümer berichtet, dass nach den auch von Tariq Ramadan unterstützten Boykottforderungen gegen die Buchmesse Turin mit ihrem Gastland Israel nun auch von Rechtsradikalen erstellte Listen mit jüdischen Professoren an italienischen Universitäten im Netz kursieren. Und Mark Siemons kommentiert den Rückzug Steven Spielbergs von seiner Mitarbeit an den Olympischen spielen in Peking, den Spielberg mit der chinesischen Politik in Darfur begründet.

Besprochen werden der allerletzte Rambo-Film mit Sylvester Stallone, Händels "Theseus" an der Komischen Oper Berlin, ein Konzert des Country-Sängers Steve Earle in Darmstadt, eine Choreografie Sidi Karbi Cherkaouis in Antwerpen, eine Maurizio-Cattelan-Ausstellung in Bregenz und eine Nolde-Ausstellung in Bielefeld.

Perlentaucher, 14.02.2008

Vierter und letzter Teil des Vorabdrucks aus Götz Alys Buch "Unser Kampf" über 1968 - die 68er und ihre Eltern: "Trotz aller Aggressivität richteten die Achtundsechziger einen großen Teil ihrer Energien auf die Gruppenprozesse, Recht- und Linkshabereien mit ihresgleichen. Ihre wild ausgreifenden Aktivitäten, ihre Selbsterfahrungs-, Gruppen- und Kindererziehungsexperimente können als (verzweifelter) Versuch gedeutet werden, fehlende zwischenmenschliche Wärme zu erlangen."
Stichwörter: Aly, Götz

SZ, 14.02.2008

"Die Darstellung der 68er aus ihren eigenen Quellen blendet aus, dass auf der anderen Seite sehr vernünftige, lebenserfahrene Menschen saßen", sagt Götz Aly in einem langen Gespräch über sein Buch mit Jens Bisky. "Sie standen zwischen den über Nacht radikalisierten Studenten und Leuten wie den Berliner Polizeiführern, die zum Teil der SS angehört hatten. Die Vermittler wurden in dieser Situation zerrieben. Sie sind die wirklichen Helden von 1968, aber keiner spricht von ihnen."

Eine ganze Seite ist dem Brockhaus gewidmet, der gerade beschlossen hat, seine Enzyklopädie nur noch online zu veröffentlichen. Man könnte den Mut dieser Entscheidung feiern, die endlich dem krakenförmigen Zugriff von Wikipedia auf das Internet etwas entgegensetzen will. Aber nein, die SZ sieht das Abendland untergehen: "Wenn nun eine Institution wie die Brockhaus Enzyklopädie vor dem neuen Geschäftsmodell kapituliert und sich im Netz dem freien Markt aussetzt, dann ist dies ein letztes Rückzugsgefecht eines universellen Kulturbegriffes", kommentiert Andrian Kreye. "Noch fruchtete keiner der verzweifelten Versuche der Kulturwirtschaft, neue Verdienstmöglichkeiten im Netz zu suchen." Bernd Graff lehnt eine online-Enzyklopädie mit ihren Hypertexten schlicht ab: "Sie demütigt den Suchenden mit der überbordenden Fülle dessen, was er noch wissen könnte, wenn er es denn zu bewältigen vermöchte." Caspar Busse bezweifelt, dass der Brockhaus im Internet überleben wird.

Weitere Artikel: Andreas Zielcke ist entsetzt über die Verurteilung Maxim Billers und seines Verlags zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 50.000 Euro an Billers Exfreundin: "Jeder immaterielle Schaden, der in diesem Fall über eine symbolische Summe hinaus zugesprochen wird, beeinträchtigt ... die Freiheit der Kunst in hohem Maße." Harald Eggebrecht feiert den Musiker Jonny Greenwood und die Musik, die er für P. T. Andersons Film "There Will Be Blood" komponierte. Johann Schloemann war dabei, als der emeritierte Meister der historischen Sozialforschung Hans-Ulrich Wehler den Historiker Winfried Schulze in den Ruhestand verabschiedete. Anke Sterneborg interviewt Maria Bello, dem Star von Robin Swicords Film "Jane Austen Clubs".

Besprochen werden im Berlinale-Teil Barbara und Winfried Junges Abschlussfilm zu ihrer berühmten Chronik "Kinder von Golzow" im Internationalen Forum des Jungen Films, James Bennings Film "RR", Yoji Yamadas Wettbewerbsfilm "Kabei - Our Mother" und Mike Leighs Wettbewerbsbeitrag "Happy-Go-Lucky" und Madonnas Regiedebüt "Filth and Wisdom"(das Tobias Kniebe angenehm überraschte, während Willi Winkler in seiner Berlinalekolumne über die weltbewegendes Frage räsoniert, ob Madonna geliftet ist). Eine reguläre Donnerstagsfilmkritik befasst sich mit Sylvester Stallones Rambo-Rückkehrerfilm "John Rambo". Und dann werden noch Bücher besprochen, darunter der erste Roman der Künstlerin Cornelia Schleime "Weit fort" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Zeit, 14.02.2008

"Deutsche, bitte erobert uns!" ist eine Satire von Beppe Grillo überschrieben. Es ist eine sehr bittere Satire, die erst die größten Gauner unter den führenden italienischen Politikern vorstellt und sich dann den Abgeordneten zuwendet: "Im Parlament sieht es nicht besser aus. Ihr werdet dort 24 letztinstanzlich verurteilte Abgeordnete finden: verurteilt wegen Delikten, die von der Bildung einer bewaffneten Vereinigung über Betrug und Meineid bis hin zu Mafiazugehörigkeit reichen. Zu diesen 24 Prachtexemplaren kommen noch all jene Parlamentarier hinzu, die erst- und zweitinstanzlich verurteilt wurden, schließlich noch diejenigen, deren Strafen verjährt sind - alles in allem rund hundert Gauner. Verjährt bedeutet bei uns, dass die Strafe zu spät erlassen wurde, um im Gefängnis zu enden."

Weitere Artikel: Jens Jessen blickt angewidert auf das Fernsehprogramm von ARD und ZDF und lernt: Nur Dummheit wird mit einem Platz in der erste Reihe belohnt. Katja Nicodemus schickt ein erstes, recht zufriedenes Berlinale-Resümee. Christoph Siemes hat den Mann begleitet, der das Schaulaufen auf dem Roten Teppich bei der Berlinale organisiert. Bonn schafft seine Ballett-Compagnie ab und feuert Johan Kresnik, berichtet Melanie Suchy. In der Reihe "Geschichten aus der Arbeitswelt", die sich durch die ganze Zeit zieht, porträtiert Marian Blasberg den Leiter der Redaktion des Klever Wochenblatts, Klaus Schürmanns. Peter Roos war bei der Premiere des Kinofilms über Österreichs Popikone Falco, einem sogenannten Event mit ranzigen Crackern.

Besprochen werden die Mark-Rothko-Ausstellung in der Hypo-Kunsthalle München, eine Neuauflage der ersten CD von Amy Winehouse und ein Konzert des Pianisten Pierre-Laurent Aimard, der in München Bachs "Kunst der Fuge" spielte.

Der Literaturteil ist fast ausschließlich Jonathan Littell gewidmet. Iris Radisch und Harald Welzel schreiben beide voller Ablehnung bis Abscheu über den Roman "Die Wohlgesinnten". Klaus Harpprecht untersucht die französische Faszination für die Nazis. Und Georg Diez porträtiert Littells Vater, den Thrillerautor Robert Littell.

Für das Dossier ist Navid Kermani in das umkämpfte Kaschmir gereist.