Heute in den Feuilletons

Nehmt das, Schwachköpfe!

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.01.2008. Die taz kritisiert eine haltlose Indizienkette bei der FAZ. Der FAZ ist unbehaglich: Internetnutzer im Diskursraum! Und Ernst-Wilhelm Händler will den Codex ändern, zunächst einmal bei Siemens. In Spiegel Online nimmt Seyran Ates die Jugendlichen gegen den Populismus in Schutz. In der FR fordert Jack Nicholson: "Sehen Sie mich an: Ich bin interessant, und ich bin noch zu haben." Die NZZ warnt vor dem Einzeller Toxoplasma gondii in Ihrem Darm: Er könnte Ihren Charakter ändern.

NZZ, 23.01.2008

Der Biochemiker Gottfried Schatz weiß wieder einmal eine sehr erhellende Geschichte aus seiner Wissenschaft zu erzählen. Diesmal geht es darum, wie Parasiten unsere Persönlichkeit verändern können. Zum Beispiel verkehrt der Einzeller Toxoplasma gondii die angeborene Furcht von Mäusen und Ratten vor Katzenduft in ihr Gegenteil: "Sie wird zur tödlichen Vorliebe". Denn Toxoplasma gondii kann sich nur im Darm von Katzen fortpflanzen. Von diesem Parasiten werden auch Menschen befallen: "Einige Untersuchungen sprechen dafür, dass Toxoplasma unsere Psyche auch auf subtilere Weise verändern kann: Es macht Frauen oft intelligenter, dynamischer und unabhängiger, Männer dagegen eifersüchtiger, konservativer und gruppenhöriger. In beiden Geschlechtern erhöht es die Neigung zu Schuldbewusstsein, was manche Psychologen als negative emotionale Grundhaltung deuten."

Weiteres: Karin Hellweg preist die große Ausstellung zu Velazquez im Madrider Prado. Peter Hagmann erzählt vom Erfolg des Aargauer Symphonie-Orchesters und seines Dirigenten Douglas Bostock.

Besprochen werden eine Ausstellung zum kürzlich verstorbenen Design-Pionier Ettore Stosass in der Ex-Peschiera von Triest und Bücher, darunter Domingo Faustino Sarmiento Essay aus dem Jahr 1845 über die Ursprünge totalitärer Herrschaft "Barbarei und Zivilisation", drei Anthologien tschechischer Poesie und Hanns-Josef Ortheils Roman "Das Verlangen nach Liebe" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FR, 23.01.2008

In einem Interview spricht Jack Nicholson über seinen neuen Film "Das Beste kommt zum Schluss", die charakterverbessernde Wirkung des Alters und sein Talent zum Sexsymbol. "Sehen Sie mich an: Ich bin interessant, und ich bin noch zu haben. Es gibt nun mal Dinge, die kannst du nicht verbergen. Ich bin bereit loszulegen, obwohl sich mein Charakter auch in der Hinsicht verbessert hat. Ich kann mir heute auch nicht mehr alles rausnehmen. Ich hätte beispielsweise nie gedacht, dass ich mich mal unwohl dabei fühlen könnte, eine Frau in der Öffentlichkeit anzumachen. Warum sollte ich? Aber das ist jetzt wohl auch eine Folgeerscheinung des Alters. Es fühlt sich für mich nicht mehr richtig an. Ich fühle mich in solchen Momenten bloßgestellt in einer Weise, wie es mir früher nie passiert ist. Vielleicht sollte ich einfach wieder mal mehr ausgehen."

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte überlegt, warum Tom Cruise, den er als Schauspieler schätzt, "alles darstellen zu können (scheint) außer sich selbst". Begleitend versucht Christian Schlüter zu ergründen, warum Scientology gerade in Hollywood so attraktiv ist. Seine These: die Hubbardsche Mythologie passt zur "wirklichkeitsbildenden Allmacht des Films". In Times mager kommentiert Harry Nutt das ungünstige terminliche Zusammenfallen des Karnevalumzugs mit dem internationalen Holocaust-Gedenktag in München. Gemeldet werden die Oscar-Nominierungen, darunter - natürlich - Cate Blanchett für ihre Hauptrolle in "Elizabeth - Das Goldene Königreich" und ihre Nebenrolle als Bob Dylan in "I'm Not There". Die Medienseite meldet, dass Gegendarstellungen nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts noch schwerer durchzusetzen sein werden als bisher.

Besprochen werden die von Gerhard Richter selbst kuratierte Retrospektive im Museum Frieder Burda in Baden-Baden und eine Inszenierung von Gerhard Hauptmanns "Vor Sonnenaufgang" am Kasseler Staatstheater.

TAZ, 23.01.2008

Schirrmacher in der FAZ, Wagner in der Bild-Zeitung, Schmid in der Welt - auf der Meinungsseite macht der Jurist und Redakteur Albrecht von Lucke die "Konstruktion einer neuen 'Deutschfeindlichkeit' in deutschen Zeitungen aus. "Tatsache ist, dass die Bild-Zeitung diesen Kern sofort erkannte und mit Genuss popularisierte, als sie ihre Seiten 2 und 3 auf ganzer Breite mit dem entscheidenden Schirrmacher-Zitat übertitelte: 'Sie haben begonnen, einen Feind zu identifizieren.' Die Ironie seitens der Bild-Zeitung: Auf den ersten Blick war nicht einmal zu erkennen, wer den Feind ausgemacht und die Feindschaft ausgerufen hatte - die kriminellen Jugendlichen oder der FAZ-Herausgeber höchstselbst. Das aber trifft den Kern des Skandals. Tatsächlich ist es Schirrmacher, der den Feindbegriff in die Debatte einführt. Und zwar mit Hilfe einer haltlosen Indizienkette." Und damit werde ohne Not der Feindbegriff aus der Terrorismusdebatte in die innenpolitische Diskussion überführt.

In tazzwei beschreibt die Scientology-Expertin Ursula Caberta (mehr hier) die Europa-Strategie von Scientology und Tom Cruise: "Der Oberboss, David Miscavige, hat vor einigen Jahren Europa den Krieg erklärt. Die Marschrichtung lautete: Das alte Europa muss in den Griff bekommen werden. Cruise war von Anfang an wichtiger Teil dieser Kampagne. Es gibt einen Brief von ihm, in dem er sich beim State Department für die Hilfe der US-Vertretungen in Europa bedankt, die es ihm ermöglichen, für seine 'Religion' direkt vor Ort zu mobilisieren." Bei der Bambi-Verleihung, bei der Cruise von Frank Schirrmacher mit bewegenden Worten (mehr hier) die Auszeichnung für Courage überreicht wurde, sei diese Europa-Strategie wunderbar aufgegangen.

Weiteres: Cigdem Akyol erinnert an den vor einem Jahr ermordeten türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink. Im Kulturteil lesen wir ein "Interview" mit Charles Bukowski, genauer: eine von Frank Schäfer aus Versatzstücken montierte Collage aus dem neuen Band "Letzte Meldungen. Gedichte". Claudia Lenssen gratuliert Jeanne Moreau zum 80. Geburtstag. Besprochen wird Felicia Zellers Theaterstück über den Fall Kevin, "Kaspar Häuser Meer" am Theater Freiburg.

Und hier Tom.

Welt, 23.01.2008

Hanns-Georg Rodek unterhält sich mit Jack Nicholson über das Rauchen und weniger über seinen neuen Film "Das beste kommt zum Schluss", der nicht die Gnade des Kritikers findet. Sven Felix Kellerhoff berichtet über die Eröffnung von Beate Klarsfelds Ausstellung über die Rolle der Bahn im Holocaust, die nun zwar nicht im Berliner Hauptbahnhof, aber im Regionalbahnhof Potsdamer Platz gezeigt wird. Gerhard Midding gratuliert Jeanne Moreau zum Achtzigsten. Rainer Haubrich berichtet, dass das deutsche Architektenbüro KSP Engel und Zimmermann die riesige Zentralmoschee in Algier bauen wird. Uwe Wittstock meldet, dass die Buchpreisbindung nach der Abschaffung in der Schweiz nun auch in Österreich gefährdet ist. Uta Baier gratuliert Georg Baselitz zum Siebzigsten. Und Jörg von Uthmann schreibt über die in Frankreich weithin anerkannte Praxis des Konkubinats.

Spiegel Online, 23.01.2008

Mit Populismus lassen sich die Probleme der Jugendlichen mit Migrationshintergrund nicht lösen, meint Seyran Ates: "Sie sind wütend, weil sie sich im Stich gelassen fühlen und tatsächlich auch im Stich gelassen wurden. Sowohl von den eigenen Eltern und der näheren Verwandtschaft, als auch von der deutschen Gesellschaft. Sie sehen, dass sie keine Chance haben, in dieser Gesellschaft ein Bein auf den Boden zu bekommen, und sie schlagen lieber zu, als darüber nachzudenken, ob sie eigenverantwortlich an ihrer Situation etwas ändern könnten. Sie haben nicht gelernt, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen und Probleme ohne Gewalt zu lösen."

Gemeldet wird auch, dass der gerade mal 28-jährige Schauspieler Heath Ledger ("Brokeback Mountain") tot aufgefunden wurde.

FAZ, 23.01.2008

Inhaltliche Weiterbildung reicht nicht aus, meint der Schriftsteller und Unternehmer Ernst-Wilhelm Händler: "Genauso muss es auch ethische Schulungsprogramme geben, in denen die Ethik-Kodizes nicht nur als Lernmaterial verteilt werden, sondern in deren Rahmen beispielhaft konkrete Situationen beim Hereinholen von Aufträgen durchgespielt werden." Händler spricht vom Fall Siemens, nicht zum Beispiel vom Pressekodex.

Vom Pressecodex spricht aber Christian Geyer, allerdings nur bei den Lesern! Er ist entsetzt über die Nutzerkommentare zu Jens Jessens Spießer-Video und fordert eine scharfe Kontrolle der freien Öffentlichkeit: "Weil die Pöbel-Nutzer mit ihren schmierigen Mitteln die Freiheit der Rede untergraben, gehören sie selbst aus dem Diskursraum ausgeschlossen." Siehe auch unseren "Link des Tages".

Weitere Artikel: In der Glosse kommentiert Hubert Spiegel jüngste Äußerungen Peter Handkes über das "Ausklingen"-Lassen seiner Schriftsteller-Laufbahn - und prognostiziert dem zum Trotz ein vielleicht doch nicht so schnell enden wollendes Alterswerk. Rose-Maria Gropp gratuliert Georg Baselitz zum Siebzigsten. Die sich abzeichnenden Konfliktlinien für den Stadtschloss-Neuaufbau präsentiert Andreas Kilb zum Ende der Bewerbungsfrist für den Architektenwettbewerb. Den Auftritt des Joschka Fischer als Zitat seine selbst hat Tobias Rüther in Wiesbaden erlebt. Kilian Trotier hat zugehört, als die Historiker Lutz Niethammer und Hans Mommsen im Rahmen einer Hamburger Vortragsreihe über "Zeitzeugenschaft" nachdachten. Kerstin Holm berichtet aus dem langen Winter in der russischen Provinz. Manfred Lindinger stellt Günter Ziegler vor, Präsident der Deutschen Mathematiker-Vereinigung. Gemeldet wird, dass die Niederlande sich im letzten Jahr im "Buchkaufrausch" befanden. Auf der DVD-Seite gratuliert Michael Althen der Schauspielerin Jeanne Moreau zum Achtzigsten; welche Moreau-Filme es so auf DVD gibt, wird separat aufgelistet. Und auf der Medienseite werden die bundesverfassungsgerichtliche Einschränkung des Gegendarstellungsrechts und die Einteilung der Journalisten in unterschiedliche Klassen beim FC Bayern München kommentiert.

Besprochen werden Christoph Schroths Cottbuser "Faust I"-Inszenierung, eine von Robert Carsen inszenierte, von Bertrand de Billy dirigierte Aufführung von Francis Poulencs Oper "Dialogues des Carmelites" in Wien, die Uraufführung von Felicia Zellers Stück "Kaspar Häuser Meer" in Freiburg, die Ausstellung "Wessen Geschichte" im Hamburger Kunstverein und Bücher, darunter eine neue Edition der Lebenserinnerungen von Leonard Autie, Haus- und Hofcoiffeur von Marie-Antoinette (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 23.01.2008

Johannes Wilms stellt den Roman "Le Village d?Allemand ou le journal des freres Schiller" vor. Darin erzählt der algerische Schriftsteller Boualem Sansal (mehr hier und hier), wie zwei in einer Pariser Banlieue lebende Brüder herausfinden, dass ihr Vater, ein Held der algerischen Befreiungsbewegung FLN, einst SS-Offizier war. Sansal attackiert hier algerische Tabus mit einiger Gründlichkeit und zieht einen Bogen zwischen Islamismus und Nationalszozialismus. Wilms zitierte eine Passage eines der Protagonisten: "Wenn ich sehe, was die Islamisten bei uns (in Frankreich) und anderswo tun, dann sage ich mir, dass sie eines Tages, wenn sie an der Macht sind, selbst die Nazis übertreffen werden." Wilms weiter: "Dieser Verdacht wurde schon öfter geäußert, aber noch nie so eindrücklich begründet. Zudem erhebt ihn ein Autor, der tagtäglich in einer Wirklichkeit lebt, in der die Grenze zwischen menschlicher, zivilisierter Normalität und dem Albtraum pathologischer Irrealität aufgehoben ist." Hier ein Interview mit Boualem Sansal aus dem Nouvel Observateur der letzten Woche.

Zu Beginn eines Interviews anlässlich seines neuen Films "Das Beste kommt zum Schluss" pfeffert Jack Nicholson erst einmal wütend vier Zigarettenkippen auf einen Berliner Hotelteppich. "Nehmt das, Schwachköpfe! Wer zu blöd ist, Papierkörbe in Hotelzimmern aufzustellen, muss den Dreck halt vom Teppich kratzen!"

Weiteres: Alexander Menden würdigt den Maler Georg Baselitz zu dessen siebzigsten Geburtstags. Fritz Göttler gratuliert Jeanne Moreau zum Achtzigsten. Christiane Schlötzer nimmt Nicolas Sarkozys Idee einer Mittelmeer-Union unter die Lupe und sagt, was sie wirklich bezweckt: die Türkei aus der EU rauszuhalten. Susan Vahabzadeh kommentiert die Oscar-Nominierungen und sieht viele Dramen und einige Außenseiter. Till Briegleb berichtet über die Präsentation von Rem Koolhaas? überarbeitetem Science-Center für Hamburgs Hafencity. Jürgen Berger sorgt sich um die mögliche Schließung der Schiffbauhalle, der zweiten Spielstätte des Schauspielhauses Zürich. "skoh" informiert über den Abschluss der Untersuchung zur Rückgabe des Kirchner-Bildes "Berliner Straßenszene" an die Erben durch den Berliner Senat. "ijo" berichtet von der Vorstellung der neuen Fellows der American Academy in Berlin. Gemeldet wird die Zuerkennung des Würth-Preises für Europäische Literatur an den österreichischen Dramatiker und Schriftsteller Peter Turrini.

Auf der Medienseite meldet Caspar Busse, dass Friede Springer den Streit ums Erbe gegen Axel Springers Enkel Aggi gewonnen hat und damit die volle Kontrolle über den Konzern behält.

Besprochen werden eine "verseifenoperte" Inszenierung von Schillers "Maria Stuart" am Schauspielhaus Bonn und Bücher, darunter die Kindheits- und Jugenderinnerungen von Patrick Modiano und Paul Coelhos Roman "Die Hexe von Portobello". (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)