Heute in den Feuilletons

Würdigung angebissener Äpfel

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.01.2008. Die NZZ meint: Spießer sind immer die anderen. Die FR kennt keine Fehlspekulation, nur verantwortungslose Banker. In der taz propagiert Alain Badiou die Wahrheit der Revolution. Gefälliges, aber keinen Akt findet die SZ in Kairos Akademie der Künste. Die FAZ fragt, warum im Filmgeschäft immer die hochbegabten jungen Männer sterben.

FR, 24.01.2008

Die Gründe für die Börsenkrise "Fehlspekulation" zu nennen, ist für Manfred Schneider reine Augenwischerei. "Wir haben es mit einem Euphemismus zu tun, der ein sprachmagischer Trick ist, um schmerzlichen Tatsachen den Stachel zu nehmen. Beschönigungswörter wie Fehlspekulation erzielen den weiteren Effekt, dass sie die Verantwortung von Bankiers und Kapitalmanagern verschleiern".

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte befragt den chinesischen Filmregisseur Wong Kar Wai über seinen neuen Film "My Blueberry Nights", Christian Thomas polemisiert in der Kolumne Times Mager gegen ein vom wilden Zauber der Loreley geblendetes Welterbekomitee Icomos. Gemeldet wird außerdem, dass der deutsche Regisseur Fatih Akin aus Hamburg und der französische Regisseur Abdellatif Kechiche den diesjährigen europäischen Medienpreis, die Karlsmedaille erhalten.

Besprochen werden Rob Reiners Komödie über zwei Todkranke "Das Beste kommt zum Schluss", (den Daniel Kotheschulte nur teilweise zum Totlachen findet) und Jossi Wielers und Sergio Morabitos triumphale Inszenierung der Verdi-Oper "Maskenball" an der Staatsoper in Berlin.

NZZ, 24.01.2008

Joachim Güntner fragt sich im Umfeld der durch die Blogs und Feuilletons marodierenden Jessen-Schirrmacher- Internet-Pöbel-Debatte, ab wann man eigentlich ein Spießer ist. So allgemein, bedauert er, lässt sich das nicht sagen: "Gemeint sind immer die anderen. Die Parameter für Humorlosigkeit oder übersteigerte Ordnungsliebe liegen im Auge des Betrachters, und der kann, wenn er ehrlich ist, oft genug an sich selbst beobachten, wie sich seine Maßstäbe verschieben."

Weitere Artikel: Christoph Egger berichtet von den Solothurner Filmtagen. Jürg Zbinden schreibt einen kurzen Nachruf auf den tot aufgefundenen Hollywood-Jungstar Heath Ledger.

Besprochen werden Wong Kar-Wais amerikanischer Film "My Blueberry Nights", Rob Reiners Tragikomödie "The Bucket List" (der nicht in der Schweiz, aber in Deutschland den Titel "Das Beste kommt zum Schluss" verpasst bekommen hat) und Bücher, darunter Richard Sennetts Essay "Handwerk" und Russell Hobans Roman "Amaryllis Tag und Traum" (dazu mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 24.01.2008

Das Feuilleton dokumentiert einen Vortrag, den der französische Philosoph Alain Badiou an der Berliner Humboldt-Universität gehalten hat. Demokratische Meinungsfreiheit und philosophische Wahrheit stehen, wie er meint, zueinander im grundsätzlichen Widerspruch. Wichtiger aber als die Freiheit der Meinung, so Badiou gegen Richard Rorty, ist die Wahrheit der Revolution. Klingt irgendwie nach Mao? Ist auch so gemeint: "Man muss zunächst eine grundlegende Auswahl akzeptieren. Hier ist es die Wahl zwischen zwei Wegen, wie die chinesischen Revolutionäre gesagt haben: dem revolutionären Weg oder dem konservativen Weg, Arbeiterklasse oder Bourgeoisie, kollektiver Handlung oder privatem Leben. Und man muss die Konsequenzen dieser Wahl annehmen: Opfer und erbitterter Kampf, keine Freiheit der Meinungen oder Lebensstile, sondern Disziplin und harte Arbeit, um die strategischen Mittel für den Sieg zu finden. Und das Resultat ist kein demokratischer Staat im landläufigen Sinne des Wortes, sondern eine Diktatur des Proletariats, die dazu dient, die Feinde niederzuschlagen."

Nicht Fragen von Gender und Race werden die amerikanische Wahl entscheiden, schreibt Daniel Haufler auf der Meinungsseite, sondern die Generationenfrage. "Vor allem für diese unter 40-Jährigen stellen sich die Rassen- und Genderfrage nicht mehr so wie früher. Sie sind oft genug in multikulturellen Verhältnissen aufgewachsen und haben erlebt, dass Frauen es in Medien, Politik und Industrie weit bringen können, dass Farbige Außenministerin und General werden oder Latinos Unternehmen führen und hohe Richterämter bekleiden. Der Streit über Gender und Race ist für sie weitgehend überholt."

Weiteres: Cristina Nord betrauert den Tod des jungen Hollywoodstars Heath Ledger, dessen "profunde Darstellung schwulen Selbsthasses und verinnerlichter Homophobie" in Ang Lees Film "Brokeback Mountain" sie nachhaltig beeindruckt hat.

Besprochen werden Wong Kar-Wais neuer Film "My Blueberry-Nights" mit Norah Jones (der aus Sicht von Anke Leweke leider nur ein manierierter Nahrungsmittelporno geworden ist), Volker Koepps Dokumentarfilm über das Leben von Kindern am Rand von Kaliningrad "Holunderblüte", der letzte Teil seiner Ostpreußentrilogie und ein Fotoband über alte Kaufmannspaläste in Kalkutta (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Welt, 24.01.2008

Der Tenor Jonas Kaufmann spricht im Interview über mangelnde Kompetenz im deutschen Opernbetrieb. Peter Zander schreibt den Nachruf auf den mit 28 Jahren gestorbenen Schauspieler Heath Ledger. Kanzlerin Merkel und einige Bundestagsabgeordnete sahen sich eine Vorabaufführung des ZDF-Films "Die Gustloff" an, berichtet Sven Felix Kellerhoff.

Besprochen werden Wong Kar-wais Film "My Blueberry Nights", Marcel Wehns Wenders-Filmporträt "Von einem der auszog", Jan Sveraks Film "Leergut", Stephen Kings gerade in den USA erschienenes neues Buch "Duma Key" und Christoph Schroths Faust-Inszenierung in Cottbus.

Zeit, 24.01.2008

Thomas Assheuer zeigt sich in einem Punkt dankbar für Andrew Mortons Tom-Cruise-Biografie: Sie habe offengelegt, wie Tom Cruise mit seinem Stauffenberg-Film die Türen ins intellektuelle Milieu öffnen sollte, was dann ja irgendwie auch geklappt hat: "Der ranghohe Repräsentant einer geschichtsvergessenen Kultreligion, deren Ziel darin besteht, die Gegenwart vom Ballast 'toter Seelen' zu befreien, gibt unter dem Beifall seiner neuen Freunde 'den Deutschen ihre Helden zurück' - und damit das gute Gewissen. Diese trübe Allianz ins rechte Licht gerückt zu haben ist eine schöne Nebenwirkung von Mortons Buch."

Weitere Artikel: Thomas Groß prüft die neuen Modelle der Musikindustrie, endlich wieder Geld mit Pop zu verdienen. Georg Diez unterhält sich mit Sean Penn, dem "größten Schauspieler seiner Generation", wie er nüchtern notiert, über dessen Film "Into the Wild", eine Verfilmung von Jon Krakauers gleichnamigem Buch. In einem offenen Brief fordern 21 Deutschtürken - von Cem Özdemir über Feridun Zaimoglu bis Renan Demirkan - Roland Koch und die Unions auf, Schluss mit dem populistischen Wahlkampf zu machen.

Besprochen werden die Gerhard-Richter-Retrospektive im Museum Frieder Burda in Baden-Baden und Wong Kar-weis Film "My Blueberry Nights".

Im Aufmacher der Literaturseite preist Karl-Markus Gauß David Albaharis Roman über den Antisemitismus auf dem Balkan "Die Ohrfeige". Das Dossier sieht sich in Alten-WGs um.

SZ, 24.01.2008

Für das Feuilleton besucht Sonja Zekri Kairos Akademie der Schönen Künste, der die Aktmalerei verboten ist und der Lehrplan bei den Impressionisten endet: "Es ist ja nicht die Religion. Die Klassen sind überfüllt. Das Lehrangebot kreist um Malerei, Skulptur, Graphik, Porträts in Öl und jede Menge Stillleben, als sei die Würdigung angebissener Äpfel gerade der Gipfel künstlerischen Ausdrucks. Eigeninitiative gilt als Aufsässigkeit. 'Einmal sollten wir eine helle Leinwand mitbringen', erzählt Lina: 'Alle kamen mit weißen Flächen, nur ich hatte eine hellgelbe. Da keifte die Lehrerin: Musst du immer anders sein als die anderen?' Seitdem ist sie pragmatischer geworden. An der Universität pinselt sie Gefälliges in Öl, ästhetische Experimente hebt sie sich für zu Hause auf. Mit 15 Jahren hatte sie als erste Künstlerin eine Ausstellung im staatlichen Jugend-Salon. 'Wenn ich irgendwann mal Akte malen will, zeige ich sie eben zuerst im Ausland - und dann in Ägypten.'"

Weitere Artikel: "Man überlege, welches zur doppelten und dreifachen Potenz erhobene, welches mehr als blinde, welches halsbrecherische Vertrauen einer aufbringt, der Aktien kauft, ja möglicherweise sich dafür sogar Geld leiht", räsoniert Burkhard Müller aus aktuellem Anlass. Jörg Königsdorf sprich mit Hamburgs neuem Musikchef Christoph Lieben-Seutter. Susan Vahbzadeh trauert um den amerikanischen Schauspieler Heath Ledger, der am Dienstag 28-jährig in seiner Wohnung tot aufgefunden wurde. Dirk Graalmann informiert, dass auf Drängen der Politk am Konzept für die Kölner Moschee Änderung vorgenommen wurden. Und Johan Schloemann befasst sich mit der zutiefst deutschen Frage, ob am 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung vom Auschwitz, gleichzeitig der Opfer des Holocaust gedacht und Karneval gefeiert werden kann.

Auf der Medienseite erklärt Gerti Schön, warum der Streik der amerikanischen Drehbuchautoren die Geschäftsmodelle der großen Fernsehsender in Frage stellt: keine Serien, keine Werbeeinahmen.

Besprochen werden Rob Reiners neuer Film "Das Beste kommt zum Schluss" über zwei, von Jack Nicholson und Morgan Freeman gespielte alte Männer mit Krebs im Endstadium (den Anke Sterneborg als ungewöhnlichen Beitrag zur Altersvorsorge lieben lernte), Wong Kar-Wais melancholischer Liebesfilm - "My Blueberry Nights" ("keine nackten Leiber und trotzdem erotisch in jeder Faser", freut sich Rainer Gansera), die Ausstellung der Deutschen Bahn zu ihrer Beteiligung an den Deportationen "Sonderzüge in den Tod" im Berliner Potsdamer Bahnhof, ein Bach-Konzert des Cello-Stars Yo-Yo Ma in München (ein "Wunder an Inspiration und Klangphantasie Spontaneität und Freiheit" staunt Harald Eggebrecht) und Bücher, darunter zwei Auseinanderetzungen mit Fragen der Gentechnik (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FAZ, 24.01.2008

Der Tod von Heath Ledger lässt Verena Lueken fragen: "Was ist los mit diesen jungen, hochbegabten Männern im Filmgeschäft, die sich, wie Ledger und vor ihm eben Phoenix, mit aller Kraft gegen das System stellen, das sie, die gutaussehenden, profitversprechenden Idole von jugendlichen Heerscharen, in seinen Dienst nehmen will mit Rollen, die sie nicht spielen wollen, mit Angeboten, die sie ewig festlegen wollen auf ein einmal erfolgreiches Konzept? ... Was ist los mit dem System, müsste man vielleicht fragen, das seine größten Talente immer wieder an Exzesse, Drogen, an Depression, an Alkohol verliert und sie dann so jung verrecken sieht, auf der Straße, wie River Phoenix, oder nackt auf dem Boden ihres Schlafzimmers, wie jetzt Heath Ledger?"

Weitere Artikel: Hubert Spiegel erläutert die Hintergründe zur Festnahme türkischer Rechtsextremisten, die nicht nur Orhan Pamuk ermorden wollten. In der Glosse macht sich Jürg Altwegg ein wenig lustig über die französische Kulturministerin Christine Albanel und tritt nebenbei auch noch der "seichten und intellektuellen Linken" (?) Carla Bruni vors Schienbein. Dieter Bartetzko schlägt die Hände über dem Kopf zusammen angesichts von Plänen, der Loreley eine Brücke vor die Nase zu setzen. Joseph Hanimann stellt Boualem Sansals "Le village de l'Allemand - ou le journal des freres Schiller" (Das Dorf des Deutschen oder Das Tagebuch der Brüder Schiller) vor, eine weitere "bedeutsame Romannovität Frankreichs zum Thema Nationalsozialismus" (mehr in unserer Magazinrundschau). Hannes Hintermeier feiert Georg Thumbach, Zeichner des deutschen Unterholzes. Martin Lhotzky nickt die Oscar-Nominierung von Stefan Ruzowitzkys Film "Die Fälscher" ab. Paul Ingendaay porträtiert den Hispanisten Sir John Elliott.

Auf der Medienseite weiß Nina Rehfeld zu berichten, dass im US-Fernsehen wegen Autorenstreiks jetzt nicht nur besonders Dämliches, sondern auch besonders Gewagtes läuft.

Für die Kinoseite haben sich Verena Lueken und Michael Althen mit einem bestens aufgelegten Jack Nicholson unterhalten, der unter anderem in den höchsten Tönen von Hillary Clinton spricht: "Ich glaube einfach, sie ist der beste Mann für den Job." Michael Althen betreibt außerdem Oscar-Arithmetik, Hans-Jörg Rother stellt das durch die Republik tourende Festival "ueber morgen" vor, und Rüdiger Suchsland berichtet vom Max-Ophüls-Festival in Saarbrücken.

Besprochen werden die nach langem Widerstand der Bahn jetzt am Potsdamer Platz eröffnete Ausstellung "Sonderzüge in den Tod", ein Kölner Konzert von Pete Doherty, Wong Kar-Wais sehr gut aussehende "Fototapete" in bewegten Bildern "My Blueberry Nights", und Bücher, darunter Andre Winters Roman "Die Hansens" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).