Heute in den Feuilletons

Musalsalat im Ramadan

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.10.2007. In der taz wundert sich Micha Brumlik, dass die Protestanten glauben, was sie glauben. Die NZZ zieht Parallelen zwischen dem Terror der RAF und dem Terror der Islamisten. Die FAZ stimmt sowohl ihre deutschen als auch ihre internationalen Leser auf die Buchmesse ein. Die Welt stellt den Science-Fiction-Autor Cory Doctorow vor, dessen letzter Roman kostenlos im Netz steht und 700.000 mal heruntergeladen wurde. Die SZ sieht sich die Seifenopern an, die in Ägypten zum Ramadan gereicht werden.

NZZ, 08.10.2007

Der Publizist Richard Herzinger sieht sehr wohl Übereinstimmungen zwischen den aufgeflogenen deutschen Dschihadisten und der RAF: "Die Feindbilder der Terroristen waren dieselben wie heute: der 'zionistische Feind' Israel, der 'US-Imperialismus' und die vermeintlich dekadente westlich-kapitalistische Welt im Allgemeinen. Ähnlichkeiten gibt es auch in der Struktur der Terrormaschinerie: Wie damals westliche Terrorgruppen vom Schlage der RAF planen auch islamistische Zellen in Europa ihre Anschläge in eigener Regie. Doch ohne Unterstützung und Ausrüstung durch terroristische Zentralen im Nahen Osten, die ihre Wirkung wiederum nur durch die Rückendeckung interessierter Regime, ihrer Geheimdienste sowie von halboffiziellen Kreisen in Staaten der Region entfalten können, wären die Terroristen von einst so wenig zu Operationen im großen Stil fähig gewesen, wie es die heutigen sind. Dies konterkariert das von Heinrich Böll Anfang der siebziger Jahre geprägte Bild, nach dem die RAF einen 'Krieg der sechs gegen sechzig Millionen' geführt habe."

Weiteres: Thomas David porträtiert den britischen Autor David Peace, der mit seinem drastischen "Red Riding Quartet" dem Yorkshire Ripper nachspürt und dabei das Bild einer von "Machtgier, von Korruption und Intrigen zerfressenen Gesellschaft" zeichnet. Marc Zitzmann flaniert über die Pariser Champs-Elysees. Besprochen werden die große Balthus-Ausstellung im Kölner Museum Ludwig und Sasha Waltz' Choreografie von "Romeo et Juliette" nach Hector Berlioz in Paris.

Außerdem gibt es heute die Literaturbeilage zur Frankfurter Buchmesse. Im Aufmacher schreibt Martin Mayer über Martin Amis' Stalin-Porträt "Koba der Schreckliche". Wir werden die Beilage in der nächsten Woche auswerten.

FR, 08.10.2007

Peter Michalzik hätte bei Andreas Marbers Komödie "Die Beißfrequenz der Kettenhunde" im Hamburger Thalia Theater fast ein unverkrampftes Stück über die neue Arbeitswelt genießen können, wäre nicht Regisseur Stephan Kimmig bedeutungsschwer dazwischen gefahren. "Nichts mehr von Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse, kein Drang zur Veränderung, keine Spur von sozialer Verantwortung und schon gar kein Mitleid mit den Verlierern: der ganze Plunder, der im Theater mit Sicherheit jede Komödie klein bekommt. Nein, da steht - schaurig schön - die Lächerlichkeit, mit der man sich nach Kräften müht, zu einem gut funktionierenden Mitglied der ökonomistischen Globalsekte zu werden. Natürlich kann man jetzt trefflich reden darüber, was der Kapitalismus mit dem Menschen so macht. Was aber hat das Hamburger Thalia Theater geritten, trotz begnadeter Schauspieler daraus ein stirnrunzelndes Problemstück zu machen, dieses sanft boshafte Drama zu einem Entlarvungstext umzumodeln, in dem wir kopfnickend bestätigen, dass es schlimm ist, wenn man Frauen anmacht, kein soziales Gewissen, dafür eine unbewältigte Vaterfixierung hat?"

Weitere Artikel: Sebastian Moll fasst zusammen, was Salman Rushdie und Orhan Pamuk auf Einladung des New Yorker in New York über Heimat zu sagen hatten. Der katalanische Schriftsteller Quim Monzo schreibt zum dritten Mal aus Barcelona. Karin Ceballos Betancur möchte vierzig Jahre nach dem Tod von Che Guevara betonen, dass er immer noch als Katalysator für "differenzierte, auch historisch klug gewordene Dissidenz" taugt. In einer Times mager verknüpft Christian Schlüter die SPD, Arbeitslosengeld und kooperierende Schimpansen.

Eine Besprechung widmet sich Sasha Waltz' "unscharfer" "Romeo et Juliette"-Choreografie in der Pariser Opera de Bastille.

TAZ, 08.10.2007

Selbst für die evangelische Kirche ist das Christentum im Vergleich zum Islam der wahrere Glaube, stellt Micha Brumlik, ehemaliger Leiter des Fritz-Bauer-Instituts, bei der Betrachtung der EKD-Denkschrift "Klarheit und gute Nachbarschaft" im Meinungsteil fest. "Es rührt daher, dass sogar eine so aufgeklärte religiöse Organisation wie die EKD in einem wenn auch letzten Rückzugswinkel nicht umhin kann, eine große andere Religion in einigen Hinsichten abzuwerten. Bei aller Toleranz im zivilen Umgang klammert sie sich krampfhaft an einen absoluten Wahrheitsanspruch. Versucht man, diese Befunde zu deuten, so bleibt kaum ein anderer Schluss übrig, als dass die christlichen Kirchen in Deutschland der Weiterentwicklung des Landes zu einer multireligiösen Gesellschaft keineswegs mit fröhlicher Zuversicht entgegensehen, sondern mit einem gerüttelt Maß an ganz unchristlicher Angst."

Im Kulturteil schreibt Christian Jäger eine eigentlich recht liebevolle Polemik gegen die Berliner Wohlfahrtsinsel Kreuzberg. Gabriele Lesser berichtet, wie großherzig Danzig seinen schwierigen Sohn Günter Grass mit einer dreitätgigen Jubelfeier wieder ins Herz geschlossen hat.

Besprochen werden die Retrospektive "Secret Views" der Fotografin Roswitha Hecke im Berliner Martin-Gropius-Bau, Antonin Svobodas "großartiger" Antikatastrophenfilm "Immer nie am Meer", und das pädagogisch anspruchsvolle Computerspiel "Global Conflicts: Palestine".

Und Tom.

Welt, 08.10.2007

Wieland Freund erzählt die Geschichte des Science-Fiction-Autors Cory Doctorow, eines Anhängers der "Creative Commons"-Bewegung, dessen Roman "Backup" auch vom deutschen Verlag kostenlos zum Download angeboten wird. Freund bezweifelt, dass diese Methode dauerhaft erfolgreich ist: "Als der Berliner Tropen Verlag im vergangenen Jahr ein Buch mit dem Titel 'No Copy - Die Welt der digitalen Raubkopie' für 15,80 Euro im Buchhandel anbot und gleichzeitig kostenlos ins Netz stellte, verzeichnete er Abertausende Downloads und sehr bescheidene Verkaufszahlen. Und auch Doctorows Erfolg lässt sich letztlich nicht messen. Mehr als 700.000 mal ist das englischsprachige Original seines Romans bislang heruntergeladen worden, auf wie vielen Rechnern es tatsächlich gespeichert ist, weiß niemand. Die Printausgabe wurde unterdessen zum siebten Mal aufgelegt - ein schöner, aber kein überwältigender Erfolg."

Weitere Artikel: Hannes Stein bewundert in der Leitglosse noch einmal die Menschlichkeit der von Ken Burns für seinen Dokumentarfilm "The War" interviewten Veteranen. Reinhard Wengierek schreibt begeistert über Michael Thalheimers Inszenierung von Gerhart Hauptmanns Theaterstück "Ratten" ("Thalheimers 'Ratten'-Inszenierung darf als ein Höhepunkt seiner ingeniös redundanzfreien Auf-den-Punkt-Bringe-Poesie gelten"). Manuel Brug ist ebenso begeistert von Sasha Waltz' choreografischer Inszenierung von Berlioz' "Romeo et Juliette" in Paris.

Auf der DVD-Seite unterhält sich Manuel Brug mit dem Komponisten Richard Sherman, der unter anderem die Songs für Disneys Verfilmung des "Dschungelbuchs" schrieb. Und Gerhard Midding erinnert an Jacques Tati, der morgen hundert Jahre alt geworden wäre. Im Forum legt der Architekt und Stadtplaner Robert Kaltenbrunner einen Essay über das Shoppen im Zeitalter der Malls vor.

Besprochen werden außerdem die Uraufführung von Andreas Marbers "Beißfrequenz der Kettenhunde" am Thalia Theater Hamburg, eine neue CD von Robert Wyatt, ein Konzert des auf Deutschland-Tournee befindlichen Rufus Wainwright und Calixto Bieitos Theaterspektaktel "Tirant lo Blanc" in Frankfurt.

nachtkritik, 08.10.2007

Das Bühnenbild ist ein Coup, die Inszenierung "schön gemacht", aber Petra Kohse ist dennoch nicht glücklich mit Michael Thalheimers Inszenierung von Hauptmanns "Ratten" am Deutschen Theater in Berlin: "Der 42-jährige Thalheimer ist ein Könner und ein Poet. Kein Gewusel, kein Geschwafel und nur das zu sehen, was man sehen muss. Es ist eine Art Bühnen-Feng-Shui, das er betreibt. Man setzt sich hin und vertut keine Zeit, weil man sofort anfängt, aufgeräumte Gefühle zu haben bei ihm. Aber weil man gar nicht wegen der gezeigten Handlung anfängt zu fühlen, sondern schon vorher, wegen der Musik oder angesichts des Bühnenbildes, und weil man auch ungefähr immer das gleiche fühlt (Melancholie, Verlorenheit), muss man aufpassen: Denn wo es vor allem um Grundgefühle geht, ist der Horizont oft schwer zu erkennen."

FAZ, 08.10.2007

Die Buchmesse steht an, Hubert Spiegel bereitet auf den belletristischen, Christian Geyer (nämlich hier) auf den Sachbuch-Bücherherbst vor. Ihre Texte werden gleich zwei Mal abgedruckt: auf Deutsch und auf Englisch. Bahnt sich eine deutsch-englische FAZ an? Der Leser erfährt es nicht. Hinzuweisen ist auch auf die gut zwanzigseitige Buchmessenbeilage der Sonntags-FAZ, die im Netz leider keine Spuren hinterlassen hat. Im Aufmacher schreibt Volker Weidermann über Wassili Grossmans Jahrhundertepos "Leben und Schicksal" (Leseprobe in "Vorgeblättert").

In der Glosse zählt Jürg Altwegg all die Bücher auf, die in der Nachfolge von - oder Auseinandersetzung mit - Jonathan Littells Riesenerfolg "Les Bienveillantes", seiner fiktiven Autobiografie eines SS-Offiziers, den französischen Markt überschwemmen. Von großem Streit in Indien über die Beseitigung möglicherweise mythischer Brückenreste berichtet Martin Kämpchen. Nils Aschenbeck hat das Museum auf dem Monte Verita in Ascona besichtigt und in bemitleidenswertem Zustand vorgefunden. Marta Kijowska berichtet über Danziger Geburtstagsfeiern für Günter Grass. Paul Ingendaay porträtiert den katalanischen Autor Quim Monzo. Abgedruckt wird ein Auszug aus Hans Blumenbergs dieser Tage aus dem Nachlass veröffentlichten Ernst-Jünger-Texten "Der Mann vom Mond".

Besprochen werden Sasha Waltz' choreografische Inszenierung von Hector Berlioz' "Romeo et Juliette" in Paris, Michael Thalheimers Berliner "Ratten"-Inszenierung (an der ein hingerissener Gerhard Stadelmaier alles "ganz einfach irrsinnig, tollwütig liebevoll und herzbeklemmend bestialisch" findet), Heiner Goebbels' in Berlin gezeigtes neues Stück "Stifters Dinge", die Düsseldorfer Uraufführung von Thomas Jonigks Stück "Diesseits", Jens Liens Film "Anderland", eine Ausstellung mit Schmuckstücken von Rene Lalique im Berliner Bröhan-Museum und Bücher, darunter Martin Riesebrodts Studie über "Cultus und Heilsversprechen" und Susanne Kippenbergers Biografie ihres Bruders Martin (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 08.10.2007

In diesem Ramadan ist das Angebot an musalsalat - melodramatische TV-Seifenopern - größer denn je, berichtet aus Kairo die amerikanische Publizistin Maria Golia. "Ein musalsal allerdings, mit dem Titel 'Ein Fall öffentlicher Meinung', fällt auf durch das Thema: Vergewaltigung - und die bigotte Sitte, die Tat dem Opfer anzulasten. Der panarabische Megastar Youssra spielt eine wohlhabende Kinderärztin, Ehegattin eines Arztes, Mutter zweier Kinder. Als sie eines Nachts mit zwei Kolleginnen heimkommt, werden die Frauen von drei jungen Männern angegriffen. Die Vergewaltigungsszene bleibt selbstverständlich innerhalb der Grenzen der Schicklichkeit. Doch wurde sexuelle Gewalt noch nie so offen auf dem Bildschirm gezeigt. Zwar gab es auch Bedenken, ob es angemessen ist, ausgerechnet im heiligen Monat Ramadan eine Vergewaltigung im Fernsehen zu zeigen, doch der wahre Grund für die Kontroverse um 'Ein Fall öffentlicher Meinung' liegt darin, dass die Serie einen hochaktuellen Konflikt beschreibt. Denn obwohl - oder gerade weil - Kairo mit jedem Jahr religiöser wird, wie die Zahl verschleierter Frauen und öffentlich betender Männer und Frauen zeigt, nimmt die Zahl sexueller Belästigungen zu."

Die bedingungslose Förderung jeglicher katalanischen Literatur um des Katalanischen willen lässt bei Merten Worthmann Zweifel an der Qualität derselben aufkommen. Und die Politik sei sowieso noch mit im Spiel. "Auch mit dem Schreiben auf katalanisch setzte jeder Autor noch lange nach Francos Tod ganz unwillkürlich eine Art politisches Ausrufezeichen. Dieser ideelle Mehrwert war zugleich eine Last, weil weite Teile der Öffentlichkeit ebenso unwillkürlich annahmen, dass die katalanische Literatur stets die katalanische Frage mit sich führte und sie deshalb für provinzieller hielten, als sie tatsächlich sein wollte. Allgemein gilt die aktuelle Schriftsteller-Generation als erste, die 'einfach schreiben kann, ohne damit zugleich das Vaterland verteidigen zu müssen', wie es der Barceloneser Kritiker Julia Guillamon kürzlich ausdrückte; die Frage sei nur, 'ob die katalanische Kultur auch ohne politisches Projekt überleben kann'."

Weitere Artikel: Jörg Häntzschel war dabei, als Salman Rushdie und Orhan Pamuk auf einer Veranstaltung des New Yorker über Heimat sprachen. Der Historiker Daniel Siemens schildert den NS-Kult um Horst Wessel, der vor hundert Jahren geboren. Florian Welle war froh, als es bei der Tagung des Historischen Seminars der Ludwig-Maximilians-Universität über Niccolo Machiavelli an der Evangelischen Akademie Tutzing einmal ein wenig polemisch zuging.

Die Literaturseite ist fast zur Gänze Martin Walsers Tagebüchern aus den Jahren 1963 bis 1973 gewidmet. Dieter Borchmeyer bedauert Walsers Zurückhaltung. "Allzu Privates, Intimes fehlt fast vollständig. 'Nichts ist dem Tagebuch, der Sprache des Tagebuchs weniger angemessen als das Private', schreibt Walser erstaunlicherweise im Nachwort. Wir hatten eigentlich das Gegenteilige gedacht."

Besprochen werden die Aufführung von Heiner Goebbels' Stück "Stifters Dinge" ohne Handlung und Darsteller im Haus der Berliner Festspiele, die Schau "Non-Specific Threat" des nordirischen Videokünstlers Willie Doherty im Kunstbau des Münchner Lenbachhhauses, eine Schau zum 300. Geburtstag der "Society of Antiquaries" im Haus der benachbarten Academy of Arts in London, Christian Stückls Inszenierung von Schillers "Don Karlos" am Münchner Volkstheater nach Art von "Denn sie wissen nicht, was sie tun", Julian Jarrolds Film "Becoming Jane" sowie neue DVDs wie eine Box mit allen Kurzfilmen von Pixar oder Luis Bunuels Mexiko-Filme.