Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.04.2007. In der NZZ fragt Abdelwahab Meddeb: Warum sollte Europa das Kopftuch akzeptieren, wenn es gegen seine Werte verstößt? Ebenfalls in der NZZ hält Richard Wagner ein Plädoyer für den rumänischen Autor Vintila Horia. Im Standard warnt Slavoj Zizek vor einer Normalisierung von Folter im Westen. In der taz wendet sich Diedrich Diederichsen sowohl gegen Museumsinseleingangsgebäudeneubauentwurfsstürmer als auch gegen die Mainstream-Hipster unter ihren Verächtern. Die SZ ergötzt sich nochmals am bürgerlich-höfischen Konnubium im klassischen Weimar.

NZZ, 02.04.2007

Im Interview mit Beat Stauffer äußert sich der große tunesische Intellektuelle Abdelwahab Meddeb auch indirekt zur europäischen Multikulturalismusdebatte: "Mir scheint, bezüglich des Multikulturalismus müssten wir vorsichtig sein. Natürlich ist es sehr wichtig, dass wir uns in Europa mit anderen Kulturen und deren Werten auseinandersetzen. Doch der Multikulturalismus ist keine 'auberge espagnole', kein Ort, wo jeder tun und lassen kann, was er will. Es darf nicht sein, dass die grundlegenden Werte verschwinden. Wir müssen genau hinsehen, was die Dinge bedeuten. Der Schleier ist ein Zeichen. Was bedeutet dieses Zeichen? Wenn dieses Zeichen gegen meine eigenen Werte verstößt, weshalb soll ich dann dieses Zeichen akzeptieren?"

Der rumäniendeutsche Schriftsteller Richard Wagner hält ein Plädoyer für den rumänischen Autor Vintila Horia, der ähnlich wie Cioran oder Mircea Eliade faschistische Sympathien gehegt hatte und nach dem Krieg von Zeitungen wie L'Humanite mit Securitate-Material für das westliche Publikum unmöglich gemacht wurde: "Gewiss, Horia hat in den dreißiger Jahren Artikel wie 'Das faschistische Wunder' veröffentlicht, und er hat sie zu verantworten. Was aber haben seine ideenreichen historischen Romane der sechziger Jahre, deren Protagonisten Ovid, Boethius oder Platon sind und die das große Thema des Exils als Existenzform verhandeln, damit zu tun? Es ist ungefähr so, als würde man 'Sein und Zeit' nicht zur Kenntnis nehmen, weil Heidegger sich mit den Nazis eingelassen hat, oder Celines 'Reise ans Ende der Nacht' nicht drucken wegen seiner 'Bagatelles pour un massacre' und seiner Rolle in Vichy."

Der Basler Biochemiker Gottfried Schatz beschreibt in der Reihe "Lebensfragen", wie sich unser Erbgut im Kampf gegen Viren stählte ("Viren sind keine Lebewesen, sondern wandernde Gene, die sich zu ihrem Schutz mit Proteinen und manchmal auch noch mit einer fetthaltigen Membran umhüllen. Da sie keinen eigenen Stoffwechsel besitzen, müssen sie in lebende Zellen eindringen, um sich zu vermehren. Einige von ihnen - die Retroviren - schmuggeln dabei sogar ihr eigenes Erbgut in das der Wirtszelle ein.") Roman Hollenstein besucht eine Ausstellung über das Architekenduo Sanaa (Bilder) und schreibt nebenbei eine kleine Hymne auf die hippe Stadt Antwerpen, wo die Ausstellung stattfindet.

Besprochen werden außerdem "Die Gottlosen" von Paul Claudel am Maxim-Gorki-Theater Berlin und ein Konzert des Tonhalle-Orchesters Zürich mit Bach, Beethoven und Kurtag unter David Zinman.

Standard, 02.04.2007

Nach den wohl auch durch Folter erzwungenen Geständnissen Khalid Shaikh Mohammeds in Guantanomo warnt der Philosoph Slavoj Zizek vor einer Normalisierung von Folter in Diskurs und Praxis: "Sind wir uns darüber bewusst, was am Ende der Straße liegt, die wir durch die Normalisierung von Folter geöffnet haben? Eine wichtige Einzelheit aus Mohammeds Geständnis gibt uns einen Hinweis. Es wurde berichtet, dass die Vernehmungsbeamten sich selbst dem 'waterboarding' unterzogen und die Behandlung weniger als durchschnittlich 15 Sekunden lang aushielten, bevor sie bereit waren, alles und jedes zu gestehen. Mohammed gewann jedoch ihre widerstrebende Bewunderung dafür, dass er der Prozedur zweieinhalb Minuten lang standhielt."
Stichwörter: Folter, Zizek, Slavoj

Welt, 02.04.2007

Anneke Bokern berichtet, dass am Mittwoch in den Niederlanden die Frist abläuft, Rückgabeanträge für geraubte Kunst zu stellen. Im Interview mit Peter Beddies spricht Regisseur Zack Snyder über seinen Spartaner-Film "300": "Ja, es ist ein sexy Film." In der Randglosse verarbeitet Rainer Haubrich, dass der Bundeswehr die Militärmusiker ausgehen: "Besonders dringend gesucht würden Oboisten und Fagottisten."

Besprochen werden Stefan Bachmanns "starke" Inszenierung von Paul Claudels "Die Gottlosen" am Berliner Maxim-Gorki-Theater, eine Retrospektive des Vitra Design Museums auf die Wohnausstellungen des 20. Jahrhunderts, eine Schau mit Bildern aus der Zeit der Großen Depression in den USA im Frankfurter Fotografie Forum und eine Aufführung von "Einer von flog übers Kuckucksnest" in Schwerin mit DDR-Häuptling Gojko Mitic.

FR, 02.04.2007

"Nicht schön, nicht hässlich" findet Martin Dahms Rafael Moneos (mehr) Erweiterungsbau des Prado. Daniel Kothenschulte offenbart in einer Times mager, wie er Gianna Nannini beim Italiener getroffen hat.

Besprochen werden noch ein Auftritt von Brian Ferry in der Alten Oper Frankfurt und Stefan Bachmanns Inszenierung von Paul Claudels Trilogie "Die Gottlosen" am Berliner Maxi, Gorki-Theater.

TAZ, 02.04.2007

Diedrich Diederichsen rechnet mit den "Bürgerdarstellern" ab, die sich vornehmlich in Berlin als Kulturförderer inszenieren. "Das könnte so klingen, als wäre die Promi-Neobürger-Konvergenz ein rein gestrig-reaktionäres Phänomen, indem sich Boulevardgeschmack und Alt-Westberliner Kulturkämpfer-Seilschaften gegen die Moderne stemmen. Mitnichten. Die Museumsinseleingangsgebäudeneubauentwurfsstürmer mit all den Barings, Siedlers und ihrem Junior inter pares Günther Jauch sind nur die eine Seite der Allianz. Die, die wirklich ins 19. Jahrhundert zurückwollen und dafür aus ihrer Sicht gute Gründe haben. Die andere Seite repräsentiert die Allianz aus Mainstream-Hipstern und Hipster-Promis hinter der Partnerschaft des Berliner Architekturbüro Graft mit ihrem Freund und Kunden Brad Pitt und deren Sympathieerfolgen bei dem Promi-begeisterten Kulturpolitiker Klaus 'Red Carpet' Wowereit. Hier ist nicht das 19. Jahrhundert Gegenmodell zu Argument, Kritik und Konzeptualismus, sondern die schweifend schwelgende Sinnlichkeit des vermeintlichen 21."

Dazu weiß Brigitte Werneburg, dass Adrienne Goehler für ihr Projekt "Art Goes Heiligendamm" noch Sponsoren sucht. In der zweiten taz kommentiert Patrick Hemminger die provokative Anti-Aids-Kampagne der Michael Stich Stiftung. Auf der Medienseite mokiert sich Frieder Bechtel über die deutsche Langsamkeit beim Handy-TV.

Eine Besprechung widmet sich Stefan Bachmanns Version von Paul Claudels Trilogie "Die Gottlosen" am Berliner Maxim Gorki Theater.

Und Tom.

SZ, 02.04.2007

In einer Weimarer Ausstellung erlebt Gustav Seibt freudentrunken noch einmal die Geburtsstunde der deutschen Klassik. "Das bürgerlich-höfische Konnubium, das der soeben zur Regierung gelangte, erst 18 Jahre alte Herzog Carl August mit seinen neuen Künstlerfreunden, allen voran dem Frankfurter Bestsellerautor Goethe, einging, entbehrte aller formellen Umständlichkeit. Bei seiner Mutter, der ebenfalls noch jugendlichen Herzogin Anna Amalia, saß man bei Kerzenschein um einen runden Tisch auf kippelnden Stühlen. Wenn man sich fragt, was die Weimarer Sternstunde am Ende des 18. Jahrhunderts von den vergleichbaren Höhepunkten der Kulturgeschichte - Athen im fünften Jahrhundert, das augusteische Rom, Florenz im Quattrocento, Rom in der Hochrenaissance, dem Hof Ludwigs XIV. - unterscheidet, dann kommt man auf einen unschätzbaren Vorzug: Intimität."

Javier Caceres bejubelt Rafael Moneos umfangreichen aber dezenten Erweiterungsbau des Prado in Madrid. "Vom Vebindungsstück gelangt man über einen Tunnel zu dem umschmeicheltsten Kernstück der Expansion: das Sankt-Hieronymus-Kloster. Die Reste seiner zuletzt fortschreitend verfallenden Fassade wurden Stein für Stein abgetragen, restauriert und unter einem lichtdurchfluteten Kubus wieder aufgebaut. Drei Stockwerke tief gehen die Ausstellungsräume, in die viel natürliches Licht einfällt."

Weitere Artikel: Wolfgang Schreiber porträtiert Christoph Lieben-Seutter, den designierten Generalintendanten der Hamburger Elbphilharmonie. Bei der Ausstellung "Blicke auf Europa" ließ die Regierung den ursprünglich geplanten unangenehmen Teil mit Nationalsozialismus und RAF einfach weg, berichtet Claudia Bolesch. Bei Fender gibt es jetzt Gitarren im Gebrauchtlook, berichtet Thomas Steinfeld fasziniert von der Frankfurter Musikmesse. Der Berner Historiker kommentiert Zack Snyders Film "300", Tobias Moorsted liest Frank Millers Comic-Vorlage.

Besprochen werden die Aufführung von Wagners "Rheingold" durch die Berliner Philharmoniker mit Simon Rattle als Dirigent und Stephane Braunschweig als Regisseur bei den Salzburger Osterfestspielen, Stefan Bachmanns "diffus zeitkritische" Inszenierung von Paul Claudels Dramen-Triptychon "Die Gottlosen" am Berliner Maxim Gorki Theater, Auftritte des Mariinsky-Balletts in München, und Bücher, darunter Navid Kermanis Roman "Kurzmitteilung" (hier eine Leseprobe), Ashley Kahns Geschichte des Jazz-Labels "Impulse!" und Anne Siemens Untersuchung "Für die RAF war er das System, für mich der Vater" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 02.04.2007

Im Aufmacher erinnert sich der frühere FAZ-Herausgeber Johann Georg Reißmüller unter dem Titel "Im fremden Deutschland" an seine Umsiedlung und die Ankunft in der neuen, fremden Heimat DDR. Nach Günter Grass' Ankündigung, seinen Bürgermeisterwahlkampf zu unterstützen, lästert "igl": "Womit hat Michael Naumann das nur verdient?" Über die Gründung einer arabischen Sprachakademie in Israel freut sich "croit". Von nun zugänglich gewordenen Briefen Ernest Hemingways an Marlene Dietrich, in denen es unter anderem darum geht, unter Wasser Liebe zu machen, aber nicht mit ihr, berichtet "J.M.". Edo Reents gratuliert der Country-Musikerin Emmylou Harris zum Sechzigsten. Paul Ingendaay stellt den vom Architekten Rafael Moneo entworfenen Erweiterungsbau des Prado vor. Camilla Blechen war, wie sie auf der letzten Seite berichtet, dabei, als in Schloss Glienicke Helmut Börsch-Supan seine Studie über die Bildwerke Karl-Friedrich Schinkels präsentierte. Joseph Hanimann ist nach Nantes gereist, wo man sich mit der Restaurierung des Bretonen-Schlosses sehr selbstbewusst gibt.

Auf der Sachbuchseite stellt derselbe Joseph Hanimann eine französische Neuerscheinung vor, die sich mit des Papstes umstrittener Regensburger Rede beschäftigt. Rezensionen gibt es auch zu einer Kulturgeschichte der Zauberkunst, einem Band über Geopolitik, Jean Bollacks Celan-Studie "Dichtung wider Dichtung" und Peter Ackroyds "Shakespeare"-Biografie (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Besprochen werden eine Ausstellung im Dresdener Hygiene-Museum zur Kulturgeschichte von "Schlaf und Traum", Bettina Oberlis Film "Die Herbstzeitlosen", die Broadway-Version von Joan Didions Buch "Das Jahr magischen Denkens" mit Vanessa Redgrave, Händel-Opern in Nizza und Genua, die Mannheimer Uraufführung von Herbert Achternbuschs Stück "Kopf und Herz" und ein Konzert mit Ian O'Brien-Docker (den "rik" als Robbie Williams von morgen feiert).