Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.03.2007. In der NZZ erlebt Jenny Disky das Second Life als bloße Wiederholung des Real Life: Konsum, Profit und politische Apathie. In der Welt beschreibt Peter Zilahy das Wetter als Drahtzieher deutscher Geschichte. Die SZ betrachtet skeptisch die blühende arabische Bloggerszene, in der inzwischen die Islamisten meinungsführend sind. Die taz diagnostiziert eine deutsche Unfähigkeit zum Debattenfortschritt. Die FR erkennt bei Claus Peymann auf politische Unterkomplexität

NZZ, 03.03.2007

In Literatur und Kunst berichtet die Autorin Jenny Diski von ihrem maßlos enttäuschenden Selbstversuch mit dem Online-Spiel "Second Life": "Ich hätte nicht überrascht sein dürfen - aber ich war es -, dass es in dieser alternativen Welt ein materielles Leben und eine Wirtschaft gibt, die unseren hiesigen Lebensumständen ungemütlich ähnlich sehen.. 'Second Life' ist nichts als Wiederholung. Es ist eine virtuelle Welt des Kaufens und Verkaufens, von Konsum und Profit, üppigem Dekor und politischer Apathie. Was Sie in dieser alternativen Welt kriegen, sind Kasinos, Stripteaselokale, Häuser, Wohnaccessoires, Kleider, Schmuck, Autos, Motorräder und Läden, in denen all diese Dinge an Cartoon-Figuren verkauft werden."

Außerdem: Andrea Gnam versucht die von der Fotografie ausgehende "anhaltende Verstörung" zu fassen. Anton Holzer berichtet von der Wiederbelebung der Daguerreotypien. Im Interview mit Thomas David spricht der irische Autor Colum McCann über die Literatur und die "universelle Währung" von Geschichten.

Und das Feuilleton: Naomi Bubis hält die Aufregung um die von britisch-jüdischen Intellektuellen lancierte Initiative "Independent Jewish Voices" (IJV) nicht der Aufregung wert: "Inhaltlich sind die Aussagen des IJV eher dünn. Die Initiative plädiert für gleiche Rechte von Palästinensern und Israelis, bemängelt die hoffnungslose Situation der Palästinenser im Westjordanland, ist gegen unilaterale israelische Schritte, tritt für ein Ende der Besatzung und diplomatisch ausgehandelte Abkommen ein. Als Plattform einer neuen Bewegung sind dies nicht gerade revolutionäre Gedanken. Ihren medialen Effekt erzielt die Gruppe einzig durch die Tatsache, dass die Unterzeichner prominente Juden sind."

Andrea Köhler besucht in New York den Autor Louis Begley, dessen neuer Roman "Ehrensachen" gerade erschienen ist: "Was ist so furchtbar am Schreiben? Nun, es sei eben 'einfach sehr schwierig, die Worte in der richtigen Reihenfolge aufs Papier zu bekommen und dabei etwas zu sagen, was es wert ist, gesagt zu werden'."

Besprochen werden eine Ausstellung mit Fotografien von Kurt Wyss im Basler Museum Tinguely, die Erzählungen "Die Welt des Jan Himilsbach", Irene Disches Prosaband "Lieben", einige Beispiele der boomenden Ars-Vivendi-Literatur, Daniel Glattauers E-Mail-Roman "Gut gegen Nordwind" und Colum McCanns Roman "Zoli" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 03.03.2007

Sonja Zekri informiert über den arabischen Internet- und Blog-Enthusiasmus: "Die Bloggerszene gedeiht. Nach Schätzungen der Initiative for an Open Arab Internet hat sich allein in Saudi-Arabien die Zahl der Blogger seit Beginn 2006 verdreifacht, heute liegt sie bei mehr als 2000. Insgesamt, so die gängigsten Schätzungen, gibt es etwa 40.000 arabische Webtagebücher, und sogar ein arabisches Wort für die, die sie schreiben: mudawen. 'Die Zahl der arabischen Blogger mag im internationalen Vergleich überschaubar sein, aber ihr Einfluss und ihre Popularität übertreffen alle Erwartungen', schwärmt Gamal Eid vom Arabic Network for Human Rights Information." Zekri selbst ist da skeptischer und stellt fest: "In den arabischsprachigen Blogs haben inzwischen islamistische Stimmen die Meinungsführerschaft."

Weitere Artikel: Im Interview spricht Robert Storr, Direktor der diesjährigen Kunstbiennale von Venedig, über seine Pläne: "Es wird keine toten alten Meister geben. Keinen Beuys, keinen Beckett wie beim letzten Mal. Ich will eine Ausstellung über lebende Kunst machen." Im siebten Teil der Serie über die Megacitys schreibt Fabrice d'Almeida über Paris. Jens Bisky berichtet von der Beerdigung des Kunstsammlers Heinz Berggruen. Lothar Müller war bei einer Veranstaltung zugegen, auf der die Stipendiaten der Villa Massimo ihre Arbeiten vorstellten. Jörg Königsdorf porträtiert den Dirigenten Stefan Melzew, der in Neubrandenburg "die Tristesse des Ostens besiegt". Die Übergabe von Jörg Immendorffs Kanzlerporträt an Gerhard Schröder kommentiert Manfred Schwarz.

Besprochen werden Herbert Grönemeyers neues Album "Zwölf", Dave Meyers Film "The Hitcher", Anna Teresa De Keersmaekers Choreografie "Steve Reich Abend" und Jerome Deschamps Pariser Inszenierung von Eugene Labiches Farce "Die Affäre in der Rue de Lourcine". Nicht besprochen wird das neue Album von Axl Rose ("Guns'n'Roses"), weil es, wie Carolin Pirich berichtet, mal wieder nicht zum angekündigten Termin erscheint.

Auf der Literaturseite finden sich Rezensionen zu Zygmunt Haupts Erzählungen und Skizzen "Vorhut", dem Briefwechsel Albert Schweitzers und zu Tommy Wieringas Roman "Joe Speedboat" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages).

Im Aufmacher der SZ am Wochenende kann sich Rayk Wieland nach Einsichtnahme in seine Stasi-Akte nur wundern, wie ernst man ihn einst als Lyriker nahm: "Das Gedicht ist die Initialzündung für eine Reihe seitenlanger Lyrikexegesen mehrerer Ober- und Unterabteilungen, die als reinster Nonsens hell erstrahlen. Ein Geheimdienst, der sich für die Protuberanzen eines 16-Jährigen interessiert, muss in seinem zentralzerebralen Kern plemplem, völlig gaga sein."

Weitere Artikel: Harald Hordych war zur Veröffentlichung der "Borat"-DVD in Kasachstan unterwegs und fühlte sich als "Botschafter des schlechten Gewissens". Sabine Resch dekodiert die Botschaften der Mode-Designer. Auf der Historien-Seite geht es um die Kirche Heilig-Kreuz in Fröttmanning und den Pottwal. Vorabgedruckt wird die Erzählung "Die reizendsten Menschen der Welt" des Autors Hugo Hamilton. Im Interview spricht die Schauspielerin Angela Winkler über "Freiheit".

TAZ, 03.03.2007

Auf der Meinungsseite beklagt Mark Terkessidis die deutsche Unfähigkeit zum Debattenfortschritt: "Wenn es um Einwanderung geht, dann darf heute wieder über 'Integration' schwadroniert werden, als habe es seit den 1970er-Jahren überhaupt keine neuen Ansätze gegeben. Sowohl die Problemagenda als auch die Lösungsansätze sind die gleichen wie vor 30 Jahren. Auch beim Thema RAF schnappen die Reflexe der Vergangenheit mit solcher Heftigkeit ein, als seien die Anschläge erst gestern geschehen. Und wer gedacht hatte, dass zumindest der Atomausstieg unter Dach und Fach sei, der sieht sich getäuscht: Es gibt nicht eine richtungsweisende Entscheidung, die im deutschen Korporatismus nicht doch wieder unterhöhlt oder gar rückgängig gemacht werden kann."

Auf den Kulturseiten porträtiert Dorothea Marcus die israelische Autorin Savyon Liebrecht, deren Stücke jetzt auch in Deutschland entdeckt werden. Im Interview verwahrt sich der neue Rotbuch-Chef Matthias Oehme dagegen, als Stalinist bezeichnet zu werden: "Wenn mich jemand aber einen Kommunisten nennt, dann schmeichelt mir das." Ines Kappert erkennt in den USA und China die künftigen Schurkenstaaten in puncto Verhinderung des Klimawandels.

In der zweiten taz berichtet Richard Rother von seinem "Kippa"-Test in den Berliner Bezirken Neukölln und Lichtenberg: "Zwei arabische Jugendliche laufen auf dem Bürgersteig an mir vorbei, drehen sich um, und einer ruft in aggressivem Ton: 'Du Jude!' Dann gehen sie weiter - ich bin nicht allein, ein großgewachsener Kollege und ein Fotograf sind bei mir. Ich bin kein Jude, aber ich trage auf dem Kopf eine Kippa - die religiöse Kopfbedeckung der Juden. Ein Selbstversuch, der nicht ohne ist." Für Astrid Geisler belegt der Prozess gegen die Bücherverbrenner von Pretzien, dass hier der wohlmeinende Versuch, Rechtsradikale zu integrieren, gescheitert ist.

Besprochen werden Herbert Grönemeyers neues Album "Zwölf" und der Event-Zweiteiler "Die Flucht".

Im taz mag erzählt Frank Sandmann, wie er zum "Vater light" wurde - nämlich zum Teilzeitpaten für den Sohn einer alleinerziehenden Mutter. Susanne Stiefel hat die "Queen of Crime" Elizabeth George getroffen.

Rezensionen gibt es zu Wilhelm Genazinos neuem Roman "Mittelmäßiges Heimweh", zu Thomas Harlans Roman "Heldenfriedhof" und zu Kai Hammermeisters Buch "Kleine Systematik der Kunstfeindschaft". In der Rubrik "Politisches Buch" geht es um Josef Joffes Amerika-Porträt "Die Supermacht" und Manfred Messerschmidts große Studie ""Die Wehrmachtjustiz 1933-1945" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR, 03.03.2007

Peter Michalzik erklärt anlässlich des Resozialisierungsangebots an Christian Klar, wie die "Krawallschachtel" Claus Peymann funktioniert. Und warum seine Provokation - nicht weniger als die Peter Handkes - politisch unterkomplex sind: "Peymann und Handke glauben, dass auch politische Stellungnahmen dem Gefühl entsprechen und entstammen müssen, sie kleben an der Rede der Eigentlichkeit. Dabei treffen sie sich in ihrer Mischung aus misanthropischer Medienverachtung und professioneller Mediennutzung. Und sie haben sich beide die Naivität bewahrt, der eine im Werk, der andere im Auftreten, die für manchen Künstler notwendig ist, die sich aber bitter rächt, wenn man sich aufs politische Feld begibt."

Weitere Artikel: Im Interview spricht die Sopranistin Miah Persson über die Bedeutung ihres Aussehens, aber auch über Mozarts Arien: "Mozart gestattet nicht die Selbstdarstellung; und nicht, die Spitzentöne ewig auszudehnen, Fermaten darauf zu setzen, all das, was das Publikum so sehr kitzelt." Daniel Bartetzko gibt sich Mühe, dem neuen "mainBuilding" der Frankfurter Taunusanlage gerecht zu werden. Christoph Schröder hat eine Lesung von Galsan Tschinag besucht. In Karin Ceballos Betancurs "Bonanza"-Kolumne geht es heute um das Thema Haut.

Besprochen wird das - seit elf Jahren erste - Album von Tom Liwas Band Flowerpornoes mit dem schönen Titel "Wie oft musst Du vor die Wand laufen, bis der Himmel sich auftut?", eine Wiener Ausstellung mit Nathalie Djurbergs Puppen-Horror-Filmen, eine F.W. Bernstein-Ausstellung mit "Hesseköpp" im Frankfurter Caricatura-Museum, eine Ausstellung im Frankfurter Literaturhaus, die Hannah Arendts Verhältnis zur Dichtung nachzeichnet und eine "Johannespassion"-Konzert des Ensembles "Hochmusik". Eine Rezension gibt es zu Umberto Ecos Aufsatzsammlung "Im Krebsgang voran" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 03.03.2007

Unter dem Titel "Thomas Quasthoff, die Antwort auf Norah Jones" unterhält sich Josef Engels für die Online-Ausgabe mit dem Baritonsänger über die gerade fertig gewordene Jazzplatte, die er schon lange machen wollte. "Ich habe früher auch mal an dem Punkt gestanden, wo ich mich gefragt habe, ob ich nicht lieber Jazzsänger werden soll. Wenn man dann aber in den fünften Jazzclub fährt und da sitzen nur drei unterernährte Hansel im Publikum rum, die sich so gerade noch den Eintritt leisten konnten, dann ist das auf Dauer nicht unbedingt reizvoll. Irgendwann fragt man sich dann schon: Wovon soll ich eigentlich leben?"

Für die Literarische Welt macht sich der ungarische Schriftsteller Peter Zilahy Gedanken über "Kyrill" und das Wetter. "Das englische Wetter ist eine Shakespeare'sche Gestalt, ein mit allen Wassern gewaschener Tyrann: Alle schwärmen von ihm, und wenn er sich für einen Augenblick gnädig zeigt, bringen sie ihm freudig ein Opfer. Für die Deutschen ist das Wetter kein Thema. Das große Thema ist die Geschichte. Mit wahren Tyrannen und wahren Opfern.
Im deutschen Kontext taucht der Blitz als Blitzkrieg auf, der Sturm entpuppt sich als Feuersturm in Dresden. In Deutschland ist das Wetter ein Drahtzieher der Geschichte und folgt eigenen Regeln - in den vergangenen fünfzig Jahren hat es beispielsweise tendenziell Politiker mit 'Sch' begünstigt. Helmut Schmidt in Hamburg oder Schröder nach dem Hochwasser waren unbesiegbar."

Im Feuilleton stimmt Cosima Lutz auf die Wahlen in Estland ein. Gernot Facius erinnert an den protestantischen Kirchenlied-Dichter Paul Gerhardt, der vor vierhundert Jahren geboren wurde.

FAZ, 03.03.2007

Heinrich Wefing berichtet von der Trauerfeier für den Kunstsammler und "Beglücker Berlins" Heinz Berggruen in Berlin: "Berggruen verkörperte die beste Tradition der großen, ramponierten Stadt, und er wusste das." Schaudernd kommentiert "igl" den Fernsehzweiteiler "Die Flucht", der ein sehr, sehr schwacher Trost für fehlende deutsche Erinnerungsliteratur sei. Ganz erstaunlich findet Hannes Hintermeier dagegen die Geschichte von Veronika Peters, die über ihr Leben in einem Benediktinerinnenkloster nun ein Buch geschrieben hat. In seiner Kolumne "Geschmackssache" schwärmt Jürgen Dollase von Drei-Sterne-Koch Christian Bau und dessen "Hummer mit Korianderparfum, Blumenkohl-Yozu-Marinade und einem exotischen Hummertee". Patrick Bahners hat sich Helmut Schmidts Dankesvorlesung angehört, dem in Marburg die Ehrendoktorschaft verliehen wurde. Eduard Beaucamp erklärt uns, wie und warum Johann Joachim Winckelmann vor 250 Jahren den Klassizismus einläutete. Rüdiger Soldt gibt den neuesten Stand im Streit zwischen der Familie Baden und dem Land Baden-Württemberg durch. Wolfgang Sander gratuliert dem Saxofonisten Jan Garbareck zum Sechzigsten. Auf der Medienseite geht es um die Übertragungsrechte an Uefa-Spielen und die Casting-Show "Germany's Next Topmodel".

Die letzte Seite ist Robert Gernhardt gewidmet. Abgedruckt werden zwei Gedichte und eine Erzählung aus dem demnächst erscheinenden Band "Denken wir uns", in dem Gernhardt seinen früh ausgeprägten Willen, Erster zu sein, schildert.

Besprochen werden auf der Plattenseite das neue Album "Neon Bilbe" der sehr angesagten Band Arcade Fire, Herbert Grönemeyers Album "12" und Filmmusik von Ennio Morricone.

In Bilder und Zeiten berichten Britta Lange und Julia Voss, dass Australien nun auch von Deutschland die menschlichen Überreste seiner Aborigines zurückfordert, deren Skelette von europäischen Museen gern mit Etikett "australischer Wilder" ausgestellt wurden. Paul Ingendaay bilanziert das literarische Schaffen von Gabriel Garcia Marquez, der dieser Tage achtzig Jahre alt wird. Wiebke Hüster plaudert mit der Fotografin Mary McCartney.

Bücher werden auch besprochen, darunter die studentische Benimmfibel "Campus-Knigge", Louis Begleys Roman "Ehrensachen" und Silke Scheuermanns "Die Stunde zwischen Hund und Wolf" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie empfiehlt Henning Heske Erich Kästners Gedicht "Nachtgesang des Kammervirtuosen":

"Du meine Neunte letzte Sinfonie!
Wenn Du das Hemd anhast mit rosa Streifen...
Komm wie ein Cello zwischen meine Knie,
und lass mich zart in deine Seiten greifen..."