Heute in den Feuilletons

Das Massaker in Rechnitz

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.10.2007. In der Welt sieht Adam Krzeminski die Kaczynskis mit ihrer Vergangenheitspolitik scheitern. In der NZZ findet Bahman Nirumand westliche Finanzhilfen für Regimegegner im Iran eher kontraproduktiv. In der SZ erklärt der Literaturhistoriker Bernd W. Seiler, warum das Esra-Urteil für ihn in Ordnung geht. In der FAZ beschreibt David R.L. Litchfield den Mord an 200 Juden im Haus Thyssen-Bornemisza. Im Tagesspiegel erklärt Klaus Wagenbach, warum nicht wenige 68-er zu Antizionisten wurden - aus Hass auf Axel Springer. Auch die taz weiß: Wenn die RAFler die Juden ins Meer treiben wollten, dann nicht aus Antisemitismus.

NZZ, 18.10.2007

Die Amerikaner haben Kriegspläne gegen den Iran aufgegeben, meint Bahman Nirumand, aber auch sanfte Methoden wie Finanzhilfen für Regimegegner durch die USA scheinen ihm bedenklich. "Denn das Regime macht zwischen den Provokationen und Unterwanderungsversuchen von außen und den Aktivitäten kritischer Bürgerinnen und Bürger im Innern bewusst keinen Unterschied. Im Gegenteil, die westlichen Aktivitäten werden zum Vorwand genommen, um jede Kritik oder jede gesellschaftlich-politische Aktivität, die der Staatsführung nicht genehm ist, als von außen gesteuert zu denunzieren. Der Propagandaapparat des Staates läuft auf vollen Touren, um Frauen, Studenten, Journalisten, Künstler, Wissenschafter und Menschenrechtsaktivisten in Verdacht zu bringen, Agenten ausländischer Geheimdienste zu sein."

Weitere Artikel: Georges Waser kommentiert die Booker-Preis-Entscheidung für die irische Autorin Anne Enright mit ihrem Roman "The Gathering" (Auszug).

Besprochen werden Slavenka Draculic' Roman "Frida", Claudio Magris' Roman "Blindlings", Norman Maneas Erzählungsband "Oktober, acht Uhr" und Ang Lees Film "Lust, Caution" (mehr hier) und Marco Kreuzpaintners Hollywood-Debut "Trade" (mehr hier).

Welt, 18.10.2007

Der Publizist Adam Krzeminski blickt skeptisch auf die Versuche der polnischen Regierung, die Vergangenheit im Wahlkampf zu instrumentalisieren. "Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski machte kein Hehl daraus, dass man die 'deutschen Schuldgefühle stärker ausnützen' und die polnischen Interessen bei den Nachbarn offensiv und 'nicht auf den Knien' durchsetzen müsse. Die Wahlkampf-Strategen der PiS sind sich sicher, dass sie 2005 gewannen, weil sie im entscheidenden Moment die 'deutsche Karte' auf den Tisch legten. Im Wahlkampf 2007 sollte die Vergangenheitspolitik in der Strategie der PiS ebenfalls eine zentrale Rolle spielen. Allerdings wollte die Maschinerie diesmal nicht so richtig anspringen. Der PiS-Boykott des Grass-Festivals, das Danzig dem Nobelpreisträger zu seinem 80. Geburtstag veranstaltete, fiel mager aus. Günter Grass wurde gefeiert wie immer. Der zweite geplante Höhepunkt des PiS-Wahlkampfes, die Totenfeier für die 1940 von den Sowjets in Katyn erschossenen polnischen Offiziere, musste infolge des Protestes der Angehörigen der Opfer und der Künstler, die die Namen der Tausenden Ermordeten lesen sollten, auf die Zeit nach den Wahlen verschoben werden."

Weiteres: Tilman Krause ist sich nicht sicher, ob der Suhrkamp Verlag mit dem Erwirken von Strafbefehlen gegen seine beiden Investoren Grossner und Barlach wirklich einen Erfolg errungen hat. Zum zehnjährigen Bestehen des ZKM in Karlsruhe spricht Uta Baier mit dessen Leiter Peter Weibel.

Besprochen werden die beiden deutschen Hollywood-Debüts von Oliver Hirschbiegel ("Invasion") und Marco Kreuzpaintner ("Trade"), der Thriller "Enttarnt" über den russischen Superspion Robert Hanssen beim FBI, der Trickfilm "Die drei Räuber" sowie eine Aufführung von "Le Roi d'Ys" in Toulouse.

FR, 18.10.2007

Der Tübinger Professor für Geschichte und Literatur des frühen Christentums, Gerd Lüdemann, schreibt über die lebenslange Bedrückung, die der scharfe Gegensatz zwischen Glauben und Wissenschaft in der Theologie bei ihm ausgelöst hat. Sie führte 1998 schließlich zu dem öffentlichen Bekenntnis, kein Christ zu sein. In der Folge wurde auf Drängen der niedersächsischen Kirchen seine Professur umbenannt und aus der theologischen Fakultät ausgegliedert. Lüdemann klagte. In dritter Instanz gab das Bundesverwaltungsgericht der Universität Recht. "Mit diesem Urteil haben die obersten Verwaltungsrichter den kirchlichen Charakter von Theologie an der Universität festgeschrieben... Das aber heißt zugleich, dass die Theologie den Richtern zufolge keine Wissenschaft und demgemäß ein Fremdkörper an der Universität ist." Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts steht allerdings noch aus.

Weitere Artikel: Stefan Keim porträtiert den jungen Theaterregisseur David Bösch und seinen Essener Woyzeck ("ein Meisterstück"). In der Kolumne Times Mager lesen wir heute, wie Sylvia Staude auf der Alm einen guten Hirten traf. Daniel Kothenschulte spricht mit dem Schauspieler Tony Leung über dessen Rolle in Ang Lees neuem Film "Gefahr und Begierde".

Besprochen werden Oliver Hirschbiegels US-Debüt "Körperfresser", Ulrich Seidls neuer Film "Import/Export" (den Heike Kühn als "rigoroses Meisterwerk" feiert) und die Ausstellung "Kunstmachinen, Maschinenkunst" im der Schirn-Kunsthalle in Frankfurt.

TAZ, 18.10.2007

"Ich mag es, ein Genre zu verwenden und es glaubwürdig zu machen", sagt der Regisseur Ang Lee im Gespräch mit Dominik Kamalzadeh über seinen neuen Film "Gefahr und Begierde". "Man muss eben die Konsequenzen tragen. Ich habe das schon bei 'Tiger and Dragon' so gemacht. Üblicherweise sieht man in einem Film über Spione, wie sich Feinde töten oder sich verlieben, aber der Sex wird weggelassen. Sie bekommen 'killer-thriller', aber es wird nicht erzählt, wie sich das Töten anfühlt. Ich liebe solche Konflikte, die innerhalb unserer psychologischen Welt Sinn ergeben. Und ich schätze es, Tabus und soziale Konventionen aufzubrechen. Man kann das Menschsein erforschen und zugleich sehr unterhaltsam sein."

Antisemitismus will Willi Winkler im Interview der RAF nicht unterstellen: "Die deutschen Revolutionäre ließen sich von den Palästinensern ausbilden, die ständig damit drohten, die Juden ins Meer zu treiben. Diese Verbindung zu den Palästinensern entstand aber nicht etwa aus einem gemeinsamen Antisemitismus, sondern weil die Linksradikalen Ende der 60er-Jahre die Waffenbrüderschaft mit einer Befreiungsbewegung suchten. Die Guerilla in Lateinamerika war zerschlagen, Vietnam war zu weit weg. In Palästina gab es, ein paar Flugstunden entfernt, ein unterdrücktes Volk, und Israel ließ sich da leicht zum Aggressor aufbauen."

Weiteres: Andreas Fanizadeh hat in der Berliner Akademie der Künste einer Diskussion zwischen Boris Groys, Klaus Staeck, Michael Marx und Günter Wallraff über den heiklen Umgang mit den muslimischen Mitbürgern zugehört. Auf der Tagesthemenseite porträtiert Ralf Sotschek die Man-Booker-Preis-Trägerin Anne Enright.

Besprochen werden Joachim Meyerhoffs autobiografischer Soloabend "Alle Toten fliegen hoch" im Vestibül des Wiener Burgtheaters, Marco Kreuzpaintners Spielfilm über den Frauenhandel "Trade - Willkommen in Amerika" und Bücher, darunter eine Neuausgabe der Textsammlung "Ein deutscher Herbst. Zustände 1977" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Tagesspiegel, 18.10.2007

Klaus Wagenbach hat im Gespräch mit Caroline Fetscher über dreißig Jahre RAF endlich herausgefunden, warum die 68-er nicht selten zu Israel-Hassern wurden: "Dass die jungen Leute auf die Seite der Palästinenser getrieben wurden, lag nicht zuletzt auch an großen selbsternannten Philosemiten wie Axel Springer, zugleich der Verleger der selbsternannten Blödzeitung, die an einem Tag Elogen auf Israel druckte, am anderen Tag die protestierende Jugend als Ungeziefer oder Desperados bezeichnete."

SZ, 18.10.2007

"Den Juristen blieb im Grunde gar nichts anderes übrig, als der eindeutig erkennbar gemachten Frau mit einem Verbot zur Seite zu stehen," kommentiert der Literaturhistoriker Bernd W. Seiler das endgültige Karlsruher Verbot von Maxim Billers Roman "Esra". "Sich über eine Justiz zu mokieren, die in solchen Fällen zu bestimmen hat, ob es sich um Kunst handelt, ist wohlfeil. Das Problem liegt nicht bei ihr, sondern bei unserer Verfassung, die allein dem Kunstwerk diesen besonderen Freiraum gewährt und ihm ausschließlich über die garantierte Menschenwürde Grenzen zu ziehen erlaubt. (...) Und die Sache verkompliziert sich noch dadurch, dass nicht nur das gelungene, sondern auch das verunglückte, missratene, unvollendete Kunstwerk die besondere Freiheitsgarantie des Grundgesetzes für sich in Anspruch nehmen können soll. Wenn schon gelungene Kunst nicht einvernehmlich zu identifizieren ist - was könnte nicht alles ein misslungenes Kunstwerk sein? Die Richter, die darüber zu entscheiden haben, sind nicht zu beneiden."

Weitere Artikel: Vor einigen Tagen erklärte der amerikanische Kritiker Harold Bloom gegenüber der AP, Doris Lessing habe seit 15 Jahren nichts Lesbares mehr geschrieben; Christopher Hitchens verteidigte die Nobelpreisträgerin im Internetmagazin Slate, berichtet Thomas Steinfeld. Henning Clüver verfolgt Spuren des internationalen illegalen Antikenhandels, die auch nach Deutschland führen. Fritz Göttler schickt einen kurzen Bericht vom zweiten Filmfest in Rom. Martina Knoben spricht mit dem Filmemacher Ulrich Seidl über seinen neuen Film "Import/Export". Jens Malte Fischer gratuliert der Sopranistin Catarina Ligendza zum siebzigsten Geburtstag. Tobias Moorstedt feiert Amy Winehouse nach ihrem Hamburger Konzert als Soul-Queen des Hyperrealismus. Alexander Menden stellt Anne Enright vor, deren Roman "The Gathering" soeben den Man-Booker-Preis bekam.

Besprochen werden Anish Kapoors Installation "Svayambh" im Münchner Haus der Kunst, Ang Lees neuer Film "Gefahr und Begierde", Oliver Hirschbiegels erster US-Film "Körperfresser", Marco Kreuzpaintners US-Debütfilm "Trade - Willkommen in America" sowie Karsten Wiegands und Wolfgang Poschners "Nabucco"-Inszenierung am Bremer Theater.

FAZ, 18.10.2007

David R.L. Litchfield ist bei seiner Arbeit an einem Buch über die Familie Thyssen ("The Thyssen Art Macabre", Quartet Books) auf eine zuvor verschwiegene Leiche im Keller gestoßen. Er schildert (hier in der FAZ, hier im Independent), was sich auf Margit Batthyanys (geborene Thyssen-Bornemitza) Schloss Rechnitz zutrug: "Dort erfuhr ich, dass Margit in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs auf dem Schloss ein Fest für SS-Offiziere, Gestapo-Führer und einheimische Kollaborateure gegeben hatte, auf dem zur Unterhaltung der Gäste zweihundert Juden ermordet wurden. In den folgenden zweiundsechzig Jahren gelang es der Familie Thyssen, mit dieser Greueltat nie in Verbindung gebracht zu werden und das Ausmaß ihrer NS-Vergangenheit zu verschleiern." Litchfield beklagt am Ende seines Textes, dass kein deutscher Verlag sich für sein Buch interessiert.

Weitere Artikel: In der Glosse kolportiert Reinhard Wandtner die jüngsten skandalösen Äußerungen des Nobelpreisträgers James Watson, der davon ausgeht, dass "wir Weiße" genetisch intelligenter sind als die Schwarzen. Wandtner macht uns auch mit dem Protein PB1-F2 bekannt, das in bestimmten Formen offenbar zum tödlichen Ausgang der Influenza beitragen kann. Ulrich Olshausen berichtet von den Leipziger Jazztagen. Bei ihrem Blick in deutsche Zeitschriften hat Ingeborg Harms unter anderem ein Ezra Pound gewidmetes Schreibheft gelesen. Gina Thomas porträtiert die irische Man-Booker-Prize-Gewinnerin Anne Enright. Nina Rehfeld hat Sun City besucht, die älteste Seniorengemeinde der USA. Gemeldet wird, dass die gestrige FAZ-Meldung, die Suhrkamp-Eigner Hans Barlach und Claus Grossner seien zu drakonischen Geldstrafen verurteilt worden, falsch war - der Verlag hatte die Anträge der eigenen Rechtsanwälte als ergangenen Strafbefehl missverstanden.

Auf der Kinoseite unterhält sich Verena Lueken mit dem österreichischen Regisseur Ulrich Seidl über seinen Film "Import Export"; auf den vorderen Seiten wird er von Michael Althen besprochen (hier unsere Kritik). Andreas Kilb berichtet von einer Berliner Tagung über die Darstellung von Hitler in Film und Fernsehen.

Besprochen werden ein Waterboys-Konzert in Köln, eine Düsseldorfer Ausstellung mit Zeichnungen von Jörg Immendorf, Alfred Kirchners Münchner Inszenierung der "Hochzeit des Figaro", mit der Ulrich Peters seine Intendanz am Gärtnerplatztheater eröffnet und Bücher, nämlich Paulo Cesar Fonteles de Limas Gedichte "Wenn der Tod sich nähert, nur ein Atemzug" und gleich zwei neue Studien des Germanisten Peter von Matt (mehr dazu in der Bücherschau des Tages).

Zeit, 18.10.2007

Jonathan Fischer beerdigt den Gangsta-Rap und macht für sein Ende zwei Gründe aus: Zum einen besinne sich die schwarze Mittelschicht wieder auf bürgerliche Werte, zum anderen, wohl wichtigeren, stockt der Geldfluss. "Die Ratenzahlungen für die Millionenvillen mit Pool, eigenem Kino und Garage für vergoldete Hummer-Jeeps sind in Gefahr. Und damit steht das Bild vom geschäftlich, sexuell und physisch unverletzlichen Superman auf dem Spiel, das Typen wie 50 Cent so gern projizieren. Kein Zufall, dass der weltweit erfolgreichste Gangsta-Rapper gerade seine Wette gegen den HipHop-Dandy Kanye West verlor. Er werde seine Solokarriere beenden, hatte 50 Cent gedonnert, sollte sich sein neues Album 'Curtis' schlechter verkaufen als Wests zeitgleich veröffentlichtes Werk. Nun darf er abtreten: Wests Graduation hängte mit experimentiertfreudigem Pop und den Werten der Mittelklasse die altbackenen Mord-und-Totschlags-Oden von 'Curtis' bei weitem ab."

Weitere Artikel: Ein wie immer sehr unterhaltsames Interview führt Katja Nicodemus mit Brad Pitt. Der spricht über seinen neuen Jesse-James-Film, seinen Ruf als der Karl Marx unter Hollywoods 20-Millionen-Dollar-Jungs, Outlaws und den zunehmend vom Entertainment unterwanderten Journalismus. Sein generelles Unbehagen am Zustand der Medien gibt auch der Kommunikationswissenschaftler Siegfried Weischenberg kund: "Die Krise des Journalismus erweist sich vor allem als Krise seiner Kritikfunktion."

Gisela Dachs berichtet von einer heftigen Diskussion in Israel über die Entschädigung von Holocaust-Überlebenden in Israel, seit ein Dokumentarfilm angeprangert habe, dass der israelische Staat die deutsche Wiedergutmachung nicht den Opfern direkt zukommen ließ, die nun ein kärgliches Dasein fristen. Thomas Assheuer kann Religionswissenschaftler Rene Girard nur zustimmen, dass Religion uns daran hindern sollte, uns gegenseitig umzubringen. Christof Siemes bestaunt die wiedereröffnete Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar. Gerhard Jörder porträtiert den Theaterautor Martin Heckmann.

Besprochen werden die Ausstellung zur Liebe "True Romance" in der Kunsthalle Wien, Ang Lees Kostümfilm "Gefahr und Begierde", Harald Schmidts Show "Elvis lebt", die neue, offenbar recht romantische CD "Alles wieder offen" der Einstürzenden Neubauten sowie Beethoven-Aufnahmen von Igor Kamenz und Wilhelm Hauffs "Karawane" als Hörbuch.

Im Literaturteil schreibt Susanne Mayer eine Hommage auf die Schriftstellerin Doris Lessing. Bernadette Conrad hat sich dazu mit der frisch gekürten Nobelpreisträgerin unterhalten. Im Dossier gibt es ein ausführliches Interview mit dem Dirigenten und Pianisten Daniel Barenboim über den Klang, die Stille und unversicherte Hände: "Ich hatte ja diese bestimmte Begabung schon als kleines Kind, ich gab mit sieben Jahren meine ersten Konzerte vor Publikum. Was macht mein Vater? Er meldet mich zu einem Boxkurs an."