Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.05.2007. Die FAZ erwartet von der kommenden Documenta Subtiles. Die taz liefert sich der Wucht der rumänischen Theaterszene aus. Die SZ tanzt den Independance cha-cha. Die NZZ lässt sich von einem Riesenschädel aus Küchenutensilien anstarren. In der Berliner Zeitung gibt Peter Stein Auskunft über sein inszenatorisches Ethos.

Berliner Zeitung, 09.05.2007

Ulrich Seidler unterhält sich mit Peter Stein und Klaus-Maria Brandauer über ihre kommende "Wallenstein"-Inszenierung. Stein gibt auch Auskunft über sein heutiges Regie-Ethos: "Das Wesen der Klassiker besteht darin, dass Bestand hat, was sie sagen. Im Gegensatz zu den Besserwissern aus Wirtschaft, Politik und Journalismus, die sehr vergängliche Ware von sich geben, hat die Kunst die Möglichkeit, über die Zeiten hinweg zu sprechen. Deshalb will ich den Autor sprechen lassen, so weit es geht. Das heißt, so weit, wie wir es heute verstehen können. Dabei gibt es Mittel, das Verständnis zu befördern. Darum muss man sich nur kümmern, und das setzt Interesse voraus. Viel bekommt man auch zusammen mit den Schauspielern heraus, die ein wunderbares kritisches Instrument sind."

FAZ, 09.05.2007

Die "neuesten Filetstücke aus dem Kunstmarkt" wird man auf der kommenden Documenta nicht sehen, annonciert Thomas Wagner in einem Vorbericht zum großen Ereignis, das am 16. Juni beginnt: "Das Plakative, das lässt sich jetzt schon sagen, wird nicht die Stärke der d 12 sein. Sicher wird es nicht wenige im Kunstbetrieb geben, denen das, was und wie es gezeigt wird, zu wenig spektakulär, zu marktfern, zu subtil und zu differenziert vorkommen wird. Weil auch fast alle Stars fehlen werden, könnten die Reaktionen des Betriebs heftig ausfallen. Dass die d 12 Erwartungen enttäuschen, dafür aber einlösen wird, was Catherine Davids documenta 10 nur propagierte, steht fest: eine große Distanz zum Markt. Galeristen und Spekulanten wissen es längst."

Weitere Artikel: Andreas Platthaus verkündet in der Leitglosse das Ende der einst aus Joy Division hervorgegangenen Band New Order. Joachim Müller-Jung gratuliert dem Naturforscher Manfred Eigen zum Achtzigsten. Regina Mönch berichtet, dass der angebliche Islamist Ibrahim al-Zayat letzte Woche auf Einladung Axel Ayyub Köhlers vom "Koordinierungsrat der Muslime" bei der Islamkonferenz hospitierte. Gerhard R. Koch schreibt zum Tod des Musikkritikers Karl Schumann. Dieter Bartetzko gratuliert dem spanischen Architekten Jose Rafael Moneo zum Siebzigsten. Kerstin Holm berichtet von zwei Neue-Musik-Festivals in Moskau. Reiner Burger stellt eine Studie vor, die am Beispiel der Dresdner Semperoper die wirtschaftliche Umwegrentabilität subventionierter Theater für die finanzierenden Städte nachweist.

Auf der Medienseite berichtet Peer Schader über die Schwierigkeiten von RTL, erfolgreiche deutsche Fernsehserien zu produzieren. Und Siegfried Thielbeer schreibt über eklatante Finanzprobleme beim öffentlichen Danmarks Radio in Kopenhagen. Auf der letzten Seite porträtiert Christian Schwägerl den deutsch-amerikanischen Hirnforscher Christof Koch vor, der heute an einem Berliner Symposion zur Gedankenforschung in Berlin teilnimmt. Swantje Karich annonciert den Besuch der iranischen Fußballnationalfrauschaft in Berlin, die hier zwar mit Kopftuch, aber vor gemischtem Publikum spielen wird. Und Joseph Hanimann porträtiert den heute in Kanada lebenden und zum integristischen Katholizismus übergetretenen französischen Autor Maurice G. Dantec.

Besprochen werden die Ausstellung "Im Wirtshaus - eine Geschichte" in Wien, Paul Verhoevens Film "Black Book", eine Ausstellung über Napoleon am Rhein in Minden und Janacek- und Mussorgsky-Opern in Köln und Bonn.

Welt, 09.05.2007

Als "edlen Präsentierteller, auf dem junge Regisseure sich für höhere Aufgaben empfehlen", preist Jeannette Neustadt das Münchner Festival "Radikal jung", das im Übrigen das Berliner Theatertreffen als Talentbörse abgehängt habe. Überraschend tiefgründig findet Peter Zander Paul Verhoevens Nazi-Thriller "Black Book". Sven Felix Kellerhoff gibt historische Hintergrundinformationen zu Widerstand und Kollaboration in den besetzten Niederlanden. Hanns-Georg Rodek staunt, das vier von fünf für den Studentenoscar Nominierten von deutschen Hochschulen kommen. Michael Wenk schreibt zum Tod des Animationsfilmers Curt Linda.

Besprochen werden ein Konzert der Pet Shop Boys, der heute Abend laufende ARD-Film "Nichts ist vergessen" und die Uraufführung von Jose-Maria Sanchez-Verdus "Reise zum Simorgh" in Madrid.

NZZ, 09.05.2007

"So war der Tod noch nie in Venedig", staunt Samuel Herzog angesichts einer Schau zeitgenössischer Malerei und Plastik aus der Sammlung Pinault im Palazzo Grassi in Venedig: "Ein gigantischer Schädel, der mit dunklen Augenlöchern über den Canale Grande starrt - so grimmig, dass den Gondolieri das 'O sole mio' auf den Lippen versiegt. Nur die Japaner kichern seltsamerweise, wenn sie den Totenkopf sehen - vielleicht weil sie schneller als andere durch das Symbolische hindurch die materielle Realität dieses Schreckens erkennen. Denn der Riesenschädel ist aus lauter silbrig glänzenden Küchenutensilien hergestellt: Kannen und Pfannen, Kessel und Schüssel, Dosen und Platten".

Ein spätes Erwachen der französischen Intellektuellen im Präsidialwahlkampf hat Marc Zitzmann beobachtet. In "Torschlusspanik" haben die üblichen Verdächtigen (Helene Cixous, Michel Piccoli, Julia Kristeva, Francois Ozon...) doch noch ihre Stimme erhoben, um 'Alles, nur nicht Sarkozy' zu fordern. Zu spät.

Weiteres: An britischen Universitäten sorgt man sich mehr um die Bedürfnisse reicher chinesischer Studenten als um europäische Ausbildungsharmonie, berichtet Georges Waser in der Reihe über die Folgen des Bologna-Prozesses: "Im Durchschnitt bezahlen 'non-EU students' dreimal mehr als ihre Kommilitonen aus dem EU-Raum." Besprochen werden William Forsythes Tanzstück "Angoloscuro/ Camerascura" in Frankfurt und Bücher, darunter Wilhelm von Wolzogens Tagebuch aus dem revolutionären Paris und Richard Yates' Roman "Easter Parade" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 09.05.2007

Im Gespräch mit Kristin Becker erzählt die Kuratorin Luisa Brandsdörfer von der Theaterszene in Rumänien, die sie als Scout für den Heidelberger Stückemarkt ausgekundschaftet hat. Hier, meint Brandsdörfer, hat alles noch Wucht: "En vogue ist der Westen, etwa Sarah Kane. Es gibt aber inzwischen eine ganz junge Riege von Schauspielern und Regisseuren, die sich DramAcum - Drama heute - nennt und junge rumänische Autoren fördert, indem sie jedes Jahr eine Anthologie der fünf besten Stücke herausgibt. Daraus hervorgegangen ist beispielsweise Peca Stefan, der Shootingstar der Dramatikerszene, der mit seinen 24 Jahren schon über 20 Stücke geschrieben hat. Er ist einer der jüngsten und hat diese brutale Sicht auf die Dinge: Sein Stück 'Rumänien 21' ist eine bitterböse Revue, die holzschnittartig die moralische Korruption einer Familie erst im Kommunismus und dann nach der Wende vorführt."

Weiteres: Beim Sichten der neuen Ausgabe der Zeitschrift "iz3w" stellt Alexander Cammann fest, dass die Bächle in Freiburg noch immer nach links fließen. Zum fünfundzwangzigsten Todestag von Peter Weiss liest Jörg Magenau Neues von und über den Autor. In der tazzwei widmet sich Wilfried Urbe dem anhaltenden Medienhype um die RAF. Und im Interview sagt Ex-Innenminister Gerhart Baum dazu: "Wer ist denn Christian Klar, dass man sich maßlos über seine Äußerungen in einem im Grunde zu vernachlässigenden Grußwort erregt? Ein kaputter Mensch, der sein Leben durch schreckliche Taten verpfuscht hat."

Und noch Tom.

FR, 09.05.2007

Gundula Werger hat den Urenkel von Thomas Mann, Stefan Mann getroffen, der 1988 in die DDR gezogen war. Volkmar Sigusch versichert uns, dass Erotik und Sexualität nicht genetisch bedingt, sondern Kunstwerke sind. In Times Mager berichtet Christian Thomas kurz von einem Skandal um Santiago Calatravas 10 Millionen Euro teure, 94 Meter lange Brücke zwischen dem Bahnhof von Venedig und der Piazzale Roma: "Finanziell falsch kalkuliert, statisch falsch berechnet: Das ist das Ergebnis für einen Architekten, der weltweit als ein Star unter den Brückenbauern gilt." Besprochen werden die Inszenierungen von Jelineks "Über Tiere" und Handkes "Spuren der Verirrten" in Wien.

SZ, 09.05.2007

Auf der Schallplattenseite stellt Klaus Frederking eine CD-Reihe mit afrikanischem Pop vor. Kennen Sie den Kongo-Rumba? Der entstand so. "Afrika tanzt. Andauernd. Mit und ohne Grund. Einen unorthodoxen Beweis, dass in jedem Klischee auch ein wahrer Kern stecken kann, erbrachte Patrice Lumumba im Januar 1960. Im Brüsseler Hotel Plaza verhandelte er mit den Kolonialherren über die Unabhängigkeit des Belgisch-Kongo. Alles lief bestens, und so ließ er, der spätere Ministerpräsident, das Orchester African Jazz einfliegen. Die beste Band der Nochkolonie spielte siegestrunken im Foyer, und ihr Sänger Joseph Kabasele jubilierte: 'Am Runden Tisch, cha-cha, da haben wir gewonnen.' Der Kongo tanzte. Der 'Independance cha-cha' verbreitete sich als Hymne einer neuen Ära in fast ganz Afrika - und, in seinem Schlepptau, eine Melange, die bald als 'rumba congolaise' firmierte. Kuba trug dabei den größten Anteil zu dem neuen Genre bei, die Rumba eben. Doch zu den Zutaten zählten auch französische Schlager, etwa von Kabaseles unverkennbarem Vorbild Tino Rossi, der Schmalzlocke aus Korsika. Die Musik wirkte stammes-, ja länderübergreifend, darin bestand ihre große Stärke."

Weitere Artikel: In Spanien ist ein "regelrechter Kulturkampf" um den Auftritt des Gastlandes Katalanien bei der Frankfurter Buchmesse entbrannt: Das katalanische Kulturinstitut Ramon Llull will nämlich nur katalanische Schriftsteller nach Frankfurt einladen, die auch tatsächlich auf Katalanisch schreiben, berichtet Ijoma Mangold. Dorion Weickmann hat im Potsdamer Einstein-Forum einem Vortrag des Kulturhistorikers Frank Mort über die Profumo-Affäre gehört. Anselm Kiefer zieht nach Paris und überlässt sein riesiges Atelier in der Provence der Guggenheim-Stiftung, berichtet Holger Liebs. Alexander Menden berichtet von einer Konferenz in Oxford zum "Neuen Antlitz des US-Kapitalismus". Es diskutierten Paul Krugman, Amartya Sen, Timothy Garton-Ash, Tony Judt und Richard Sennett. (Gero von Randow hat in der Zeit darüber geschrieben.)

Für das Cartoon-Projekt hat diesmal der französische Cartoonist Laurent Cilluffo eine Seite gestaltet.

Besprochen werden Paul Verhoevens Film "Black Book" über die Kollaboration der Niederländer während der deutschen Besatzung (dazu gibt's ein Interview mit dem Regisseur, der erklärt, nein, der Film habe keine Debatte ausgelöst, er sei "allgemein akzeptiert" worden), die CD "Les Noces de Dada" (eine "meisterhaft gelungene" Frank-Zappa-Hommage aus dem Elsass, behauptet Karl Lippegaus), Friederike Hellers Inszenierung von Peter Handkes Theaterstück "Spuren der Verirrten" am Wiener Burgtheater ("Sie verhält sich zum Text wie ein Schlüsselkind, das sich zu Hause das Essen aufwärmt und dabei die alten Konzeptalben aus dem Plattenschrank der abwesenden Elterngeneration Handke durchhört. Und feststellt: Da ist Musik drin! Kein Schmock! Art-Rock!", schreibt Christopher Schmidt), Siegfried Matthus' "Cosima"-Oper in Braunschweig und Bücher, darunter Derek Walcotts Reisegedicht "Der verlorene Sohn" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).