Heute in den Feuilletons

Sabotage, Verschwörung, Häme, Denunziation

Wochentags ab 9 Uhr, am Sonnabend ab 10 Uhr
08.12.2007. Die SZ würdigt Karlheinz Stockhausen als Romantiker im eigentlichen Sinne des Wortes. Außerdem ärgert sie sich im Namen der Qualität über das Netz. Die NZZ besucht das weltweit erste und einzige Mahnmal für 68. In der Welt macht sich Niall Ferguson Gedanken über die Hochkonjunktur des Gedenkens. In der taz gibt Tariq Ramadan beruhigende Antworten auf islamkritische Fragen.

NZZ, 08.12.2007

Man sieht die Spiegel-Titel und FAZ-Glossolalien schon förmlich vor sich, die sich durch einiges Wetterleuchten in dieser Zeitung auch schon ankündigten. Bald erscheint in Deutschland Jonathan Littells angekündigter Bestseller "Die Wohlgesinnten". Da nützt es, dass Marc Zitzmann nochmal die Karriere des Romans in Frankreich resümiert. Es wird auch Änderungen in der deutschen Ausgabe gegenüber dem franzöischen Original geben, berichtet er: "So wird Aue ganz am Schluss des Romans Hitler nicht mehr bloß in die Nase kneifen, sondern richtig beißen."

Besprochen werden Christoph Marthalers Produktion "Platz Mangel" in Zürich und neue Werke Luciano Berios und Georg Friedrich Haas' beim Festival Wien Modern.

Und noch ein anderes Ereignis wirft seine Schatten voraus: 40 Jahre 68. Anne Huffschmid besucht für eine schöne Reportage In Literatur und Kunst, das erste 68-Memorial weltweit in Mexiko-Stadt - es erinnert nicht an das Massaker an mexikanischen Studenten in diesem Jahr, sondern auch an die Zeitstimmung: "1968 in Mexiko ist mehr als Mord und Totschlag. Dass es ein Vorher und auch ein Nachher gab, wird in dem Rundgang durch das Memorial deutlich. Eine psychedelisch anmutende Animation zum Beginn nimmt die mexikanischen Sixties als Kreuzungspunkt grenzüberschreitender Kulturbewegungen in den Blick - eine für Mexiko ungewöhnlich 'globale'' Perspektive. Fidel und Janis Joplin, Angela Davis, Andy Warhol, Mao und die mexikanische Schamanin Maria Sabina - die Bilder wirbeln durcheinander, dazwischen sieht man toupierte Mexikanerinnen im Minirock, ein Transparent 'Prohibido prohibir' (Verbieten verboten), über allem schwebt 'Lucy in the sk'."

Den Artikel flankieren einige Besprechungen neuer Übersetzungen von Alberto Manguel (hier), Juan Carlos Onetti (hier) und Jorge Luis Borges (hier).

Weitere Artikel: Georges Waser erklärt, was es mit dem Londoner Sozialtypus des Sloane Ranger auf sich hat. Thomas Hermann liest Autobiografisches und Erfundenes von P. G. Wodehouse. Urs Hafner erinnert an den Berner Intellektuelle Carl Albert Loosli. Theresia Walser betrachtet Caspar David Friedrichs Gemälde "Hügel mit Bruchacker bei Dresden".

FR, 08.12.2007

Die Rede, die die diesjährige Literaturnobelpreisträgerin Doris Lessing, da sie aus Gesundheitsgründen nicht anreist, in Stockholm nicht selbst halten wird, druckt die FR heute schon ab. Es geht darin um das Schreiben und das Lesen, um Bücher in Zimbabwe und eine zerteilte Anna Karenina in Indien - aber auch zu den jüngsten Tendenzen der Lese- und Schreibkultur äußert sich Doris Lessing: "Wir haben es da mit einer unglaublichen Erfindung zu tun, Computer und das Internet und das Fernsehen, mit einer Revolution. (...) Tollkühn wie wir sind, haben wir das alles wie immer hingenommen und nie die Frage gestellt: 'Was wird mit uns passieren, jetzt, wo der Buchdruck erfunden ist?' Und ebenso wenig haben wir ein einziges Mal innegehalten und gefragt: Wie werden wir uns, wie wird sich unser Geist verändern durch dieses neue Internet, das eine ganze Generation mit seinen Belanglosigkeiten verführt hat, sodass selbst einigermaßen vernünftige Leute zugeben, dass man sich nur schwer losreißen kann, wenn man einmal süchtig ist, und es sein kann, dass auf einmal ein ganzer Tag mit Bloggen und Bluggen und so weiter vergangen ist."

Weitere Artikel: Marcia Pally empört sich in ihrer Amerika-Kolumne darüber, dass Christine Comer, die für die Naturwissenschaften zuständige Direktorin in der texanischen Schulbehörde, gefeuert wurde, weil sie sich von einem Kritiker des "Intelligent Design" (also der akademischen Variante des Kreationismus) nicht distanzieren wollte. In einer thematisch sehr ähnlichen Times Mager nimmt Christian Schlüter den mormonischen Präsidentschaftskandidatenanwärter, den Republikaner Mitt Romney, in den Blick. Auf der Medienseite kommentiert Henrik Schmitz überrascht die mutmaßliche Ernennung des heute-journal-Moderators Claus Kleber zum neuen Spiegel-Chefredakteur.

Besprochen werden Patrice Chereaus "Tristan"-Inszenierung in der Mailänder Scala und zwei Matthias-Grünewald-Ausstellungen in Karlsruhe und Colmar.

TAZ, 08.12.2007

Auf der Meinungsseite beruhigt der umstrittene Islam-Prediger Tariq Ramadan (Website) seinen Gesprächspartner Robert Misik: "Es gibt Probleme? Ja. Aber essentialisieren wir sie nicht, islamisieren wir nicht soziale Probleme. Das wird dann zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Und dramatisieren wir die Probleme nicht. Die Dinge bewegen sich doch in eine positive Richtung. Innerhalb von zwei Generationen haben sich die muslimischen Communities unglaublich verändert. Die Frauen arbeiten, sie übernehmen Verantwortung in den Communities, sie engagieren sich für mehr Freiräume und Liberalität, sie führen das Leben, das sie für richtig halten."

Auf den Kulturseiten wird Andreas Beck interviewt, der Intendant des Wiener Schauspielhauses. Zur Lage deutschsprachiger Gegenwartsdramatik meint er: "Grundsätzlich bewegt sich der Markt sicher schneller als früher und man kann eine Tendenz zum kurzfristigen Hype beobachten." Wolf-Dieter Vogel kommentiert die Entscheidung des marokkanischen Künstlers Fouad Bellamine (hier mehr), ein Werk, das Courbets "Origine du monde" mit einer Moschee in Kontakt brachte, nach Drohungen des iranischen Botschafters in Mexiko aus einer Ausstellung zurückzuziehen. In der zweiten taz schreibt Jan Feddersen einen Nachruf zu Lebzeiten auf die Legende Alice Schwarzer, die im nächsten Jahr die Chefredaktion der Emma abgeben wird. Daniel Bax verteidigt den Sänger Muhabbet, dessen mit Chorbegleitung durch Frank-Walter Steinmeier und Bernard Kouchner eingespielter "Deutschland"-Song jetzt im Handel ist.

Ausführlich, aber zurückhaltend kommentiert wird im vorderen Teil die noch nicht endgültig bestätigte Personalie Claus Kleber als neuer Spiegel-Chefredakteur. Steffen Grimberg schildert die Vorgeschichte der Wahl, Klaus Raab auch. Dirk Knipphals stellt den politisch schwer einzuordnenden Ex-ZDF-Amerika-Korrespondenten und derzeitigen heute-journal-Moderator etwas genauer vor.

Besprochen werden Christoph Marthalers Züricher Inszenierung "Platz Mangel", der Film "Für den unbekannten Hund" von Dominik und Benjamin Reding und Bücher, darunter Neues von Peter Kurzeck, Russell H. Greenans wiederentdeckter Roman "In Boston?" und der von Stefanie Peter herausgegebene Band "Alphabet der polnischen Wunder" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Das Dossier des taz mag erinnert zum vierzigsten Jahrestag an die westliche Intervention im afrikanischen Biafra-Konflikt, deren Bedeutung, wie Dominic Johnson findet, kaum zu unterschätzen ist. Judith Luig stellt nigerianische Schriftstellerinnen vor, die über Biafra schreiben. Mona Hope informiert über eine neue Separatistenbewegung in Nigeria. Im Interview klagt der für Hilfsorganisationen tätige Fotograf Thomas Einberger: "Ich glaube, dass die Bilder heute wohnzimmertauglich sein müssen. Man versucht, lächelnde Kinder zu präsentieren."

Und Tom.

FAZ, 08.12.2007

Konstanze Crüwell empfiehlt dringend zwei große Grünewald-Ausstellungen in Karlsruhe und Colmar, wo auch erstmals vier als Grisaillen ausgeführte und "bezaubernd lebendige" Heiligenfiguren wiedervereint sind - sie zierten einst einen Frankfurter Altar. Jordan Mejias beobachtet Oprah Winfrey auf Wahlkampftour für Barack Obama. Regina Mönch kommentiert die neupublizierten Fälle von Kindesvernachlässigung und -tötung ("Die immer wieder öffentlich gemachten Fälle haben bewirkt, dass es heute mehr Menschen wagen, einen Verdacht, eine Befürchtung rechtzeitig zu äußern") Jürgen Dollase empfiehlt in seiner Gastro-Kolumne einige Kochbücher avantgardistischer Köche aus Italien und Belgien. Reiner Burger hat die amerikanische Publizistin Diane McWhorter vor, die gerade in der American Academy in Berlin logiert - sie forscht über Wernher von Braun und sein hierzulande unbekanntes Eintreten für die Bürgerrechtsbewegung in Alabama. Joseph Hanimann beklagt uneffizient bürokratische Eingriffe der neuen französischen Kulturministerin Christine Albanel in funktionierende Theaterstrukturen. Zu Karlheinz Stockhausens Tod bringt das FAZ.Net eine Tickermeldung.

Auf der Schallplatten-und Phono-Seite begrüßt Sven Beckstette eine vorbildiche Neuedition sämtlicher Singles des Motown-Labels durch das Hip-oselect-Label. Außerdem geht's um ein Recital von Anne-Sophie Mutter und um eine CD des Artis-Klavierquartetts, das den Komponisten Paul Juon wiederentdeckt. Auf der Medienseite findet sich ein vorsichtig optimistischer Kommentar Michael Hanfelds über die Neubesetzung des Postens von Stefan Aust beim Spiegel - Nachfolger wird bekanntlich der ZDF-Anchorman Claus Kleber. Berichtet wird außerdem über ein Urteil gegen den Blogger Stefan Niggemeier, das Internetpublikationen zwingen könnte, Leserkommentare stets erst nach Prüfung zu veröffentlichen (hier Niggemeiers eigener Beitrag zum Thema). Für die letzte Seite wirft Günter Wirth einen Blick auf das katholische Milieu Berlins, dem der verstorbene FAZ-Herausgeber Joachim Fest entstammt. Gemeldet wird, dass die deutsche Klavierfirma Ibach ihren Kampf gegen die asiatische Konkurrenz aufgibt und ihre ihre Produktion einstellt.

Besprochen werden Christoph Marthalers liederreiche Produktion "Platz Mangel" in Zürich, ein Konzert der Popsängerin Kate Nash in Köln, ein Liederabend Marisol Montalvos' in Frankfurt und eine über die königliche Ägypten-Expedition der Jahre 1842 bis 45 in Berlin.

In Bilder und Zeiten resümiert Rose-Maria Gropp das Geschehen am Kunstmarkt in diesem Jahr (21 Millionen Dollar für ein Metallherz von Jeff Koons und ähnliche Rekorde). Tom Felix Jöhnk schickt eine interessante Reportage aus Bangladesch, das wie in Pakistan im Ausnahmezustand lebt und die Inder wegen seiner Bevölkerungsexplosion zu einem 4000 Kilometer langen Grenzzaun veranlasst. Manfred Flügge erzählt die Geschichte einer Heine-Statue, die einst in Sissis Garten ihrer Villa in Korfu stand, dann nach Deutschland kam und unter den Nazis nach Menton an der Côte d'Azur emigrieren musste. Cord Riechelmann legt einen Essay über die Vision einer qua Klimakatastrophe endgültig freigelegten Beringstraße vor. Tobias Rüther macht klar, welche Umstellung es für einen Berliner bedeutet, sich in Frankfurt anzusiedeln. Auf der Literaturseite nötigt Kurt Steinmanns Neuübersetzung der "Odyssee" Kurt Flasch Respekt ab. Und auf der letzten Seite unterhält sich Irene Bazinger mit dem Kabarettisten Christof Stählin.

In der Frankfurter Anthologie stellt Uwe Wittstock ein Gedicht Robert Gernhardts vor - "Nachdem er durch Metzingen gegangen war:

Dich will ich loben, Hässliches
du hast so was Verlässliches (...)"

Welt, 08.12.2007

In eimem Text, der vor einem Monat schon in der britischen Financial Times veröffentlicht wurde, macht sich Niall Ferguson nun in der Literarischen Welt Gedanken über die Hochkunjunktur des Gedenkens. Die Menschen brauchen Mythen. "Die Fähigkeit von Staaten und sozialen Gruppen, Mythen zu schaffen und zu verbreiten, hat sich als bemerkenswert zählebig erwiesen - auch wenn die 'Gedenkstätten' heutiger Tage wahrscheinlich eher Internetseiten sind und die Denkmäler der Gegenwart womöglich in die Hosentasche passen. Nehmen Sie Ihre Börse nur mal heraus und schauen Sie, was für große Männer und Frauen dort hineingestopft sind. In den Vereinigten Staaten bringen es Politiker auf Banknoten; in Großbritannien sind es Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler, die sich an unserer ewig jungen Königin reiben. Wir wechseln das Medium des Gedenkens, nicht die Botschaft."

Im Feuilleton erlebte Werner Bloch auf der Berliner "Worldtronics" israelischen Elektro-Pop. Thomas Delekat erklärt Ikea zum winterlichen Single-Treff. Besprochen werden die Ausstellungen zu Matthias Grünewald in Karlsruhe und Colmar.

SZ, 08.12.2007

Reinhard J. Brembeck und Andrian Kreye würdigen den verstorbenen Komponisten Karlheinz Stockhausen: "Stockhausen kennt jeder - zumindest den Namen, wenn auch nicht unbedingt seine fast 300 Stücke. Mit diesem Namen verbinden sich Revolution, Umsturz, Provokation, Wahnsinn, Umdeutung aller Werte. Stockhausen war also ein Romantiker im eigentlichen Sinne des Wortes. Einer, der die Zukunft suchte, dem Vergangenheit und Gegenwart nur Durchgangszustände waren für seine Visionen, an denen er einerseits mit dem tiefsten vorstellbaren Ernst und andrerseits mit einer kindlichen Naivität arbeitete, die so völlig im Widerspruch zu jener menschenverschreckenden, harschen Intellektualität zu stehen schien, die seiner Musik gerade von seinen Kritikern gerne angedichtet wurde."

Weitere Artikel: Alex Rühle kommentiert die empfindlichen Reaktionen in Frankreich auf die (nur in Europa erschienene) Time-Titelgeschichte über den "Tod der französischen Kultur". Svenja Flasspöhle fordert, dass auf angemessenem Niveau über die Selbstmordhilfe nachgedacht werden sollte. Christopher Schmidt war mit dem German Theater Abroad in den USA unterwegs. Aus Florenz meldet Henning Klüver die Eröffnung eines Zentrums für Gegenwartskunst. 2007 war das Jahr des deutschen Reggae und insbesondere der Band Ohrbooten, konstatiert Jonathan Fischer. Jörg Hänztschel berichtet von der Art Basel in Miami. Von Ärger um die Gedenkstätte Hohenschönhausen weiß Franziska Augstein.

Auf der Literaturseite geht es in erster Linie um Alexander von Humboldts Reise "durch Hessen, die Pfalz, längs des Rheins und durch Westfalen im Herbst 1789". Rezensiert wird unter anderem der Memoirenband "Mein Prag" des Literaturwissenschaftlers Peter Demetz (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Besprochen werden DV8s Berliner Aufführung von Lloyd Newsons Tanztheater "To Be Straigt With You", die Ferdinand-Hodler-Werkschau im Pariser Musee d'Orsay, die Ausstellung zum Komponisten Erich Wolfgang Korngold im Jüdischen Museum Wien und Angela Schanelecs zwei Monate nach seinem Berliner Start jetzt offenbar in München angekommener Film "Nachmittag".

Im Aufmacher der SZ am Wochenende zieht Bernd Graff unter der Überschrift "Web 0.0" gegen das Internet vom Leder. Gegen jene "Idiotae", genauer gesagt, die sich darin ohne Erlaubnis des Qualitätsjournalismus zu äußern wagen, und dann auch noch kritisch: "Sie zetteln Debattenquickies an, pöbeln nach Gutsherrenart und rauschen dann zeternd weiter. Sie erschaffen wenig und machen vieles runter. Diese Diskutanten des Netzes sind der Diskurstod, getrieben von der Lust an Entrüstung. Haben wir Entrüstung gesagt? Setzen Sie dafür bitte beliebig ein: Sabotage, Verschwörung, Häme, Denunziation, Verächtlichmachung, Hohn, Spott. Ja, wir müssen uns die Kräfte des freien Meinungsmarktes als äußerst destruktiv vorstellen." (Erst Frank Schirrmacher mit den beiden Versionen seiner Internetrede, dann der DJV-Vorsitzende Michal Konken, der das Netz "quantitatv entrümpeln" will, und nun einer der Macher des so brillanten Online-Auftritts der SZ, dem im Netz die Kontrolle und Selbstkontrolle fehlt - wahrlich, das Imperium schlägt zurück!)

Außerdem: Willi Winkler hat den Kunstprofessor Bazon Brock in Zürich besucht. Jonathan Fischer war bei Designer Marc Ecko (Shop) in New York. Auf der Historienseite geht es um die Geschichte des Zauns zwischen Israel und Palästina. Zu lesen gibt es von Brigitte Kronauer die Erzählung "Die Türschwelle". Im Interview spricht Miuccia Prada über Mode und Kunst und stellt fest: "Wenn Kleider den Körper nicht enthüllen, hat man eher die Chance, den eigenen Geist zu offenbaren."