Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.06.2007. In der taz erklärt Werner Herzog, unter welchen Umständen die unbekannte Materie namens Schauspieler Auskunft gibt. Die NZZ sieht in Horrorfilmen ein Mittel der Produktdifferenzierung. Die SZ amüsiert sich mit Gänsen in der Pariser Oper. Die FAZ untersucht die Grenzen der französischen Nationalliteratur. In der Zeit erzählt Adam Krzeminski, dass die Polen gern als Königsmörder bewundert würden. Mit geteilter Begeisterung nehmen die Feuilletons David Chipperfields Entwurf für ein neues Eingangsgebäude der Berliner Museumsinsel auf.

TAZ, 28.06.2007

Werner Herzog, dem das Filmfest München gerade eine Retrospektive widmet, erklärt im Interview, wie sein Lieblingsschaupieler aussieht: "Erst wenn jemand unter besonderer Belastung steht, weil er zum Beispiel ums Überleben zu kämpfen hat, erkennen Sie den Zustand eines Menschen. Das ist so ähnlich wie bei Materialien, die man als Physiker untersuchen will. Erst wenn Sie eine Metalllegierung extremem Druck, extremer Hitze aussetzen, wird Ihnen die unbekannte Materie Auskunft geben. Es geht um Menschen, die auf dem Prüfstand sind. Wie das Erz, das in der Schmiede geprüft und geläutert wird." (Oder wie Kruppstahl?)

Weiteres: Julian Weber stellt Omar S vor, die "neue Detroiter Dancefloor-Sensation", jap. Ulrich Gutmair resümiert einen Artikel aus Village Voice über "genderuntypisches Verhalten" von Kindern. Brigitte Werneburg gefällt David Chipperfields neues Eingangsgebäude für die Berliner Museumsinsel - ob das Günther Jauch nun passt oder nicht.

Besprochen werden Astra Taylors Filmporträt "Zizek" sowie Dai Sijies Film über unterdrückte Frauen und verbotene lesbische Liebe im China der 80er-Jahre "Die Töchter des chinesischen Gärtners".

Und Tom.

FR, 28.06.2007

Auch Christian Thomas scheint zufrieden mit Chipperfields Eingangsgebäude auf der Berliner Museumsinsel. Tobi Müller informiert uns über die drei neuesten Trends in der Popmusik: Rock, Disco und Elektro. In Times Mager erklärt Peter Michalzik, er wolle nicht über Dramatiker debattieren.

Besprochen werden Curtis Hansons musikalisches Pokerdrama "Glück im Spiel" (ideale Einführung in die Sucht der Liebe, versichert Daniel Kothenschulte) und Thomas von Steinaeckers Roman "Wallner beginnt zu fliegen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 28.06.2007

Patrick Vonderau denkt über die große Menge ultrabrutaler Horrorfilme - wie zum Beispiel "Hostel 2" - nach, die in diesem Sommer in unseren Kinos zu sehen sind. Er neigt dabei weniger zum Kulturpessimismus als zur ökonomischen Erklärung: "Horrorfilme reflektieren zunächst weniger soziale Ängste als die Ängste der sie herstellenden Industrie. Denn selbst wenn gern mit Demografie experimentiert wird, bleibt Horror ökonomisch betrachtet doch das konservativste aller Genres. Seit je haben Blut und Schrecken einen Grund in der Risikoscheu der Filmhersteller: Sie ermöglichen mit niedrigen Investitionen den Anschein von Produktionswerten und das Gefühl von großem Kino. Gewalt ist auch ein Mittel der Produktdifferenzierung im Kampf um die Aufmerksamkeit eines Massenpublikums, das diesen Sommer mit mehr Blockbustern denn je konfrontiert ist."

Weitere Artikel: Joachim Güntner erinnert anlässlich seines 200. Geburtstags an den Verleger Anton Philipp Reclam. Uwe Justus Wenzel feiert den mit dem nun erschienenen Registerband erfolgten Abschluss des epochalen Projekts "Historisches Wörterbuch der Philosophie".

Besprochen werden eine große Ausstellung zum barocken Bildhauer Georg Petel im Münchner Haus der Kunst, die Exil-Ausstellung "Transit Amsterdam" gleichfalls in München, ein Schumann-Abend bei den Zürcher Festspielen, Len Wisemans Action-Film "Stirb Langsam 4.0" und Bücher, nämlich ein Band mit Essays des Wissenschaftsphilosophen Georges Canguilhem und eine Studie zu russischer Revolutionsarchitektur (dazu mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 28.06.2007

Rainer Haubrich ist nicht zufrieden mit dem neuen Entwurf des Architekten David Chipperfield für den Eingang der Berliner Museumsinsel. "Man muss sich diesen modernen Klassizisten inzwischen als einen Laokoon vorstellen, der so sehr mit den Zwängen der geforderten Nutzung, den Vorgaben des Denkmalschutzes und den zahlreichen Einwänden zu kämpfen hat, dass er zu einem großen Wurf gar nicht mehr in der Lage ist."

Weitere Artikel: Charles G. Rump widmet sich den Gesetzen des Autographenhandels. Gemeldet wird, dass Gerhard Besier das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung als Direktor verlässt. Bertold Seewald berichtet über neueste Forschungen ägyptischer Archäologen, die glauben, die Mumie der Königin Hatschepsut identifiziert zu haben. Wieland Freund berichtet, dass eine Kurzgeschichte von Maxim Biller erstmals im New Yorker veröffentlicht wurde. Gernot Facius schreibt über das Paulus Jahr, das Papst Benedikt XVI. heute ausrufen wird. Gemeldet wird außerdem, dass Kulturstaatsminister Bernd Neumann ein Verbot von gewaltverherrlichenden Computerspielen unterstützt und dass Erzbischof Claudio Maria Celli neuer Chef des päpstlichen Medienrates wird.

Besprochen werden ein Auftritt Lou Reeds, der erstmals in Berlin sein Album "Berlin" spielt, ein Dokumentarfilm über "ebay", der Film "Die Töchter des chinesischen Gärtners" des französisch-chinesischen Regisseurs Daj Sijie, der im Feuilleton auch ein Interview gibt, und Curtis Hansons Film "Glück im Spiel".

FAZ, 28.06.2007

Von französischen Diskussionen über den Abschied von den engen Grenzen der Nationalliteratur berichtet Joseph Hanimann - und bringt Beispiele: "Die Abkopplung von Nation, Literatur und Sprache verschiebt unerwartet auch die Koordinaten der Zugehörigkeit. Ein afrikanischer Autor zu sein bedeute für ihn nicht, dass er sich anderen Autoren seines Kontinents besonders nahe fühle, schreibt der aus Kongo stammende und in Kalifornien lebende Schriftsteller Alain Mabanckou, der für seinen Roman 'Memoires de porc-epic' im letzten Herbst in Paris den Renaudot-Preis erhielt. Der Nigerianer Wole Soyinka zum Beispiel bleibe ihm fremder als etwa Louis-Ferdinand Celine, den er im Original lese. Eine 'kontinentale' Literaturauffassung habe gerade der Literatur Afrikas lange geschadet, indem sie sie in literaturfremde Gehege sperrte, meint Mabanckou: Die einzig entscheidende Grenze für die Literatur sei die der Sprache."

Weitere Artikel: Stefanie Peter schickt einen Bericht von der Grundsteinlegung zum "Museum der Geschichte der polnischen Juden" in Warschau. Wirklich begeistert ist Heinrich Wefing von David Chipperfields Überarbeitung seines viel kritisierten Entwurfs für das Eingangsgebäude der Berliner Museumsinsel. Nachgerade entsetzt zeigt sich dagegen in der Glosse Jürgen Kaube vom "öffentlichen Delirieren von Wissenschaftsfunktionären", die jetzt eine Berliner Forschungssuperuni in Aussicht stellen. Gleichfalls empört in Sachen Bildungspolitik ist Christian Schwägerl, und zwar über den Widerstand von links gegen die von Bildungsministerin Schavan geplante Einwanderungserleichterung für ausländische Forscherinnen und Forscher. Als eher lobenswert beurteilt wiederum Patrick Bahners die Reformpläne für die Goethe-Institute. Kerstin Holm berichtet vom Moskauer Festival der Symphonieorchester der Welt. Ernst Horst war dabei, als in München zwölf Naturphilosophen über die Naturphilosophie philosophierten.

Auf der Kino-Seite: Einigermaßen deprimiert haben Michael Althen die meisten deutschen Filme, die er beim Filmfest in München gesehen hat. Andreas Kilb staunt darüber, dass das Hollywood-Actionkino die Franzosen als Schurken entdeckt hat und Hans-Jörg Rother informiert über ein Berliner Kolloquium zum Thema "Vom Trümmerkino zum Zoo Palast".

Besprochen werden Emir Kusturicas an der Pariser Bastille aufgeführte Punk-Oper "Le Temps des Gitans", Curtis Hansons Pokerfilm "Glück im Spiel", die Caricatura-Ausstellung in Kassel, ein Marilyn-Manson-Konzert in Dortmund, Lou Reeds Berliner "Berlin"-Konzert, die neue Platte von Enrique Iglesias und Bücher, nämlich Essayistisches von Martin Mosebach und ein Band, in dem Autorinnen und Autoren über die späte Neulektüre ihrer Debüts schreiben (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 28.06.2007

Bei Jens Bisky löst David Chipperfields gestern vorgestellter Entwurf für ein gemeinsames Eingangsgebäude auf der Museumsinsel keine Begeisterung aus. "Die Tür zum Pergamonmuseum etwa sieht derzeit aus wie eine schlichte Öffnung in der Wand, die Freitreppe führt in eine Käfigsituation, einen Kasten, der hinter den Kolonnaden versteckt wird. Er behindert die Ansicht so wenig wie möglich, gewinnt aber die Würde eines eigenständigen, wohlproportionierten Baukörpers nicht. Elemente, gegen die keiner etwas sagen kann, wurden aneinandergereiht. Einen eigenen Rhythmus, der den Besucher fortzieht und lenkt, eine architektonisch sichtbare Logik der Raumfolge sucht man vergeblich."

Weitere Artikel: Vielleicht löst sich die Aufregung um Tom Cruise, Verteidigungsminister Jung und die angeblich verweigerte Drehgenehmigung für dessen Stauffenberg-Film ja in Luft auf, meint Andrian Kreye, nachdem er dem Trubel ausführlich gehuldigt hat - der Bendlerblock untersteht nämlich dem Finanzministerium. Reinhard J. Brembeck erfährt aus der Autobiografie des Prominentenzahnarztes Aga Hruska mehr darüber, warum Herbert von Karajan am Ende des Zweiten Weltkriegs in Mailand untertauchte. Das Pariser Goethe-Institut hat "seine Lehrer mit den Texten von Tokio Hotel versorgt und bereitet sich auf einen Anstieg der Sprachkurs-Nachfrage vor", behauptet Nico Daniel Schlösser. In Ägypten wurde nun die Mumie der Pharaonin Hatschepsut identifiziert, meldet Sonja Zekri. Lothar Müller begeht auf der Berliner Messe Showtech den hundertsten Geburtstag der Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft.

Auf der Filmseite geht es um neue bayerische "Heimatfilme" von Hans Steinbichler und Marcus H. Rosenmüller beim Münchner Filmfest, wo auch Dokumentarfilme über die Dixie Chicks und Annie Leibovitz gezeigt werden. Vorgestellt werden außerdem Sijie Dais Film "Die Töchter des chinesischen Gärtners" und Daniel Sanchez Arevalos "dunkelblaufastschwarz". Im Literaturteil entnimmt Lothar Müller den amerikanischen Rezensionen zur nun erschienenen Übersetzung von Günter Grass' autobiografischem Roman "Beim Häuten der Zwiebel" mehr Zweifel als Beifall. Der Literaturwissenschaftler Reinhard Wittmann erinnert an Anton Philipp Reclam, der vor 200 Jahren in Leipzig geboren wurde. Oliver Müller freut sich mit anderen Honoratioren in Basel über den Abschluss des "Historischen Wörterbuchs der Philosophie".

Einzige Besprechung: Die Aufführung der von Emir Kusturica inszenierten Punk-Oper "Le Temps des Gitanes" an der Bastille-Oper in Paris. Johannes Willms war dabei: "Ein besonders hübscher Einfall war eine Schar von Gänsen, die dichtgedrängt und in ständiger Erregung durch die Kulissen wackelten und damit dem zauberischen Naturalismus des von Ivana Protic geschaffenen Bühnenprospekts den Anschein von Natürlichkeit verschafften. Eher enttäuschend hingegen der hauptsächliche, der musikalische Aspekt dieser Punk-Oper, für deren Partitur mit Dejan Sparavalo, Nenad Jankovic und Stribor Kusturica, einem Sohn des Regisseurs, drei Komponisten verantwortlich zeichnen."

Zeit, 28.06.2007

Die polnischen Konservativen bedauern das unblutige Ende des Kommunismus, schreibt der Publizist Adam Krzeminski. "Das gravierendste Beispiel ist ein Bestseller, den Teile der Kritik zu einem Großereignis hochgejubelt haben. Er heißt 'Das Henken' und stammt von Jaroslaw Rymkiewicz, einem 72-jährigen Dichter, der bisher betuliche Gedichte und subtile Essays geschrieben hatte. Nun rekonstruierte er minutiös die Vorgänge in Warschau während des Kosciuszko-Aufstands 1794. Hätten die Warschauer damals, seufzt Rymkiewicz, nicht nur zehn kümmerliche Galgen in der Hauptstadt aufgestellt - wie tatsächlich geschehen -, sondern Hunderte und Tausende, allen voran den polnischen König, aufgehängt, dann hätten die Polen heute mehr Grund zur Selbstachtung und würden in Europa als Königsmöder bewundert."

Desweiteren fühlt sich die Zeit verpflichtet, auf einer Doppelseite die Familiensaga der Wagners nachzuerzählen (mit Stammbaum). Aufhänger sind Claus Spahns ihn schließlich selbst ermüdenden Gedankenspiele über Katharinas Chancen als Nachfolgerin ihres Vaters Wolfgang Wagner in Bayreuth. "Manchmal wünscht man sich, dass es am Grünen Hügel endlich ein Ende hat mit der Genfolklore einer bizarren Familiendynastie." Ach was.

Besprochen werden Martin Kusejs Inszenierung des "Woyzeck" am Münchner Residenztheater, Lou Reeds konzertante Aufführung seines Albums "Berlin" in Amsterdam, Manfred Noas Verfilmung von Lessings "Nathan der Weise" aus dem Jahr 1922, das Album "The Mix Up" der Beastie Boys und Bücher, darunter Gerald Clarkes Biografie von Truman Capote sowie Georg Kleins Roman "Sünde Güte Blitz" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im Literaturteil verbeugt sich Georg Diez vor Truman Capote und Maeve Brennan. Ulrich Greiner erklärt, warum wir die Attacken gegen Salman Rushdie ernst nehmen sollten. Im Magazin spricht Henry Kissinger im Interview über den Irak, über Vietnam und über sich selbst: "Ich bin gerade 84 Jahre alt geworden. Meine Macht ist mittlerweile durchaus überschaubar.".