Heute in den Feuilletons

"Aber ja! Wie eine Rakete!"

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.11.2007. Die SZ vermutet hinter der Debatte um Martin Mosebach vor allem ein diffuses Bedürfnis nach Debatte. Die taz sieht dagegen Mosebach zusammen mit Kai Dieckmann und Hans-Olaf Henkel an der Restauration arbeiten. Der FAZ wird angesichts der neu entfachten Kriegsstimmung in den USA ganz mulmig. Die Welt verabschiedet drei Pariser Unis aus dem schicken Quartier Latin in die Banlieue. Und die Zeit überbringt Robert Redford ein unmoralisches Angebot von Paul Newman.

Welt, 08.11.2007

Die drei Pariser Institute für Sozialwissenschaften sollen das Quartier Latin verlassen und in die Banlieue nach Aubervilliers ziehen, berichtet Wolf Lepenies: "Hatten sie sich im schicken Milieu des VI. und VII. Arrondissements nicht längst der sozialen Wirklichkeit entfremdet? Täte es Soziologen und Psychologen, Völkerkundlern und Historikern nicht gut, in den Problemvierteln der Pariser Vorstädte zu arbeiten, in denen nachts noch immer die Autos brennen? In der Tageszeitung Le Monde protestierten mehr als ein Dutzend Professoren gegen den Zwangsumzug nach Aubervilliers. Die Vizebürgermeister des Ortes konterten mit einem Offenen Brief, in dem sie die 'Bürger-Forscher' schon jetzt bei sich willkommen hießen. Raffiniert appellierten sie an deren soziales Gewissen: In Aubervilliers würden sich die Human- und Sozialwissenschaften nicht in der Nachbarschaft von Boutiquen und Cafes, sondern unmittelbar neben dem 'Platz der Volksfront' wiederfinden."

Weitere Artikel: In der Randglosse bereitet uns Ulrich Weinzierl darauf vor, dass sich am 12. November Österreichs Monarchisten unter dem Motto "89 Jahre Republik sind genug" zu einem Fackelzug versammeln wollen. Wieland Freund empfiehlt die an neuen Funden reiche Ausgabe des Schreibhefts, die sich mit Ezra Pound und seinen Jahren im Irrenhaus beschäftigt. Ulrich Clauß berichtet von der Diskussion um das nationale Gedenkstättenkonzept im Kulturausschuss des Bundestages. Michael Loesl unterhält sich mit Debbie Harry alias Blondie über ihr neues Album "Necessary Evil" und also über Sex.

Besprochen werden Falk Richters Stück "Im Ausnahmezustand" an der Berliner Schaubühne und eine Studie über den NS-hörigen Theologen Walter Grundmann.

Auf der Filmseite gibt Elmar Krekeler zu Protokoll, dass er sich mit "Abbitte" (nichts "außer tausend schönen Bildern") an Keira Knightley satt gesehen hat. Besprochen werden auch Tommy Lee Jones' Regiedebüt "Die drei Begräbnisse des Melquiades Estrada" und ein Film über die Dichterin Hilde Domin.

TAZ, 08.11.2007

"In solcher Rhetorik steckt etwas zutiefst Legitimatorisches", kommentiert Albrecht von Lucke, Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik noch einmal Martin Mosebachs St.Just-Himmler-Analogie. Für Lucke ist sie Ausdruck eines Trends, in dessen Folge auf der Basis neoliberaler Analyse in den letzten Jahren die ganze gesellschaftliche Krisensemantik, die für ihn lange Zeit eine linke Domäne war, regelrecht von rechts okkupiert worden sei. "Die alte Klassengesellschaft wird gleichsam von rechts wieder eingeführt - unter Beifall ästhetischer Antimodernisten wie Martin Mosebach, die ihr Ressentiment gegen das Gleichheits- und Gerechtigkeitsversprechen der Aufklärung mit Populisten wie dem neoliberalen Hans-Olaf Henkel und dem vulgärliberalen Kai Diekmann eint. In deren Dreiklang wird eines deutlich: Es geht dabei keineswegs nur um ein ästhetisches Phänomen oder um einen vermeintlichen 'Berliner Laubenpieper-Klassizismus', wie die FAZ spöttisch meint. Untergründig arbeiten vielmehr alle drei an der Rehabilitierung der Vormoderne samt ihrer Klassenstrukturen."

"Mein Buch zeigt vor allem, dass priviligierte Menschen sich ihre eigene Realität schaffen können, sogar in Kriegszeiten", sagt im Interview der britische Autor David R. L. Litchfield über sein Buch "The Thyssen Art Macabre". Darin erzählt er die Geschichte von dem Mord an 200 jüdischen Gefangenen während einer Party auf dem Schloss der Thyssens in Rechnitz.

Besprochen werden Falk Richters Uraufführung "Im Ausnahmezustand" in der Berliner Schaubühne (dessen Botschaft Jörg Sundermeier ein wenig überdeutlich vermittelt fand), Robert Redfords Politparabel "Von Löwen und Lämmern" (den Diedrich Diederichsen eher missmutig bespricht), Jeanne Waltz' Regiedebüt "Pas Douce", zwei DVD-Editionen von Monte Hellmans Roadmovie "Two-Lane Blacktop" und Kool Savas' zweites Solo-Album "Tot oder lebendig" (auf dem der ehemalige Brachial-Rapper nach Ansicht von Thomas Winkler die Wende zum "Pfarrer Fliege des deutschen Rap" vollzogen hat).

Schließlich Tom.

FAZ, 08.11.2007

Eine einigermaßen beunruhigende, mit der inzwischen gewohnten Realitätsblindheit einhergehende Kriegsstimmung hat Jordan Mejias unter Amerikas Neocons ausgemacht: "Je düsterer es für die Republikaner in Amerika aussieht, desto gefährlicher wird es für die Welt. Und je länger die Trommeln tönen, desto leichter gewöhnen sich die Amerikaner an den nächsten Krieg. Seelenruhig kann schon der Fox-Kommentator Charles Krauthammer in die Kameras gucken und verkünden, er erwarte nicht, dass diese Regierung sich verabschiede, ohne den iranischen Feind ausgeschaltet zu haben. Der Teil der Bevölkerung, der sich nicht mit den 52 Prozent Kriegsbefürwortern identifiziert, nimmt inzwischen solche Prognosen mit seltsamer Gelassenheit hin. Er hat resigniert. Proteste nützen nichts, der Präsident tut doch, was ihm die Vorsehung auferlegt."

Weitere Artikel: In der Glosse hält Heinrich Wefing ein deutsches Einheitsdenkmal für ungefähr so dringlich wie einen eigenen deutschen Flugzeugträger, schließlich gebe es ja schon so schöne ost-westdeutsche Liebesbeziehungen. Werner Spies freut sich, dass die Karlsruher Kunsthalle Max Ernsts Gemälde "Europa nach dem Regen" (Bild) angekauft hat. Von einer Marbacher Tagung zur Zukunft der Literaturmuseen berichtet Jonas Beyer. Gina Thomas bringt uns Thomas Schüttes (Website) auf dem Trafalgar Square errichtete Skulptur "Modell für ein Hotel, 2007" näher. Das Berliner Jazzfest resümiert Ulrich Olshausen. Kerstin Holm erklärt, dass in Russland westeuropäische Gemälde "russifiziert" werden, weil es die Russen am liebsten russisch mögen. Reinhard Wandtner porträtiert den Moos-Experten Ludwig Meinunger. Karl Schlögel gratuliert dem Philosophen Helmut Fleischer zum Achtzigsten.

Auf der Kino-Seite informiert Bert Rebhandl über die diesjährige Viennale, die den termitischen Filmen der Vergangenheit und der Gegenwart gewidmet war. Vom Dokumentarfilmfestival Leipzig berichtet Hans-Jörg Rother. Michael Althen hat sich mit dem Regisseur James Benning unterhalten. Zum Tod des Drehbuchautors und Deborah-Kerr-Ehemanns Peter Viertel schreibt Verena Lueken.

Besprochen werden Tommy Lee Jones' Western "Three Burials of Melquiades Estrada" , die Uraufführung von Falk Richters Stück "Im Ausnahmezustand" an der Berliner Schaubühne, und Bücher, darunter Marc Dugains Roman "Der Fluch des Edgar Hoover", den Lorenz Jäger nicht nur schlecht, sondern sogar "schmutzig" findet (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 08.11.2007

"Hätte man die Wahl, man würde doch lieber so überdauern als in Form trockenen Fleisches", sinniert Sylvia Staude nach einem Parcours durch drei Ausstellungen über den Umgang mit dem Tod in Stuttgart, Mannheim und Dresden vor kunstvollen ägyptischen Mumienporträts in der Stuttgarter Schau. Angesichts der wirklichen Mumien nämlich beschäftigt sie die Frage, wie man es selbst wohl fände, so ausgestellt zu sein. "Läge also lang nach dem Augenblick des Todes in einem Glaskasten, wäre ein gänzlich ausgetrockneter Körper, und Menschen aus einer anderen Zeit stünden da und würden einem auf den Kopf starren - auf ihn vor allem, weil Haare auch dann noch bestürzend lebendig aussehen, wenn sie zu einem seit Jahrhunderten toten Körper gehören. Wäre man empört, wüsste man vorab vom Schicksal als Ausstellungsstück? ... Lieber jemanden, Jahrtausende später, vis-a-vis stehen wissen, der keine Angaben hat über das Leben, das ihn da aus gemalten Augen anblickt."

"Trotz dieser geradezu grotesken Zahlen haben wir in Deutschland zwar einen Debattenreichtum, aber keine Reichtums-Debatte", stellt Maximilian Kuball nach der Veröffentlichung der jüngsten Erhebung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung lakonisch fest, derzufolge die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung fast sechzig Prozent des gesamten Vermögens besitzen, und die untere Hälfte dagegen fast nichts.

Weitere Artikel: Harry Nutt schreibt über Kontroversen über die grundsätzliche Ausrichtung des Gedenkstätten-Konzepts der Bundesrepublik. Stefan Brändle sieht nach dem Verkauf der französischen Wirtschaftszeitung Les Echos an den Milliardär, LVMH-Besitzer und Patenonkel des Sarkozy-Sohns Louis, Bernard Arnault, die These von der Berlusconisierung der französischen Medien bestätigt. Und Arno Widmann bewegt aus gegebenem Anlass in der Kolumne Times Mager das Thema Romananfänge.

Besprochen werden Falk Richters Uraufführung seines eigenen Stückes "Im Ausnahmezustand" an der Berliner Schaubühne, (beides fand Peter Michalzik "banal, klischeehaft und vorhersehbar" und bedauert, das Richter, der vor gut zehn Jahren sehr hoffnungsvoll als Popdramatiker und Popkritiker begonnen habe, nun im "bürgerlichen Wohnzimmertheater" gelandet ist), Joe Wrights Filme "Abbitte" (dessen ersten Teil Michael Kohler zu den "großen künstlerischen Leistungen der Filmgeschichte" gezählt wissen will, "so versiert sind Szenerien, Stimmungen und Motive aufeinander abgestimmt"), Robert Redfords ebenso zorniger wie leichthändiger Thesenfilm gegen die Politikverdrossenheit "Von Löwen und Lämmern" und Maria Schraders Regiedebüt "Liebesleben".

NZZ, 08.11.2007

Dirk Pilz meint nach der Uraufführung von Falk Richters Stück "Im Ausnahmezustand" an der Schaubühne Berlin, der Regisseur sei seinen gesellschaftskritischen Themen dramaturgisch noch nicht gewachsen: "Die Analysen wirken kurzatmig, der Aufklärungsgestus wirkt aufdringlich. Vor allem das lässt auch Richters neueste Arbeit so konstruiert aussehen. Als ob hier jemand aus der Lektüre von Theorien (in diesem Falle offenbar den Studien von Giorgio Agamben) eine Theaterpraxis herauspressen wolle. Was fehlt also? Man wird den Eindruck nicht los, dass hier jemand Themen und Stoffe vor allem wegen ihrer Aktualität verhandelt. Alles wirkt berechnet, abgezirkelt, risikolos. Ohne Resonanz- und Echoraum."

Weiteres: Kristina Bergmann kommentiert kritisch die Ausstellung der Mumie von Tutanchamun in Luxor, die aus ihrer Sicht "an Leichenschändung grenzt". Und Martin Meyer fragt: "Süchtig nach Mumien? Das mag uns einleuchten, wenn man bedenkt, wie kalt der Tod in der technischen Welt verhandelt wird. Er ist kein Thema, wie auch Himmel und Hölle im Irgendwo verdampft sind."

Besprochen werden Marianne Gilberts autobiografische Erinnerungen "Das gab's nur einmal. Verloren zwischen Berlin und New York", Mario Lacruz' erstmals auf Deutsch erschienener Roman "Auf Abendwegen" und die unter dem Titel "Das halbe Leben" erschienenen Erzählungen von Roswitha Haring (mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Die Filmseite widmet sich Joe Wrights filmischer Umsetzung von Ian McEwans Roman "Abbitte" und dem Film "The Bothersome Man" von Jens Lien.

SZ, 08.11.2007

"Romananfänge eignen sich hervorragend zur Publikumsunterhaltung," resümiert Florian Kessler den von der Stiftung Lesen und der Initiative Deutsche Sprache ausgerichten Wettbewerb um den schönsten ersten Satz der deutschsprachigen Literatur. "Sie ähneln suggestiven Witzen, die kurz vor der Pointe abgebrochen werden. Spätestens bei einem Ratespiel, bei dem berühmte erste Sätze der Weltliteratur vorgelesen und vom Publikum durch lautes Schreien erraten werden sollten, kannte der Saal kein Halten mehr. In leicht beschwipster Quizstimmung wurde Romananfang für Romananfang nach den ersten paar Wortsilben geknackt: 'Ich bin nicht. . .' - 'Stiller, Stiller!'; 'Dem Monteur Josef Bloch. . .' - 'Angst des Tormanns beim Elfmeter!' Als die Moderatorin im hochengagierten Stimmengewirr unterging und die Literaturerkundung stockte, wurde von hinten gejohlt, ob man eigentlich auch Telefonjoker verlangen könne - die guten und wirksamen neuen Öffentlichkeitsstrategien der Sprachförderung müssen wohl mit der Crux leben, selbst nicht allzu nah am Haus der Sprache zu siedeln." (Es gewann übrigens Günter Grass mit dem Butt-Beginn 'Ilsebill salzte nach'.)

Weitere Artikel: Leicht aufgestört in seinem Redaktionsfrieden erklärt Thomas Steinfeld, die Debatte um Mosebach sei gar keine Debatte, "sondern etwas viel Kleineres und Vorläufigeres, nämlich ein diffuses Bedürfnis nach Debatte". Hendrik Feindt unterhält sich angeregt mit dem 96jährigen legendären DEFA-Mitbegründer und -Regisseur Kurt Maetzig, dessen Film "Ehe im Schatten" über das Schicksal des Schauspielers Joachim Gottschalk und seine jüdischen Frau 1947 den ersten Bambi bekam, der überhaupt vergeben wurde. Jörn Florian Fuchs beschreibt Detroit als verfallende Stadt mit einer blühenden Oper, deren Intendant David DiChiera selbst komponiert. Ernüchtert berichtet Alexander Menden von der Enthüllung von Thomas Schüttes Skulptur "Modell für ein Hotel" am Trafalgar Square. Auf der Literaturseite stellt Stefan Weidner die von Marc Falkhoff herausgegebene amerikanische Anthologie "Poems from Guantanamo" vor, die unter scharfen Regierungsauflagen entstand und von regierungsamtlichen Dolmetschern geprüft wurde. Nach der Lektüre war Weidner trotzdem klar, "dass auch die Islamisten in der dichterischen Moderne angekommen sind".

Auf der Medienseite fragt sich Claudia Tieschky, warum bei den Medientagen in Karlsruhe die eigentlich existentielle Frage gar nicht diskutiert wurde: "Sind wir alle vielleicht nichts gegen Google?" Und Thomas Schuler berichtet über die Gründung eines unabhängigen Reporterbüros für investigativen Journalismus in Amerika.

Besprochen werden Falk Richters Uraufführung seines Stückes "Im Ausnahmezustand" an der Berliner Schaubühne ("Grau ist an der Schaubühne alle Gesellschaftstheorie. Aber rot, gottlob, das Blut, das in den Adern schäumt" bringt Christine Dössel den Abend für sich auf den Punkt), Goro Miyazakis Animationsfilm "Die Chroniken von Erdsee", Joe Wrights Verfilmung von Ian McEwans Roman "Abbitte" (großartig, eigenwillig imaginiert und "traumhaft im wahrsten Sinne des Wortes", wie Rainer Gansera, besonders von Hauptdarstellerin Kira Knighley begeistert, zu Protokoll gibt), Tommy Lee Jones' Western "Three Burials - Die drei Begräbnisse des Melquiades Estrada", Philipp Löhles neues Stück "Genannt Gospodin" im Münchner Marstall, ein Konzert der Jazzvirtuosen Charlie Haden und Brad Mehldau in Mannheim und der erste Band der Gesammelten Schriften des liberalen Juristen und Vaters der Weimarer Verfassung Hugo Preuss (mehr ab 14.00 Uhr in unserer Bücherschau des Tages heute ab 14 Uhr).

Zeit, 08.11.2007

Mit Robert Redford über seinen Film "Von Löwen und Lämmern" zu streiten, ist Katja Nicodemus, wie sie berichtet, nicht gelungen. Geduldig hat er sich ihre Kritik an der zu idealistischen Zeichnung des liberalen Professors angehört, den er da spielt. Zu guter Letzt schafft sie es aber doch noch, Redford in Verlegenheit zu bringen: "Als Paul Newman kürzlich im amerikanischen Fernsehen gefragt wurde, ob er in 'Ein unmoralisches Angebot. Teil 2' für eine Million Dollar mit Robert Redford ins Bett gehen würde, sagte er: 'Aber ja! Wie eine Rakete!' Zu seiner eigenen Antwort befragt, kriegt Robert Redford einen Lachanfall. Er verschluckt sich an seinem Kaffee und bekommt einen roten Kopf... Beim Abschied scheint er immer noch über die Eine-Million-Dollar-Frage nachzudenken, jedenfalls lächelt er versonnen in sich hinein. Schließlich ruft er durch den Flur der Suite hinterher, so freundlich, wie nur ein Robert Redford rufen kann: 'Nicht genug!'"

Weitere Artikel: Susanne Gaschke hat zum hundertsten Geburtstag der Autorin die Bücher der Astrid Lindgren wiedergelesen und kann nur staunen, wie finster es in manchen von ihnen zugeht. Im Interview erklärt Astrid Lindgrens Tochter Karin Nyman, warum es keine Merchandising-Produkte von Pippi Langstrumpf oder Michel gibt und geben wird. Der Regisseur Dominik Graf wünscht sich ein deutsches Kino des kleinen, schnellen, schmutzigen Films anstelle des üblichen "ambitionierten Kunstgewerbekinos". Peter Kümmel ist bei einer Rundreise auf Deutschlands Bühnen überflüssigen Menschen unterschiedlicher Ausprägung begegnet. Liane von Billerbeck stellt ein Kunstprojekt vor, das einstige konspirative Wohnungen in Erfurt kartiert (eine Website gibt es auch dazu). Das in Peking soeben eröffnete erste private Museum für chinesische Gegenwartskunst stellt Hanno Rauterberg vor. Roger Willemsen hört Maria Joao und Konrad Heidkamp stellt in der Reihe "100 Klassiker der Modernen Musik" Paul Bley und sein Album "Open, To Love" vor. Und ganz, ganz viele Sätze, die mit "Wenn..." anfangen, gibt es diesmal in Harry Rowohlts "Pooh's Corner"-Kolumne.

Besprochen werden Maria Schraders Zeruya-Shalev-Verfilmung "Liebesleben", die ZDF-Dokumentation "Die Wehrmacht - Eine Bilanz" (die, wie der Historiker Wolfram Wette bestätigt, "neueste Ergebnisse historischer Forschung" präsentiert), Hans Neuenfels' Baseler Inszenierung von Othmar Schoecks' Oper "Penthesilea", Kirsten Harms' "Cassandra"/"Elektra"-Doppelinszenierung an der Deutschen Oper, das neue, bisher nur im Internet veröffentlichte Radiohead-Album "In Rainbows" und eine CD von Friedrich Cerhas Cellokonzert, von Peter Eötvös dirigiert.

Es gibt auch eine Literaturbeilage, die Georg Diez mit einem Lobgesang auf E.L. Doctorow eröffnet (und die wir in den kommenden Tages auswerten werden). Eine Extra-Musikbeilage eröffnet mit einem Interview mit der Chanson-Sängerin Juliette Greco, die gerade achtzig geworden ist und genau weiß, warum sie immer noch so gerne auf der Konzertbühne steht: "Es ist ein Liebesakt. Er ist physisch spürbar. Es ist die totale Lust. Manchmal herrscht eine bestimmte Stille im Saal - ganz so, als habe man die Zeit angehalten. Als gebe es nichts anderes als uns. Das Publikum und mich. Das ist ein überwältigendes Gefühl. Es ist ein Liebesakt mit einem sehr geheimnisvollen Liebhaber." Daneben gibt es unter anderem Besprechungen neuer Alben von Alicia Keys und Nigel Kennedy. Besprochen wird eine Biografie des "vergessenen Klaviervirtuosen" Ervin Nyireghyhazi.

Im Dossier schreibt Evelyn Finger über "das letzte Tabu" - nämlich Inzest, genauer: über den gerade wieder vor Gericht verhandelten Fall der sich liebenden Geschwister und Eltern von vier gemeinsamen Kindern Susan K. und Patrick S.