Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.04.2007. In der Welt bezeichnet die ukrainische Autorin Oksana Sabuschko die Demonstrationen der Blauen in Kiew als "Simulakrum dritter Ordnung". In der SZ versichert Juri Andruchowytsch: Auch wenn die orangene Revolution ihre Mehrheit im Parlament verloren hat, so besteht sie im Volke fort. Im Standard beklagt Andre Glucksmann die arg rustikalen Züge der französischen Politik. In der Berliner Zeitung erklärt Wolf Biermann, warum ihm das Wort rot-rot im Munde wehtut wie ein Zahnschmerz. Die NZZ kritisiert Zygmunt Baumans schüchterne Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit.

NZZ, 10.04.2007

Uwe Justus Wenzel kommentiert das Schweigen des postmodernen Ethikers Zygmunt Bauman zu seinen recht tiefen Verstrickungen in den kommunistischen Geheimdienstapparat im Nachkriegspolen: "Als Bauman im Herbst 1998 den Adorno-Preis entgegennahm, sprach er, beiläufig fast, von der 'Erlösung von den Hoffnungen der Vergangenheit'. Wie man um solche Erlösung kämpfe - das, unter anderem, habe er von Adorno gelernt. Dieser Kampf Zygmunt Baumans, so will es scheinen, ist noch nicht zu Ende gekämpft." (Hier ein taz-Interview mit Bauman, auf das Wenzel in seinem Artikel verweist.)

Weitere Artikel: Frank Wittmann beschreibt in einem "Schauplatz Haiti" ein trotz aller Widrigkeiten erstaunlich reges Kunst- und Musikleben auf der Insel. Simon Baur und Samuel Herzog schreiben den Nachruf auf den amerikanischen Künstler Sol LeWitt. Andreas Breitenstein feiert Roberto Bolanos jetzt übersetztes "Chilenische Nachtstück" über die Rolle der Literatur in der geschüttelten jüngsten Geschichte des Landes ("Selten ist der Schrecken der schönen Literatur so liebevoll entlarvt und bitter gefeiert worden"). Besprochen werden Bücher, darunter Schriften Jacques Derridas in deutscher Übersetzung.

Berliner Zeitung, 10.04.2007

Im Gespräch mit Renate Oschlies erzählt Wolf Biermann, wie es sich als Ehrenbürger von Berlin lebt ("Ich darf umsonst mit der Bahn fahren. Zweitens, ich kriege das Amtsblatt, kos-ten-los, das heißt, ich weiß vor allen anderen, ob die Hundesteuer erhöht wird in Berlin), warum ihn das aber trotzdem nicht besänftigt: "Na ja, verbrecherisch war natürlich 'ne Verharmlosung. Es ist schlimmer als ein Verbrechen, nach meiner Meinung, dass die demokratische Partei SPD sich mit den Erben der Nomenklatura ins Bett der Macht legt in der Hauptstadt Deutschlands. Das fand ich schon immer politisch obszön, das habe ich in Prosa und auch in Gedichten gelegentlich gesagt. Und nur weil ich jetzt 'ne Ehrenbürgerschaft überreicht kriege, die ja nicht von dieser rot-roten Regierung verliehen wird, sondern von den Abgeordneten des Berliner Parlaments, kann ich meine Meinung ja nicht ändern. Wobei schon das Wort Rot-Rot mir im Munde wehtut wie ein Zahnschmerz. Denn die SPD ist nicht rot, sondern rosa, immer gewesen, und die PDS ist schwarz, reaktionär."

FAZ, 10.04.2007

Der Klimaforscher Stefan Rahmstorf widerspricht seinem Kollegen, dem Paläoklimatologen Augusto Mangini, der in der FAZ vom letzten Donnerstag Einspruch gegen den Weltklimabericht erhoben hatte. Rahmstorf zweifelt nicht an der Seriosität Manginis, aber an den Schlüssen, die dieser aus Beobachtungen an Stalagmiten zieht: "Mit Rückschlüssen von wenigen Regionen auf ein globales Mittel sollte man sehr vorsichtig sein. Mangini mag von der korrekten Eichung und der globalen Bedeutung seiner Daten überzeugt sein - die Mehrzahl der Fachkollegen hat er bislang nicht überzeugen können."

Weitere Artikel: In der Glosse informiert Jürg Altwegg über Schwarzfahren und andere Verkehrsdelikte von Immigranten und zukünftigen Präsidenten in Frankreich. Von einer Jerusalemer Tagung über das deutsche Erbe in Israel berichtet Jörg Bremer. Aus Venedig informiert Dirk Schümer über die Einigung über ein Museum für moderne Kunst. Jürgen Kaube würdigt zu dessen siebzigstem Geburtstag den streitbaren Kantianer Reinhard Brandt, Patrick Bahners gratuliert dem Historiker Wolfgang Reinhard ebenfalls zu dessen Siebzigstem. Thomas Wagner schreibt den Nachruf auf den Konzeptkünstler Sol LeWitt, Lorenz Jäger den auf den Historiker Werner Maser. Auf der letzten Seite berichtet Michael Gassmann aus dem spanischen Cuenca, wo er die "Woche der religiösen Musik" miterlebt hat. Joseph Hanimann porträtiert den französischen Theaterregisseur Bernard Sobel, der nach vierzig Jahren am Pariser "Theâtre de Gennevilliers" seinen Abschied genommen hat.

Besprochen werden eine Ausstellung über kaiserliches Elfenbein in Wien, ein Konzert der schwedischen Musikerin Sophie Zelmani, Inszenierungen von Donizettis "Fille du regiment" und Händels "Cesare" in Wien, und ein Buch, Galsan Tschinags Roman "Die neun Träume des Dschingis Khan" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Standard, 10.04.2007

Andre Glucksmann erklärt im Interview, warum er Nicolas Sarkozy wählen wird: "Ich verspreche mir von ihm eine energische Entscheidung. Warum diese notwendig ist, verdeutlicht ein Blick aus Frankreich auf Deutschland: Da haben wir zwei Nachbarländer, beide mit einer sozialen Marktwirtschaft. Beide müssen das System verbessern, es braucht Einschnitte. Ich konstatiere: Deutschland macht das viel besser. Die Armut ist nicht so ausgeprägt, und das Land hat immerhin 16 Millionen 'Ossis' absorbiert... Segolene Royal sagt: Fünf Jahre sind genug. Sarkozy sagt: Dreißig Jahre sind genug." Und Francois Bayrou? "Bayrou betont immer wieder, dass seine Wurzeln auf dem Land sind. Bei Proust lernen wir aber: Leben auf dem Dorf heißt auch Grausamkeit, Gerede, Kontrolle. Bayrou verkörpert eine Nostalgie. Nicht das Filmfestival in Cannes ist das wichtigste Festival in Frankreich, sondern der Landwirtschaftliche Salon. In Frankreich waren die Historiker immer das, was in Deutschland die Philosophen sind. Seit Michelet leben wir mit einer imaginären Vergangenheit. Davon lebt Bayrou."

Welt, 10.04.2007

Als "Simulakrum dritter Ordnung" beschreibt die ukrainische Autorin Oksana Sabuschko die Demonstrationen herangekarrter "Blauer" auf dem Majdan in Kiew, mit denen die Orangene Revolution von ihren Gegnern nachgeäfft werde: "Doch der traurigste Anblick bietet sich, wenn die 'blauen' Politiker von der Bühne herunter zu den Leuten reden: Die Antwort ist verdutztes Schweigen. Dieser schweigsame Majdan - oben die Bühne mit den Lautsprecheranlagen, unten die stumme Masse - ist eine so grelle Metapher für die Beziehung zwischen Sowjetmacht und Sowjetvolk, dass man an ein groteskes Happening glauben möchte oder an einen avantgardistischen Film, der 'Good Bye, Lenin 2' heißen könnte."

Weitere Artikel: Matthias Heine bespricht Günther Rühles deutsche Theatergeschichte. Uta Baier schreibt zum Tod von Sol Le Witt. Hendrik Werner verteidigt in der Leitglosse Google gegen Vorwürfe des Monopolismus. Michael Loesl unterhält sich mit Joe Cocker über sein neuestes Album. Besprochen werden außerdem einige DVDs.

Auf der Magazinseite interviewt Uli Kulke den Autor und Doyen der Diplomaten Erwin Wickert, der seine Karriere schon unter den Nazis begann.

FR, 10.04.2007

Ulf Erdmann Ziegler schreibt zum Tod des Künstlers Sol LeWitt. In Times Mager freut sich Arno Widmann über eine Leserin, die sich an der Zeitung von gestern freut. Besprochen werden eine Ausstellung von Anselm Kiefer im Guggenheim Bilbao und Hans Neuenfels' Inszenierung von Brechts "Baal" in München ("Es fehlt ihr an Fleischlichkeit", kritisiert Christine Diller).

TAZ, 10.04.2007

Brigitte Werneburg hat sich die Berliner Doppelausstellung zum Thema "Schmerz" angesehen - und findet weder den medizinhistorischen noch den künstlerischen Teil ganz überzeugend: "Zu einem klärenden Bild jedenfalls fügen sich die Erzählungen nicht. Das gilt auch für 'Schmerz' insgesamt. Anders als in der Melancholie-Ausstellung fügen sich die Exponate nicht zu einem übergreifenden Panorama des Schmerzes als Gegenstand von Wissenschaft, Kunst und Religion. Mit rund 100 Exponaten geht 'Schmerz' das Projekt einfach zu bescheiden an."

Weitere Artikel: Cristina Nord staunt über Ähnlichkeiten zwischen dem im Iran für Entsetzen sorgenden Spartaner-Comicfilm "300" und einem schwulen Ostertreffen. Alexander Cammann hat die aktuelle Ausgabe der Neuen Rundschau gelesen, die sich dem Thema "Historische Stoffe" widmet. In der "Berliner Ökonomie" denkt Helmut Höge über steigende Mieten in Berlin nach.

In der zweiten taz erzählt derselbe Helmut Höge die Geschichte der Glühbirne. Georg Löwisch unterhält sich mit dem Kriminalautor Oliver Bottini über den verstorbenen Ministerpräsidenten Hans Filbinger, den Bottini zur Romanfigur gemacht hat. Stefan Kuzmany erklärt, warum er neue Gabeln braucht.

Besprochen werden Bücher, nämlich Josef Haslingers Bericht über den Tsunami "Phi Phi Island" und die gezeichneten Shakespeare-Meditationen "Hamlet_X - Interpolierte Fressen" des Schauspielers Herbert Fritsch (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und hier noch Tom.

SZ, 10.04.2007

Im Interview mit Thomas Steinfeld spricht der ukrainische Autor Juri Andruchowytsch über die sich zuspitzende Lage in seinem Land. Er findet die Entscheidung von Präsident Viktor Juschtschenko, das Parlament aufzulösen, richtig: "In den vergangenen zwei Jahren ist, entgegen den Idealen der 'orangenen Revolution', die Politik in ihrer schmutzigen, amoralischen Form zu uns zurückgekehrt. Die einzige Möglichkeit, die daraus entstehenden Konflikte - Konflikte, die sich in den vergangenen Wochen ja sehr verschärften - grundsätzlich zu klären, besteht darin, sie vom Volk entscheiden zu lassen. Und wir werden sehen, dass Politiker, die sich besonders verräterisch verhalten haben, also etwa die Sozialistische Partei mit ihrem Vorsitzenden Oleksander Moros, in einem zukünftigen Parlament keine große Zukunft mehr haben werden... Auch wenn die Revolution ihre Mehrheit im Parlament verloren hat, so besteht sie im Volke fort. Es ist keine große Mehrheit, aber sie reicht aus."

In der Reihe zu den Megacities schreibt diesmal Amir Hassan Cheheltan über Teheran: "Vielleicht könnte man Teheran folgendermaßen charakterisieren: gewaltig, aber unter totaler Kontrolle von Smog und Lärm, voller Ramsch und Kitsch, voller kleiner Verbrechen, großer widersinniger Leichtfertigkeiten und politischer Torheiten. Diese Stadt ohne Erinnerung, die kaum alte Gebäuden hat, infiziert ihre Einwohner mit dem Virus der Nostalgie! Teheran besitzt eine Million Häuser, und noch haben die Ästheten und Psychologen nicht feststellen können, ob diese Bauten den Denkstrukturen der Teheraner entsprechend - oder im Widerspruch zu diesen errichtet worden sind."

Weiteres: Benedikt Sarreiter bemerkt eine Rückkehr zur Wehranlage in der Architektur. Christoph Haas trifft einige der wenigen Autorinnen, die es in Deutschlands marginaler Comic-Szene gibt. Kia Vahland schreibt den Nachruf auf den großen Mitbegründer der Minimal-Art Sol LeWitt.

Besprochen werden Jonathan Doves Diana-Oper "When She Died" in Wien, die Uraufführung von Laura de Wecks "Lieblingsmenschen" in Basel, Agnieszka Hollands Film "Copying Beethoven" und Bücher, darunter Lilian Faschingers Roman "Stadt der Verlierer" und Neuerscheinung zur Weimarer Herzogin Anna Amalia (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).