Heute in den Feuilletons

Mitunter gar Revisionismus

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.01.2008. In der taz macht sich Bahman Nirumand Sorgen um die iranischen Blogger. Die Welt brigt eine Reportage über die schmerzhafte Exhumierung der spanischen Vergangenheit. Der Tagesspiegel liest Uwe Nettelbecks Nachlass. Der Umblätterer präsentiert eine Liste der angeblich zehn besten Feuilletonartikel des Jahres 2007. In der FAZ meint Frank Schirrmacher: Wer sich selbst misstraut, der wird geschlagen. Die SZ findet: Detroit gibt ein trauriges Bild ab.

TAZ, 15.01.2008

Unter Präsident Chatami gab es im Iran eine nicht zu unterschätzende zivilgesellschaftliche Liberalisierung, nicht zuletzt mit einer riesigen Blog-Szene im Internet. Diese Errungenschaften, klagt Bahman Niruman, drohen gerade wieder verloren zu gehen: "Seit dem Regierungswechsel im Sommer 2005 ... gibt es immer wieder Kampagnen zur strengeren Durchsetzung von Kleidungsvorschriften, es gibt häufiger Blitzaktionen zur Einsammlung von Parabolantennen, die allerdings am nächsten Tag von den Benutzern neu installiert werden. Dank der Technikentwicklung in den USA konnte die Regierung in Teheran in den Besitz von Geräten gelangen, mit denen kritische Internetzeitungen gefiltert werden... Letzten Dezember wurden 24 Internet-Cafes in Teheran geschlossen und 23 Betreiber festgenommen.

Weitere Artikel: Alexander Cammann hat im jüngsten Heft der Zeitschrift Sinn und Form die aus dem Nachlass des Mediziners Viktor von Weizsäcker veröffentlichte Geschichte seiner Flucht 1945 gelesen. In seiner "Warenkunde"-Kolumne erklärt Wolfgang Ullrich, warum "Konsumbiografien" heutzutage "Bildungsromane" sind. Simone Kaempf stellt die in Theater und Film erfolgreiche Schauspielerin Birgit Minichmayr vor. Julian Weber schreibt einen Nachruf auf Ron Murphy, der dem Detroit-Techno seinen Klang verlieh. Auf Seite 2 porträtiert Ulrich Gutmair den Golden-Globe-Preisträger Johnny Depp.

Und Tom.

Tagesspiegel, 15.01.2008

Dieser Tage erscheint die letzte Ausgabe der Zeitschrift Die Republik mit Texten zum Kino aus dem Nachlass ihres vor genau einem Jahr verstorbenen Herausgebers Uwe Nettelbeck. Peter von Becker erinnert an Nettelbecks frühe Texte zum Film, die "von solcher Anschaulichkeit, Wahrnehmungsschärfe und Reflexionsdichte" waren, "wie sie auf späteren Kulturseiten nie mehr zu lesen waren". Und er preist das letzte Heft: "Auf 208 Seiten ...enthält diese 'Republik' vor allem ein riesiges hinterlassenes Fragment mit dem Titel 'Kino'...: ein Bilder-Werk-Gedankenkosmos, von der 'Titanic' oder Hitchcocks Krimis über tausend Western und Eastern, der mit Sam Peckinpah, mit Pat Garrett und Billy the Kid endet. Dort abbricht. Ein filmisch-literarisch-kulturgeschichtlicher Mahlstrom, Kugelblitz, Geistesozean."

FR, 15.01.2008

Meike Kolodziejczyk gerät ins Grübeln beim Anblick eines Elektroschockers - im Leopardendesign und mit integriertem MP3-Player -, der auf der Consumer Electronics Show in Las Vegas vorgestellt wurde (mehr hier). Daniel Kothenschulte meldet, wer für was einen Golden Globe bekam. Rasse und Geschlecht bedeuten Wählern mehr, als diese in Umfragen zugeben, glaubt Jagoda Marinic mit Blick auf den amerikanischen Wahlkampf. Arno Widmann war bei einem Vortrag der Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak an der HU Berlin: "Den zu ihren Füßen sitzenden Studentinnen macht sie klar, dass dumm bleibt, wer nicht bereit ist, Fehler zu machen." Georges-Arthur Goldschmidt schreibt den Nachruf auf Christian Bourgois, "einer der letzten ganz großen europäischen Verleger". In Times Mager fühlt sich Hans-Jürgen Linke angesichts der jüngsten Politik-Debatten irgendwie aus der Zeit gefallen.

Besprochen werden drei Einakter von Puccini an der Frankfurter Oper, Franz Koglmanns Verarbeitung von Haydns Hermannstädter Sinfonie zu einer "fahl und porös klingenden achtteiligen Suite" mit dem Titel "Nocturnal Walks" auf CD und Bücher, nämlich Juli Zehs Roman "Schilf" und eine "Enzyklopädie der Migration in Europa" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 15.01.2008

Der Umblätterer präsentiert eine Liste der angeblich zehn besten Feuilletonartikel des Jahres 2007. Einer davon ist von Virtualienmarkt-Autor Robin Meyer-Lucht, allerdings erschienen im SZ-Magazin, und handelt von Spiegel Online. "Besonders Meyer-Luchts Beschreibung des Schreibstils ist treffend: Spon habe in wenigen Jahren einen bestimmten Tonfall und eine bestimmte Themenmischung durchgesetzt, zu dem der Gebrauch von Krawall machenden Überschriften ebenso gehört wie die Verwendung von kühnen Metaphern und wortspielerischen Phrasen", heißt es in der Laudatio. Wir gratulieren allen beiden!

NZZ, 15.01.2008

Sehr schlecht denkt Jürgen Tietz (mehr hier) über die Obsession mit der Rekonstruktion historischer Bauten in Deutschland. "Dabei müsste die Rekonstruktionswelle ein Alarmsignal sein. Drückt sich im angstvollen Festklammern an einer idealisierten Vergangenheit in Form von regionalen Bau-Ikonen doch mitunter gar Revisionismus aus. Mit der architektonischen Vergangenheitsbeschwörung soll dabei die Verlorenheit der Menschen in einer kalt wirkenden globalisierten Welt gemildert werden. Unter dem Dach der Rekonstruktion wird - wie bei der Dresdner Frauenkirche - Gemeinschaft gestiftet. Doch darüber hinaus erweist sich die Rekonstruktionseuphorie als Spätwirkung einer humorlos gewordenen europäischen Postmoderne, in der sich das tiefe Misstrauen gegenüber der Moderne und ihrer Architektur, ja der Zukunft insgesamt manifestiert. ... Hingen in den Museen so hemmungslos banale Nachahmungen, wie sie sich beim Blick in die Kuppel der Dresdner Frauenkirche zeigen, alle Welt würde zu Recht aufschreien."

Besprochen werden Jules Massenets Oper "Le Cid" im Zürcher Opernhaus, zwei Ausstellungen von Christoph Rütimann in den Kunstmuseen St. Gallen und Thurgau, eine Aufführung des Gambisten Jordi Savall mit dem Ensemble Hesperion XXI in Zürich,und Bücher, darunter Peter Handkes Erzählung "Die morawische Nacht" und Einar Schleefs Tagebuch 1977-1980 (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 15.01.2008

"Die von uns zu verantwortende Nicht-Integration der Zuwanderer tritt jetzt in die nächste Phase bei den Einheimischen: die Desintegration der Mehrheit durch punktuelles Totschlagen Einzelner" klagt Frank Schirrmacher im Aufmacher zu von Jugendlichen mit Mitgrationshintergrund verübten Straftaten. Und konstatiert (unter polemischer Wendung gegen ein Video des Zeit-Feuilletonchefs Jens Jessen vor Lenin-Porträt), dass nun die Deutschen zu Rassismus-Opfern werden: "Uns war historisch unbekannt, dass eine Mehrheit zum rassistischen Hassobjekt einer Minderheit werden kann." Das Problem mit der Integration schlägt Schirrmacher nicht etwa der einst in dieser Zeitung verehrten Regierung Kohl zu, sondern verknüpft es mit der deutschen Vergangenheitsbewältigung: "Deutschland, das seit dem Jahre 1945 ein Gespür für Rassismen und Totalitarismen aller Art entwickelt hat, misstraut sich selbst so sehr, dass es die notwendige Integration jahrelang nicht zu leisten wagte."

Weitere Artikel: In der Glosse kommentiert Niklas Maak den Umstand, dass es sich beim Modell der Mona Lisa jetzt mit noch größerer Wahrscheinlichkeit um Lisa del Giocondo handelt. Von heftigen Protesten britischer Künstlerinnen und Künstler gegen Kürzungen beim British-Council- und Arts-Council-Etat berichtet Gina Thomas. Milos Vec hat eine Berliner Tagung zum Thema "Normpluralismus" besucht. Walter Haubrich schreibt zum Tod von Pepin Bello, der nicht durch eigene Werke, sondern als Anreger von Federico Garcia Lorca, Luis Bunuel und Salvador Dali Ruhm erlangte. Jordan Mejias hat sich die Pressekonferenz zur Verleihung der von den Schauspielstars solidaritätsbestreikten Golden Globes angesehen. Die Golden-Globe-Preisträgerin Julie Christie wird unterdessen von Andreas Platthaus gefeiert, er hätte wenigstens ihr freilich einen glamourösen Auftritt gegönnt. Erna Lackner hat Rudolf Taschner besucht, Begründer des "math.space" im Wiener Museumsquartier. Auf der Forschung-und-Lehre-Seite glaubt der Astrophysiker Reimar Lüst, dass es für die deutsche Forschung nur darum gehen kann, jeweils eine Universität und eine Technische Hochschule in Deutschland auf US-Spitzen-Niveau zu bringen.

Besprochen werden die Ausstellung "Christian Lacroix, Histoires de Mode" im Pariser Musee des Arts Decoratifs, die Heinrich-Zille-Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste, Dieter Giesings Bochumer Inszenierung von Simon Stephens' Stück "Motortown", Claus Guths Frankfurter Inszenierung von Puccinis "Il trittico", CD-Einspielungen mit Musik für zwei Klaviere von Olivier Messiaen und Ludwig van Beethoven und Perikles Monioudis' Roman "Land" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 15.01.2008

In Spanien schreibt ein neues Gesetz vor, Angehörige bei der Exhumation von Bürgerkriegsopfern zu helfen. Darüber sind neue Debatten um die Vergangenheit entbrannt, berichtet Barbara Baumgartner in einer interessanten Reportage: "Mit den Gräberöffnungen setzte ein publizistischer Revisionismus ein, und Bücher, die die These vertraten, Franco habe Spanien vor Chaos und Revolution gerettet, gelangten auf die Bestsellerlisten. Demgegenüber steht die Verklärung der Republik. In Literatur und Film über den Krieg erschien die Linke fast ausschließlich als heldenhaft kämpfend, und auch der Geschichtsschreibung wird vorgehalten, sie habe nach 40 Jahren, in denen nur Platz für die Verherrlichung der Sieger war, zum Teil zu weit in die Gegenrichtung ausgeschlagen."

Im Feuilleton feiert Michael Pilz neue Hervorbringungen alter Songwriter wie Ray Davies. Peter Zander schreibt über eine traurige Golden-Globes-Verleihung. Eckhard Fuhr registriert in rauchfreien Kneipen bisher verdeckte Düfte, die auch nicht immer angenehm sind. Nach der Kritik über ungeregelte Kinoarchivierung in Deutschland erzählt Uwe Schmitt, wie es in Amerika gehalten wird - wo von jedem Film zwei Pflichtkopien an die Library of Congress gehen. Hannes Stein besuchte ein Festival arabischstämmiger Komiker in New York. Und Peter Dittmar erinnert daran, dass sich die Erfindung des Porzellans in Sachsen präzise auf heute vor 300 Jahren datieren lässt.

Besprochen werden eine Ausstellung asiatischer Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek dortselbst, ein kunsthistorischer Band über die Sixtinische Kapelle und Dirk Lauckes Stück "Alter Ford Escort Dunkelblau" am Hamburger Thalia Theater.

SZ, 15.01.2008

Nora Sobich führt durch die Tristesse der Autostadt Detroit: "Dass Detroits Autobauer der Welt einst vorgemacht haben, wie Flagship-Production-Lines werbewirksam Corporate Identity definieren, ist nur noch schwer vorstellbar. Wie hohläugige Geister stehen überall in der zerklüfteten Häuserlandschaft von Detroit verlassene Fabrikruinen herum. In einer Mischung aus jahrmarkttauglicher Gruselshow und Piranesi-Schönheit verrottet Amerikas architektonisches Autoerbe. Was nicht schon eingerissen wurde, steht leer: Fabriken wie Highland Park, Fischer Body, Warren Motor Car Co., U.S. Rubber, Eddie Rickenbacker, Cadillac Fleetwood, Rolls Royce Engine, ThyssenKrupp Budd."

Weiteres: Kai Strittmatter berichtet aus Kirsehir von einem Fall jugendlichen Nationalstolzes, der sogar die türkischen Konservativen erschreckt: Schüler eines Gymnasiums haben eine Flagge mit ihrem eigenen Blut getränkt und der Armee geschenkt. Tobias Kniebe bekundet, sich nach der "schnellen, schmerz- und rückstandsfreien" Verleihung der Golden Globes wieder auf die Oscar-Nacht zu freuen. Dass der Klüngelclub der Auslandskorrespondenten seinen Nimbus als Orakel verloren haben dürfte, schmerzt ihn dabei keineswegs. Fritz Göttler macht mit dem Erfolg von Rob Reiners Komödie "Bucket List" einen neuen Trend in Hollywood zu Krankheit, Alter und Tod aus. Michael Bauchmüller kündigt an, dass ab nächster Woche endlich die Wanderausstellung der Bahn zu ihrer Rolle im Holocaust beginnt. Adrienne Braun meldet, dass Samuel Keller nach der Art Basel in Miami nun die Fondation Beyeler leitet wird. Alexander Kissler meldet Ritusänderung in der Messe durch Papst Benedikt XVI.

Jörg Häntzschel reibt sich über das Getöse die Hände, das Andrew Mortons heute erscheinende Tom-Cruise-Biografie begleitet. Laut Morton soll Cruise zur Nummer zwei von Scientology aufgestiegen sein: "Anwälte des Stars und Sprecher von Scientology erwägen eine 100-Millionen-Dollar-Klage; namenlose Scientology-Anhänger attackieren das Buch auf Tausenden Websites; der Autor ist untergetaucht."

Besprochen werden Giacomo Puccinis Trilogie "Il Trittico" in der Regie von Claus Guth an der Oper Frankfurt, Schostakowitschs Cellokonzert mit Sol Gabetta und den Philharmonikern in München und Bücher, darunter Hans Magnus Enzensbergers "Hammerstein oder der Eigensinn" (von Götz Aly scharf verrissen) und die Festschrift für die bewunderswerte OLG-Präsidentin Henriette Heinbostel (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).