Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.08.2007. Die taz weiht uns in das Genre der Stalag-Groschenromanen in Israel ein. Die NZZ macht sich Sorgen um die Ashanti-Tempel in Ghana. Die FAZ besucht das Ahmed-Baba-Institut in Timbuktu, wo eine Bibliothek für die kostbaren Handschriften der Stadt entsteht. Die SZ entdeckt demagogische Züge in den neuen Klagen über Homophobie. Die Welt online geißelt das deutsche Schweigen zur Hinrichtung von Schwulen im Iran.

Welt, 06.08.2007

In einem Gastkommentar fragt sich Stefan Wirner von der Jungle World, warum sich deutsche Politiker über die Hinrichtung eines Saddam Hussein empören können, nicht aber, wenn bei einer Massenhinrichtung im Iran 16 Menschen, offenbar vor allem Homosexuelle, getötet werden - und zwei Journalisten zum Tode verurteilt. "Warum wird das iranische Regime mit seinen grausamen Methoden in Deutschland so wenig kritisiert? Es kann nicht nur daran liegen, dass viele Politiker sich derzeit in den Ferienzeit befinden. Die Partei 'Die Linke' etwa fand in der vorigen Woche Zeit, sich zu allem möglichen zu äußern: zur Debatte um die Anhebung des Arbeitslosengeldes etwa oder zu einem Urteil über das Bombodrom in der Kyritzer Heide. Zum Tode verurteilte Journalisten und hingerichtete Homosexuelle? Dazu kein Wort! Auch die außerparlamentarische Linke schwieg. Seit Jahren betreiben linke Aktivisten eine Kampagne gegen die drohende Hinrichtung Mumia Abu-Jamals, des in den USA wegen Mordes an einem Polizisten verurteilten schwarzen Journalisten. Zur Situation im Iran: eisiges Schweigen. Warum schlagen in Deutschland regelmäßig die Wellen der Empörung hoch, wenn in den USA ein Todesurteil vollstreckt wird, und kaum jemanden interessiert es, wenn im Iran Menschen hingerichtet werden?"

In der Randglosse widmet sich Hendrik Werner der neuesten Wendung im Wettbewerb zwischen Wikipedia und der Enzyclopedia Britannica. Demnach hat das Online-Lexikon die Enzyklopädie bei mehreren Fehlerchen ertappt. So wurde Bill Clinton nicht als William Jefferson Blythe IV., sondern als William Jefferson Blythe III. geboren (vielleicht sollte es auch mal einen Eintrag geben zu den politischen Süppchen, die bei Wikipedia gekocht werden). Lars Broder-Keil erinnert daran, dass vor siebzig Jahren die erste Autobahn Deutschlands zwischen Köln und Bonn eingeweiht wurde, und zwar von Konrad Adenauer und nicht von Adolf Hitler. Lutz Göllner erklärt, was es mit der Comicfigur des Silver Surfer auf sich hat, der mit "Fantastic Four - The Rise of the Silver Surfer" in die Kinos kommt. Volker Tarnow war bei der Bachwoche in Ansbach. Und im Interview mit Peter Zander sprechen die beiden Schauspieler Robert Stadlober und Tom Schilling über den Berlin-Film "Schwarze Schafe" ("Radikalität tut ganz gut") und ihre Freundschaft: "Wie Old Shatterhand und Winnetou. Die sehen sich auch selten, aber wenn sie sich in der Prärie treffen, ist alles okay."

Besprochen werden Falk Richters Inszenierung des "Freischütz" in Salzburg, eine große Ausstellung des ersten Landschaftsmalers Joachim Patinir im Madrider Prado, die Choreografie "Rota" der laut Reinhard Wengierek "seltsamerweise weltweit umjubelten Tanzmeisterin" Deborah Colker an Berlins Komischer Oper und Benjamin Brittens Operette "Paul Bunyan".

NZZ, 06.08.2007

Thomas Veser führt uns in einem "Schauplatz Ghana" zu den niederen Göttern geweihten Ashanti-Tempeln des Landes: "Zu den eindrucksvollsten Tempeln zählt Abirim, auch wenn dort nur noch der Altarraum erhalten ist. Mit schwarzer Patina überzogene Gefäße zeigen gekreuzte Krokodile mit drei Köpfen, acht Beinen und einem Schwanz. Das Motiv symbolisiert vermutlich die Abhängigkeit der Familienmitglieder, könnte jedoch auch die Erkenntnis verdeutlichen, dass Stammeskämpfe letztlich allen Beteiligen schaden. 'Die Schlange erklimmt den Raffia-Baum' steht hingegen für Geradlinigkeit, Umsicht und Sorgfalt, da diese Palmenart einen dornenübersäten Stamm hat. Insgesamt besteht das Ashanti-Repertoire aus über hundert solcher Symbole, die man nicht nur auf den Kultgegenständen und an Schreinmauern findet. Sie werden auch mit kleinen Stempeln auf den landestypischen Adinkra-Stoffen angebracht."

Weiteres: Urs Hafner widmet sich ausführlich den Eranos-Tagungen von Ascona, bei denen es ordentlich kriselt. In der Reihe "Die Zukunft von gestern" schreibt Dieter Thomä über Edward Bellamys "Rückblick aus dem Jahr 2000 auf 1887". Besprochen werden Falk Richters laut Peter Hagmann etwas "pubertäre" Inszenierung des "Freischütz" in Salzburg und eine Ausstellung in Portsmouth zu Arthur Conan Doyle.

FR, 06.08.2007

Hans-Klaus Jungheinrich wünscht sich angesichts Falk Richters Modernisierung von Carl Maria von Webers "Freischütz" in Salzburg den deutschen Wald zurück. "Das waren noch Zeiten, als der große Walter Felsenstein mit seinem Regieteam in Berlin über einem neuen "Freischütz" brütete und der Meister in der ersten Konzeptionsbesprechung nach langem Sinnieren die bedeutungsschweren Eingangsworte sprach: 'Freischütz. Da ist ein Wald auf der Bühne.' Erneute kollektive Denkpause. Dann Felsenstein: 'Und kein Auto drin.' Dem Opernfreund ist freilich an einigermaßen unprovinziellen Häusern schon lange kein "Freischütz"-Wald mehr begegnet. Auch bei Falk Richters neuer Salzburger Festspielinszenierung hätte man viel eher ein vorstellig werdendes Auto erwartet. Das kam zwar nicht, dafür realisierte sich das für die populäre Carl-Maria-von-Weber-Oper geltende Waldverbot. Dieses wieder einmal zu brechen, wäre wohl die revolutionäre Tat eines Theaterprovokateurs. Davon scheint Richter noch eine halbe Generation und einige entscheidende intellektuelle Schraubenwindungen entfernt."

Weiteres: Hans-Jürgen Linke nutzt eine Times mager, um seine Wortneuschöpfung vom "Hurricane-Kaptialismus" an den Mann zu bringen.

Besprochen wird das CAN-Festival für zeitgenössische Kunst in Norwich und die dort gezeigte Ausstellung "AfterShock", die Eröffnung des Berliner Festivals der Jugendorchester und Bernard-Henri Levys USA-Bericht (Leseprobe hier) "American Vertigo" (nach dessen Lektüre sich Martina Meister fragt, warum BHL "eigentlich immer noch als Philosoph durchgeht").

TAZ, 06.08.2007

Während des Eichmann-Prozesses florierte in Israel das Genre der "Stalag"-Groschenromane, erfährt Tal Sterngast aus Ari Libskers Dokumentarfilm "Stalags - Holocaust and Pornography in Israel". "Ein alliierter Soldat, meist ein amerikanischer Pilot, wird gefangen genommen und in einem deutschen Stammlager interniert, das von sadistischen weiblichen SS-Offizieren regiert wird. Der Gefangene wird gedemütigt, sexuell missbraucht und vergewaltigt. Doch die Geschichte nimmt ein gutes Ende: Der Soldat kann sich befreien und ist nun selbst derjenige, der die SS-Frauen sexuell ausbeutet und bestraft. Die Illustrationen auf den Covern waren Adaptionen aus amerikanischer Pulpliteratur. Die Autoren waren allesamt Israelis, schrieben aber unter englischen Pseudonymen wie Mike Baden, Archie Berman oder Mike Longshot, die gleichzeitig die Helden der Geschichten waren. Die meisten von ihnen hatten, wie der Film nun aufdeckt, eine direkte oder indirekte Verbindung zum Holocaust."

Weitere Artikel: Isolde Charim lässt sich in einer weiteren Folge ihrer Wiener Diaspora-Gespräche vom Politikwissenschaftler Benedict Anderson erklären, dass der Nationalismus von Minderheiten im Exil oft stärker und rigider ist als derjenige im Heimatland. In der zweiten taz resümiert Katharina Rutschky den Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung in Berlin.

Besprochen werden die Ausstellung "Neue Welt - Die Erfindung der amerikanischen Malerei" in der Stuttgarter Staatsgalerie, Oliver Rihs "unerträgliche" Komödie "Schwarze Schafe" und der neue Band "Ice Cream" mit hundert zeitgenössischen jungen Künstlern aus dem Phaidon Verlag.

Schließlich Tom.

FAZ, 06.08.2007

Für den Aufmacher besuchte Melanie Mühl den hochmodernen Kuhstall eines Bauern, der nun also von der Milchpreiserhöhung profitieren wird. In der Leitglosse beklagt Andreas Rossmann das erstmalige Fehlen linksrheinischer Fußballvereine in der Ersten Bundesliga. Dirk Schümer wirft in der Sommerserie über den "Vormarsch des Islamismus" einen Blick auf die Niederlande. Wolfgang Sandner gratuliert dem Jazzbassisten Charlie Haden zum Siebzigsten. Erwin Seitz flaniert über den neu gestalteten Hamburger Jungfernstieg. Der Lyriker Michael Lentz schreibt zum Tod des Lettristen Isidore Isou. Joseph Hanimann stellt neue französische Bücher zu bioethischen Debatten vor.

Die Medienseite bringt einen Artikel des RTL-Managers und Privatsenderlobbyisten Tobias Schmid, der unter anderem fordert, dass deutsche Medienunternehmen eine "gewisse Größe" erreichen dürfen sollen - womit er wohl auf den Springer-Konzern anspielt, dem eine Übernahme von Pro 7 Sat 1 verwehrt wurde, so dass ausländische Finanzinvestoren zum Zuge kamen. In einem zweiten Artikel schildert Olaf Sundermeyer die Erfolge des "Gräben überwindenden" Springer-Konzerns in Polen.

Für die letzte Seite besucht Karen Krüger den Direktor des Timbuktuer Ahmed-Baba-Instituts, Mohamed Dicko, der mit südafrikanischen Geldern eine Bibliothek für die kostbaren alten Handschriften der Stadt aufbaut: "Jahrhundertelang war die Oasenstadt im Nordosten von Mali, am südlichen Rand der Sahara, ein Zentrum islamischer Gelehrter und der Wissenschaft. Mit der marokkanischen Invasion im Jahr 1591, bei der die ersten Bibliotheken brannten, begann ihr intellektueller Untergang, der mit der europäischen Kolonialisierung der Region seinen Abschluss fand." Tobias Becker stellt eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung über den verbesserungsfähigen Ausbildungsstand von Erziehern in Kindergärten vor. Und Andreas Platthaus schreibt ein Profil des Comicerzählers und Romanciers Gerhard Seyfried, der bei Zweitausendeins eine Comic-Gesamtausgabe vorlegt.

Besprochen werden Webers "Freischütz" in Falk Richters Regie in Salzburg, eine Sigmar-Polke-Ausstellung in Siegen, Ereignisse der Ansbacher Bachwoche und Sachbücher, darunter - besprochen von Kurt Flasch - Neuerscheinungen über Meister Eckhart.

Frank Schirrmachers Artikel über Thomas Karlaufs Stefan-George-Biografie von Freitag ist jetzt online nachzulesen, ebenso Volker Weidermanns genauso begeistertes Porträt des Autors aus der FAZ am Sonntag.

SZ, 06.08.2007

Jens Bisky hält die Diskussion um wachsenden Hass, dem sich Schwule angeblich wieder gegenüber sehen, für ein recht künstliches Bedrohungsszenario, das die Szene noch einmal zusammenschweißen soll. "Ab und an gewinnt das Gerede von der allgegenwärtigen Homophobie demagogische Züge. In einer Handreichung des Berliner Senats wird Lehrern empfohlen, mit ihren Neuntklässlern folgendes Rollenspiel zu erproben: 'Du sitzt an der Theke einer Schwulenbar und könntest heute eigentlich einen hübschen Mann in deinem Bett gebrauchen. Ein Neuer betritt den Raum, den du eigentlich ganz schnuckelig findest. Wie ergreifst du deine Chance?' Die Bildungspolitikerin Mieke Senftleben (FDP) hat dies kritisiert und ist dafür unverzüglich angegriffen worden. Sie brauche Nachhilfe, hieß es. Man muss aber nicht homophob sein, um das konsumistische Verhalten, das hier trainiert werden soll, den Ge- und Verbrauch der Sexpartner abzulehnen."

Weiteres: Gerhard Matzig, der nicht die Dresdener Waldschlösschenbrücke an sich, sondern den derzeitigen Entwurf für indiskutabel hält, empfiehlt dem sächsischen Ministerpräsidenten verzweifelt die Lektüre von Richard J. Dietrichs Standardwerk "Faszination Brücken". "midt" meldet, dass die Besucher eines iranischen Rockkonzerts verhaftet wurden. Jonathan Fischer preist KRS-One alias "Knowledge Reigns Supreme Over Everyone" alias Kris Parker, ehemaliger Obdachloser und immer noch verehrter Altmeister des HipHop (hier sind fast alle seiner Texte nachzulesen). Ralf Dombrowski schickt dem Jazzmusiker Charlie Haden kurze Grüße zum Siebzigsten. Gemeldet wird, dass die Denkmäler aus der zu DDR-Zeiten gesprengten Leipziger Paulinerkirche wieder restauriert werden.

Auf der Literaturseite gibt es einen Auszug aus Fritz Sterns (mehr) Erinnerungen, die gegen Ende August veröffentlicht werden. Stern berichtet auch von dem Treffen mit Margaret Thatcher 1990, auf dem er sie mit einigen anderen Historikerkollegen von der Ungefährlichkeit der Deutschen überzeugen wollte.

Besprochen werden Falk Richters mit nackten Frauen und Urangeschossen "aufgemöbelte" Version von Carl Maria von Webers "Freischütz" im Haus für Mozart bei den Salzburger Festspielen, die Pasolini-Variation "Come un cane senza padrone" der Theatergruppe Motus beim Young Directors Project in Salzburg, eine Ausstellung über den Zeichner und Komponisten Franz Graf Pocci in der Bayerischen Staatsbibliothek in München, neue Filme auf DVD von Frank Capra und Mike Hodges, Steven Isserlis' Einspielung von Johann Sebastian Bachs sechs Suiten für Violoncello sowie Celine Curiols Roman "Von Liebe sprechen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).