Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.08.2007. In der NZZ fordert Reinhard Jirgl juristische Konsequenzen aus dem wiedergefundenen Schießbefehl. Die FAZ fragt: Interessieren sich Autoren aus der Ex-DDR eigentlich noch für die Ex-DDR? Die Welt berichtet über die Proteste alter erfolgloser Herren über die weibliche Schwedenkrimiflut. Die taz findet: Ein Roman kann ein Sachbuch nicht plagiieren, und darum ist auch "Tannöd" kein Plagiat.

NZZ, 15.08.2007

Der Schriftsteller Reinhard Jirgl fordert Konsequenzen aus dem von der Birthler-Behörde wiederentdeckten Schießbefehl: "Anhand eines solchen Dokuments dürfte zunächst der Legende vom nie erteilten Schießbefehl der Boden entzogen sein. Sodann erscheint mir ein Gerichtsprozess, der seinen Namen verdient und der die Verantwortlichen, viele sind noch am Leben, für die über hundert getöteten Menschen an dieser Grenze zur Rechenschaft zieht, zumindest theoretisch möglich."

Samuel Herzog durchschreitet für eine launige Reportage die Ausstellungen des Kulturhauptstadtjahrs in Luxemburg, und er freut sich über das originelle Logo, das über allen Veranstaltungen prangt: "Luxemburg 2007 ist logotechnisch auf den Hirsch gekommen, der zur Freude unseres Jägerherzens auch noch kräftig röhrt - fehlt einzig der warme Hirschatem, der als schinkenförmige Wolke in den kalten Tannenwaldmorgen hinausströmt. Der Hirsch erinnert daran, dass die Gegend von Luxemburg in napoleonischer Zeit zum Departement des Forets gehörte und folglich Heimat all der Tiere war, die man auch unter Bonaparte für Gaumenzwecke zu erlegen pflegte."

Besprochen werden Natalie Zemon Davis' bisher nur auf englisch erschienenes Buch (Auszug) über Leo Africanus, einen zum Christentum konvertiten Muslim, der in Rom lebte und mit seinem Buch "Della Descrittione dell'Africa" von 1550 über Jahrhunderte das europäische Afrikabild prägte, eine Ausstellung über "kollektives Wohnen" in Paris, die Ausstellung "Ordnung" im Literaturmuseum Marbach und weitere Bücher, darunter Christopher Nolans Roman "Fünf Felder grün" und ein Kurzgeschichtenband von Maxim Biller (mehr hier).

Welt, 15.08.2007

Hendrik Werner kolportiert amüsiert den Streit unter schwedischen Krimi-Autoren, den sich derzeit junge Frauen und alte Männer liefern - und zwar bedeutend hitziger, als ihre Krimis erwarten ließen: "Vom Zaun gebrochen hat den Streit der Kriminologieprofessor und Schriftsteller G. W. Persson (62). Er warf der 30 Jahre jüngeren Camilla Läckberg vor, ihre Krimis seien 'Kitschnovellen für Pferdemagazine'. Läckberg konterte drastisch: Die Anwürfe seien 'Pisse von einem älteren Herrn, der sich übergangen fühlt'. Auftritt der Sekundanten: Mittfünfziger Ernst Brunner, der das Krimigenre meidet und womöglich deshalb wenig Erfolg hat, verglich die weibliche Schwedenkrimiflut mit der 'Scheiße von Möwen'."

Weiteres: Ralph Umard meldet Subversives aus Nordkorea: Hier lassen sich Jugendliche inzwischen die Haare wachsen und südkoreanische Videos zirkulieren: Schuld ist die über ganz Asien schwappende südkoreanische Welle, genannt 'Hallyu'. Dankwart Guratzsch berichtet, dass die Altstadt von Königsberg wieder aufgebaut werden soll, noch nicht entschieden ist allerdings, ob originalgetreu oder in einem fantasievollen altdeutschen Stilmix. Nachdem ein junges türkisches Mädchen verboten hat, ihr Bild aus einem Freibad in der Zeitung abzudrucken, erinnert Thomas Delekat an weitere Skandale der Kunstgeschichte um Frauen beim Baden. Volker Tarnow schreibt zum hundertsten Todestag des Musikers Joseph Joachim. Birgit Svensson klärt über die Bedeutung der Blogger im Irak auf.

Besprochen werden eine Werkschau des Künstlers Robert Gober im Basler Schaulager, eine Otto-Dix-Ausstellung im Bucerius Kunstforum in Hamburg.

Auch wenn uns die Gletscher wohl noch einige Zeit erhalten bleiben werden, wundert sich Dirk Maxeiner auf der Meinungsseite über den Klimakatastrophen-Tourismus in Grönland, dem jetzt auch Angela Merkel und Sigmar Gabriel verfallen sind: "Letztes Jahr bevölkerten 15.000 Öko-Touristen Ilulissat und Umgebung, in diesem Sommer sollen es doppelt so viele werden, die aus aller Welt einschweben. 'Global warming's boom town', schreibt der britische Economist über Ilulissat und merkt süffisant an: 'All diese Grönland-Besucher beschleunigen natürlich genau jenen Prozess der globalen Erwärmung, dessen Zeuge sie werden'. Wer ihn noch ein wenig mehr beschleunigen will, für den hält Air Greenland inzwischen auch zwei Bell-222-Hubschrauber bereit."

TAZ, 15.08.2007

Unter der Überschrift "Kleinmut der Neider" stellt Jörg Sundermeier fest, dass der Sachbuchautor Peter Leuschner zu Unrecht Plagiatsvorwürfe gegen den Bestsellerroman "Tannöd" von Andrea M. Schenkel erhebt. "Kann man mit einem Roman überhaupt ein Sachbuch plagiieren? Ist das, was sich seinerzeit in 'Hinterkaifeck' zugetragen hat, das geistige Eigentum Leuschners? Denn es handelt sich bei seinen Büchern ja um Sachbücher, die die Fakten darstellen. Leuschner nun sagt, er habe das eine oder andere Detail an dem Fall erfunden. Das macht ihn als Sachbuchautor verdächtig, nicht aber die beklagte Autorin."

In einem Interview sprechen die Macher der Plattenlabels Sonig und Karaoke Kalk, des Magazins De:Bug und des Verlags Autopilot anlässlich deren zehnten Geburtstags und der Jubiläumstour "Wir sind zehn" über Reinschlittern, Ellbogen und Burn-out im unabhängigen Musikbetrieb. "Überzeugend" findet Dietmar Kammerer Mike Binders Film "Die Liebe in mir", eine sehr persönliche Geschichte von verpasster Trauerarbeit und wiederentdecktem Vertrauen vor dem Hintergrund von 9/11. Andreas Hartmann würdigt in einem Nachruf Tony Wilson, den Betreiber von Factory Records und legendären Musik-Impresario.

Auf den Tagsthemenseiten liefern sich Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse und der CDU-Abgeordnete Reinhard Grindel ein Pro und Contra zur Frage, ob die Stasibehörde noch nötig sei. Und in tazzwei erklärt Christian Semler, inwiefern Marianne Birthler ihrer Behörde mit der jüngsten Veröffentlichung zum DDR-Schießbefehl keinen Gefallen getan hat.

Und hier Tom.

FR, 15.08.2007

Unter der hübschen Dachzeile "Das gebildete Weichei" berichtet Sylvia Staude über die jüngste Ausgabe der Zeitschrift The American Interest (Vol. II, No. 6), in der die Autoren Robert D. Kaplan und Ralph Peters die Bildung und Ausbildung von Soldaten diskutieren und damit einen Nebenkriegsschauplatz für die Ermittlung des Schuldigen am Misserfolg des Irak-Kriegs eröffnen. "Zu einem Satz zusammengefasst, lautet das Fazit der Soldaten-gehören-nicht-an-die-Uni-Vertreter: Universitäten bilden durchweg Weicheier heran, Zauderer, die fortan für die Aufgaben eines Tatmenschen und Kriegers nicht mehr geeignet sind. Kurioserweise greifen zwei der ebenso wortgewaltigen wie gar nicht zimperlichen Wissenschafts-Prügler ausführlich zu Beispielen aus der Literatur, um ihre These zu belegen. Es ist, als wollten sie die verdammten Schöngeister auf deren Terrain schlagen."

In Times mager denkt Ina Hartwig über Buchpreise, die dafür erforderlichen Nominierungslisten und ein nützliches Buch mit dem Titel "Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat" nach.

Besprochen werden die Ausstellung "Attila und die Hunnen" des Historischen Museums der Pfalz in Speyer, eine Ausstellung mit Bildern aus der Sammlung Martin Walsers in der Städtischen Galerie Überlingen, Georg Philipp Telemanns Oper "Der geduldige Sokrates" bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik, eine anregende Ausgabe der Zeitschrift Text + Kritik über Migrationsliteratur und ein Beitrag des Berliner Philosophen Peter Bieri ("Das Handwerk der Freiheit") in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie über die beharrlich zitierte Unterscheidung zwischen analytischer und kontinentaler Denktradition. (siehe dazu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

FAZ, 15.08.2007

Aus Anlass der neuen Diskussionen um den Schießbefehl hat Hubert Spiegel aus der DDR kommende Schriftsteller gefragt, ob der Arbeiter-und-Bauern-Staat noch ein Thema für ihre Literatur ist: "Für Katja Lange-Müller ist die DDR-Vergangenheit allenfalls noch als literarische 'Folie' interessant. Sie hält es mit dem Satz Heiner Müllers, nur über die DDR zu schreiben, sei auch Zeitverschwendung. Dass ihre frühere Heimat in der deutschen Literatur der nächsten Jahren eine wichtige Rolle spielen wird, kann sie sich ebensowenig vorstellen wie einen dezidiert politischen DDR-Roman: 'Den könnte wahrscheinlich nur Reinhard Jirgl schreiben.' 'Nein', sagt Reinhard Jirgl, 'ein dezidiert politischer Roman ist für mich heute nicht denkbar, denn das ginge nur, wenn die DDR-Propaganda vom geschichtlichen Fortschritt wahr wäre. Aber die DDR war nicht die Zukunft, sondern tief im 19. Jahrhundert verwurzelt.'"

Weitere Artikel: Helmut Mayer denkt in der Leitglosse über neue Errungenschaften automatisierter Mimikerkennung nach. Julia Spinola stellt das "West Eastern Divan Orchestra" (Website) unter Daniel Barenboims Leitung vor, das diesjährige Salzburger "orchestra in residence". Kerstin Holm schreibt den Nachruf auf den russischen Komponisten Tichon Chrennikow. Frank-Rutger Hausmann erzählt die Geschichte deutscher Kulturbotschafter in Japan in den Jahren des Dritten Reiches. Stefanie Peter stellt den prominenten und politischen polnischen Publizisten Slawomir Sierakowski vor, der mit Mitstreitern einen "Leitfaden der Linken" für Polens Zukunft veröffentlicht hat. Daniel Haaksman erinnert an das Erscheinen der wichtigsten Maxi-Single der Tanzmusik vor 25 Jahren: "Planet Rock" von "Africa Bambaataa & The Soulsonic Force". Auf der letzten Seite berichtet Heinrich Wefing über mangelnden Enthusiasmus für historische Rekonstruktionsprojekte in Potsdam. Henning Ritter porträtiert den Kunsthistoriker Thomas Gaehtgens, der neuer Direktor des renommierten Getty Research Institute in Kalifornien wird. Ein im Internet ungenannter Autor berichtet vom "Festival del Sole" im Städtchen Cortona, wo trotz Auftritt von Sophia Loren ohne Starrummel beste klassische Musik gespielt wird.

Besprochen werden die Ausstellung "Luxus und Dekadenz" in Haltern am See, Claus Guths Salzburger Inszenierung von Mozarts "Figaro" (als "Königin der Farben und Nuancen" feiert Eleonore Büning die Susanna-Sängerin Diana Damrau), Robert Thalheims Film "Am Ende kommen Touristen" und Bücher, darunter Henning Mankells Roman "Die italienischen Schuhe".

SZ, 15.08.2007

Die Bayern haben schon wieder einen Feiertag: diesmal Mariä Himmelfahrt.