Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.06.2007. Erste Enttäuschung über die Documenta. Die Formen migrieren, aber der Klatschmohn blüht nicht, und der Auepavillon ist eine Rumpelkammer. Die Kunstreporter der Feuilletons klagen über oberseminarhafte Attitüden und kuratorische Willkür. Die SZ porträtiert die polnische Bestsellerautorin Dorota Maslowska: "ein Gesicht wie ein Kind und ein Stil wie ein verstopfter Abfluss".Die FR fragt nach Nachhaltigkeit in der Architektur. Die NZZ stellt afghanische Religionsgelehrte vor, die es wagen, den Terror und andere Exzesse der Taliban zu kritisieren.

Welt, 15.06.2007

Arg enttäuscht ist Uta Baier von ihrem ersten Rundgang über die Documenta heimgekommen. Den von den Kuratoren ausgegebenen Leitbegriff der "Migration der Form" findet sie nur hübsch formuliert, aber oberseminarhaft umgesetzt. "Wie Blei liegt die Suche nach der Bedeutung zwischen Kunst und Formen über der Werkauswahl, die sich nicht traut, das Schrille, Bunte, Laute zuzulassen. Zu kontrolliert und auf die kuratorische Willkür getrimmt ist hier alles."

Weitere Artikel: Eckhard Fuhr freut sich aus Anlass des Festivals "Die Macht der Sprache", dass sich das Goethe-Institut wieder auf das Wesentliche, nämlich die Förderung der deutschen Sprache besinne. Abgedruckt wird auch die Eröffnungsrede zum Ereignis vom rumänischen Autor Andrei Plesu. Jacques Schuster würdigt den Historiker Saul Friedländer, dem der diesjährige Friedenspreis des deutschen Buchhandels zugesprochen wurde. Nur online berichtet Gabriela Walde über die Trauerfeier für Jörg Immendorff. Besprochen wird ein Konzert Herbert Grönemeyers in Berlin.

Berliner Zeitung, 15.06.2007

Richtig begeistert klingt auch Ingeborg Ruthes erster Bericht von der Documenta nicht. Auch sie zitiert den Leitsatz von der "Migration der Formen": "Allerdings ist der populäre Zugang fürs erste schief gegangen, denn die als überwältigende Kunst im öffentlichen Raum angekündigten roten Klatschmohnfelder der Kroatin Sanja Ivecovic sind nichts als Unkraut, der Friedrichsplatz ist eine Brache. Die Künstlerin hätte sich mit erfahrenen Gärtnern verbünden sollen."

Tagesspiegel, 15.06.2007

Nicola Kuhn betont, dass die Documenta "nicht das Desaster geworden (ist), das jede unerfüllte Liebe im Nachhinein beklagt". Aber so recht in Schwingung geriet sie auch nicht. Besonders enttäuscht hat sie der Auepavillon: "Der Pavillon sollte eigentlich das Herz der Ausstellung werden - luftig und licht wie ein Gewächshaus in Erinnerung an die erste Documenta, die eine Begleitveranstaltung der Bundesgartenschau von 1955 war. Stattdessen entstand eine verhängte Rumpelkammer. Zum Schutz der Kunst wurden im Nachhinein Dach und Außenwände mit silbrigem Stoff verhängt, dann eine röhrende Klimaanlage hinzugebaut. Auf dem groben Asphalt, der den Boden des Pavillons bildet, hat die Kunst kaum noch eine Chance, sich zu entfalten. Dieser Mangel wird am deutlichsten spürbar, wenn Werke auch andernorts gezeigter Künstler präsentiert werden: Hier wirken sie seltsam flügellahm."

Auf Seite 3 berichtet Christina Tilmann über die Trauerfeier für Jörg Immendorff.

NZZ, 15.06.2007

Babak Khalatbari und Mohammed Belal El-Mogaddedi beschreiben in einem sehr hintergründigen Text, wie die Taliban in Afghanistan immer stärker die moderaten Geistlichen unter Druck setzen. "Die islamistischen Extremisten scheinen dieses Jahr mit ihrer Guerilla-Taktik nicht nur der Nato und der Isaf hartnäckig die Stirn zu bieten, sondern mit der Verbreitung von Angst und Schrecken im Wettstreit um die Interpretationshoheit über den Islam letztlich auch die moderaten Kräfte zur Kapitulation zu zwingen. Niedergeschlagenheit beginnt sich unter den afghanischen Gelehrten breitzumachen, und selbst Akademiker, die an der bekannten Al-Azhar-Universität in Kairo studiert und promoviert haben, trauen sich mittlerweile in ihren Freitagspredigten nicht mehr an die 'heißen Eisen' heran."

Weiteres: Bruno Steiger schreibt einen Brief aus der Provinz, Joachim Güntner denkt über ein politisches Bekenntnis zur Stiftung Weimarer Klassik nach und gemeldet wird, dass der Historiker Saul Friedländer den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält.

Besprochen werden: Eine Kempowski Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste, eine Ausstellung über Rumäniens Architektur im Wiener Ringturm, die Wiedereröffnung der Royal Festival Hall in London, Suzanne Vegas neues Album "Beauty & Crime"und die neue CD von Queens of the Stone Age.

Auf der Medienseite berichtet "sos" von einem Reporter-Treffen, auf dem es um die schwindende Relevanz des Genres ging. Und Heribert Seifert fragt sich kopfschüttelnd, wie Blogger darauf kommen, die Mainstream-Medien hätten zu unkritisch über den G8-Gipfel berichtet oder die Protestler zu wenig beachtet. Das Gegenteil sei der Fall - und fast schon das Problem: "Untersuchungen des Instituts Mediatenor bestätigen die hohen Sympathiewerte der Protestbewegung in den Medien."

FR, 15.06.2007

Robert Kaltenbrunner denkt darüber nach, was Klimawandel, Umweltbezug und Nachhaltigkeit für die Architektur bedeuten. "Green Glamour als private Lebensstiloption für Besserverdienende, das ökologisch hochgerüstete Eigenheim auf der grünen Wiese: Sie mögen, für sich genommen, begrüßenswert sein. Sie bieten aber keine Antwort auf die eigentliche Herausforderung. Nachhaltigkeit funktioniert eben nicht wie die Automobilindustrie mit ihrem so hysterisch wie permanent verkündeten ,neuesten Stand? der Fortentwicklung aller Systeme."

Als "ästhetische Wunderkammer mit politischer Stoßrichtung" ordnet Elke Buhr die Documenta 12 ein. Arno Widmann stellt drei "ruhige" Filme über die Documenta vor, die heute auf Arte und am Samstag auf HR laufen. Hans-Klaus Jungheinrich gratuliert dem Komponisten Rolf Riehm zum siebzigsten Geburtstag. Harry Nutt kommentiert die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den Historiker Saul Friedländer. In Times mager informiert Ina Hartwig über einen Beitrag des Schriftstellers und Büchnerpreisträgers Arnold Stadler in der jüngsten Ausgabe der Neuen Rundschau zum Thema Atheismus: "Die Technik des Schriftstellers in 13 Thesen".

Und auf den aktuellen Seiten fragt sich die Schriftstellerin Tanja Dückers in einer Kolumne, ob der während der WM im vergangenen konstatierte neue Patriotismus angesichts der in Deutschland 2006 auf einen neuen Höchststand angestiegenen rechtsextremen Straftaten tatsächlich ein "grundverschiedener Patriotismus" zu dem in "früheren Dekaden" sei.

Besprochen werden eine Schau des Gesamtwerks von A.R. Penck in der Frankfurter Schirn, das zweistündige "Klangmatsch"-Konzert der Rolling Stones in Frankfurt, Reinhild Hoffmanns Inszenierung des "Tristan" in Bremen und Aharon Appelfelds Roman "Elternland" (siehe dazu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

FAZ, 15.06.2007

Hannes Hintermeier beginnt die Leitglosse so: "Internet heißt Selbstbedienung. Deshalb bedienen wir uns jetzt ausnahmsweise einmal beim Perlentaucher." Und kommentiert den von Rüdiger Wischenbart in seinem letzten Virtualienmarkt. berichteten Fall des MacMillan-Vorstandsvorsitzenden Richard Charkin, der Google-Laptops entwendete, um auf Googles unlizensierte Textentwendungen hinzuweisen. Dieter Bartetzko klagt im Aufmacher darüber, dass bei den Rekonstruktionen in der Frankfurter Innenstadt nicht auf die noch existierenden Originalbestandteile der nun als Kopien nachgebauten alten Gebäude zurückgegriffen wird. Lorenz Jäger porträtiert den Historiker Saul Friedländer, der in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält. Regina Mönch kommentiert ein Gutachten, aus dem hervorgeht, dass die Birthler-Behörde eine Reihe Ex-Stasi-Mitarbeiter beschäftigt. Gerhard R. Koch gratuliert dem Komponisten Rolf Riehm zum Siebzigsten. In einer Meldung wird die gestrige Behauptung der Welt dementiert, das Verfassungsgericht habe für die Verhandlung des Verbots von Maxim Billers Roman "Esra" Gutachten angefordert - diese seien vielmehr unverlangt eingesandt worden. Das in der Welt zitierte Gutachten lässt sich übrigens bei literaturkritik.de nachlesen.

Auf der letzten Seite findet sich ein Interview, das Klaus Lochbihler mit dem Ur-DJ Grandmaster Flash geführt hat. Heinrich Wefing informiert über "sich abzeichnende Wendungen zum Besseren" in Fragen der Finanzierung des Kulturstandorts Weimar. Edo Reents muss sich sehr über die Ex-Familienministerin Renate Schmidt aufregen, die der Sache der Frauen mit einem sechseinhalbminüten Auftritt im Morgenmagazin seiner Ansicht nach wirklich nicht genützt hat.

Besprochen werden die große A.R. Penck-Retro in Frankfurt, ein Klavierabend, den Alfred Brendel in Aldeburgh in der Grafschaft Suffolk gab, das von Jürgen Meyer H. entworfene neue Mensagebäude in Karlsruhe und Bücher, dabei sehr ausführlich der bisher nur in englischer Sprache erschienene letzte Band mit Aufsätzen des in der letzten Woche verstorbenen Philosophen Richard Rorty. Rezensiert werden auch Alona Kimhis Roman "Lilly die Tigerin" und Raoul Schrotts Reisebuch "Die fünfte Welt" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 15.06.2007

Sonja Zekri trifft in Hamburg Polens "finsterstes Fräuleinwunder", die Bestsellerautorin Dorota Maslowska - "ein Gesicht wie ein Kind und ein Stil wie ein verstopfter Abfluss": "Mit 15 fährt Dorota zum ersten Mal ins große Danzig. Ist es ein Wunder, dass sie in Warschau nach Praga zieht, in die Bronx der Hauptstadt, zu Pennern, Drogen, Dreck? 'Ohne Schmerz spürt man sich nicht, ohne Schmerz ist kein künstlerischer Ausdruck möglich', sagt sie, und merkt nicht, wie rührend naiv das klingt. Dorota Maslowska ist nicht die Erste, die sich nach dem Vakuum einer Kindheitsidylle lebensgierig in die Gosse stürzt. Aber in der sauber geharkten Zwangsidylle des Zwillingsreiches finden ihre Milieustudien mit Tourettesyndrom einen Resonanzraum, der sie subversiv und eminent politisch erscheinen lässt. Kein Zweifel: Polen braucht Dorota Maslowska, aber Dorota Maslowska braucht Polen mindestens ebenso sehr."

Weitere Artikel: Franziska Augstein schreibt über den Historiker Saul Friedländer, der in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält. Tobias Kniebe beschreibt, wie Hollywood seine "Seniorhelden" Bruce Willis, Harrison Ford und Sylvester Stallone in bedenkliche Sequels eigentlich abgeschlossener Filmtrilogien treibt. "Big Mother is watching you? ist die Stoßrichtung eines Beitrags von Petra Steinberger, in dem sie beklagt, wie elterliche Übervorsicht den kindlichen Spielraum immer mehr beschränkt.

Jens Bisky informiert über neue Querelen um die Birthler-Behörde und einen klugen SPD-Vorschlag. Stefan Koldehoff kommentiert die Überlassung der Privatsammlung des umstrittenen Treuhänders Herbert Batliner an die Albertina in Wien. Eva Karcher berichtet über die Art Basel, auf der erwartungsgemäß wieder Rekorde gebrochen werden. Ekkehard Müller-Jentsch informiert über ein Gerichtsurteil, wonach die Erben von Richard Strauss die Rechtsnachfolger Hugo von Hofmannsthals auch weiterhin an den Tantiemen partizipieren lassen müssen. Wolfgang Schreiber würdigt Rolf Riehm anlässlich dessen 70. Geburtstags. Gemeldet wird die Nominierung von Bernhard Fischer zum neuen Direktor des Weimarer Goethe-Schiller-Archivs. Und auf Seite Drei beschreibt Holger Gertz den ewigen Kampf der Documenta-Stadt Kassel ums Image.

Besprochen werden eine Inszenierung von Kleists "Amphytrion" am Düsseldorfer Schauspielhaus und der Band "Lessing in Hamburg" von Jan Philipp Reemtsma (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 15.06.2007

Die taz annonciert heute stolz auf Seite eins ihren neuen Online-Auftritt. Aber online war die Kultur erst ganz schön spät!

Brigitte Werneburg liefert erste Eindrücke von der Documenta: "Der museale Charakter, den die documenta 12 an vielen Stellen ausstrahlt, hat nichts mit den gezeigten, inzwischen schon historischen Werkkomplexen kanonisierter Künstler und vor allem Künstlerinnen wie Martha Rosler, Eleanor Antin, Tanaka Atsuko, Yvonne Rainer oder Jo Spence zu tun. Eleanor Antins Kunst des politischen Rollenspiels wirkt noch immer viel zu frisch und frech, um im Keller der Neuen Galerie als merkwürdig gestriges Puppentheater bestaunt zu werden. Überhaupt handelt es sich bei den wieder und neu entdeckten Künstlern und Künstlerinnen um die Charakterdarsteller des Kunstbetriebs, wie man in Hinblick auf die Besetzung von Harvey Keitel als Hauptdarsteller in James Colemans Filminstallation "Retake with Evidence" (2007) sagen möchte. Nein, ihr musealer Charakter hat auch nichts damit zu tun, dass die documenta das Starsystem nicht bedient. Er liegt in der allzu harmonisch-subtilen Abfolge und rein formalen Gegenüberstellung der einzelnen Werke; in der Idee, unbedingt Beziehungen stiften zu wollen, zwischen alter und neuer Kunst, zwischen Abstraktion und Figuration.

Besprochen werden das neue Album "Icky Thump" der White Stripes und die Mixes des DJ Brennan Green.

Der Link zu Tom funktioniert jetzt auch wieder.