Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.01.2007. In der taz plädiert Claus Leggewie dafür, auf die Begriffe Islamofaschismus, aber auch Islamophobie zu verzichten. Die Welt fragt die 68er: Wir konntet ihr die Bundesrepublik für Feindesland halten? Und vergleicht Windows Vista mit dem Sachsenspiegel. In Le Monde erklärt Andre Glucksmann, warum er Nicolas Sarkozy wählen will. In der FR spricht Wilhelm Genazino über das Gefühl, ein Ohr zu verlieren. Im Tagesspiegel erklärt Documenta-Leiter Roger M. Buergel, wie er in Kassel den Gesellschaftskörper affizieren will.

Welt, 30.01.2007

Anlässlich der eher "lustlos" geführten Debatte um die Begnadigung der letzten RAF-Häftlinge resümiert Mariam Lau, wie sich die Bundesrepublik mit sich selbst versöhnt hat - wohl eher trotz aller Filme und Kunst zur RAF: "Was praktisch nie zu hören war - weder in der 'Fischer-Affäre', noch in irgendeinem der Prozesse, war die Stimme derjenigen, die zwar selbst nicht gewalttätig geworden waren, aber die Vorgänge mit der glühenden Anteilnahme, Melancholie und Depression verfolgt haben, wie sie die Schwester der Terroristin in von Trottas 'Bleierner Zeit' an den Tag legt. Wie konntet ihr die Bundesrepublik eines Willy Brandt oder eines Helmut Schmidt für Feindesland halten? Wie habt ihr da wieder herausgefunden? Lieber sprach man von Iphigenie. Angegruselt beobachtete man den Werdegang des Anwalts Horst Mahler, der von der Schlagenden Verbindung über die RAF dann wieder zum Rechtsnationalismus fand: always ultra."

Heute kommt das neue Windows-Betriebssystem Vista auf den Markt. Thomas Lindemann findet es in seiner kulturhistorischen Bedeutung nur mit dem mittelalterlichen Rechtsbuch Sachsenspiegel vergleichbar, wobei Vista die Abstraktionsleistung vom Bild zur Schrift wieder rückgängig macht: "Das neue Windows gibt sich elegant und reserviert - auf den ersten Blick. Es zeigt allerdings gleich, dass es keine bloße Arbeitsfläche mehr ist. Alles bewegt sich, alles fließt: Öffnet man ein Fenster, flutscht es sanft aus dem Hintergrund heran. Bewegt man eines, scheinen die anderen hindurch - 'Aero' nennt sich dies halbdurchsichtige Design. Am rechten Rand des Bildschirms ist Platz für kleine Hilfsprogramme: Dort tickt eine Uhr im Bahnhofs-Look, ein Feld zeigt wechselnde Wohlfühl-Fotos vom Ayers Rock bis zur Wolkenlandschaft. Eine kleine Tafel bietet Newsmeldungen." Außerdem gibt es eine neue Erkennungsmelodie, die Lindemann an den "Fliegenden Holländer" erinnert.

Weiteres: Im Interview mit Hanns-Georg Rodek spricht Berlinale-Chef Dieter Kosslick über die letzten Vorbereitungen. Fest steht jetzt, dass George Clooney nicht kommt, dafür Cate Blanchett. Uwe Schmitt beschreibt in der Randspalte, wie die Erben die Leiche des seligen James Brown fleddern. Besprochen werden Sonny Rollins' neues Album "Sonny Please", Ivan Liskas Rekonstruktion von Mairus Petipas Ballett "Le Corsaire" in München und Anselm Webers "Medea"-Inszenierung in Essen.

Weitere Medien, 30.01.2007

In Le Monde erklärt der französische Philosoph Andre Glucksmann, warum er zum ersten Mal in seinem Leben den rechten Präsidentschaftskandidaten - also Nicolas Sarkozy - wählen wird. Unter anderem weil Sarkozy einige republikanische Tabus brechen will: "Er preist die affirmative action, bricht mit der Idee einer bloß virtuellen Gleichheit, um tatsächliche Ungleichheiten, die durch Hautfarbe oder Herkunft entstehen, zu bekämpfen. Oder auch: Er preist öffentliche Hilfen zum Bau von Moscheen, damit die Gläubigen nicht in Kellern oder Orten, die von reichen Fundamentalisten gespendet wurden, beten müssen."

TAZ, 30.01.2007

Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie plädiert im Meinungsteil dafür, die Begriffe Islamofaschismus und Islamophobie aus dem Diskurs zu verbannen. Letzterer rücke legitime Religionskritik in die Nähe der Diskriminierung. "Es geht also um Eingrenzung - nämlich auf Fälle, in denen Muslime tatsächlich Angriffen ausgesetzt sind, ihre Moscheen, Schulen und Friedhöfe beschädigt werden und sie im Bildungswesen, Arbeitsleben und öffentlichen Einrichtungen auf Grund ihrer Religion oder wegen äußerer Erscheinung diskriminiert werden. Gibt es diese Eingrenzung nicht, schafft falsche Toleranz und Sensibilität nur einen Schonraum, in dem die islamische Welt auf selbstkritische Einsichten verzichten und ihren Opfermythos weiter pflegen kann."

Im Kulturteil meditiert Helmut Höge über das neue Nomadentum der Jobsucher und Immigranten. Antje Korsmeier lobt die von vier geisteswissenschaftlichen Institutionen gemeinsam veranstaltete Diskussionsreihe "Zwischenräume" für ihre Interdisziplinarität.

In der tazzwei ist Uwe Krügers Beitrag über die mobilfunkfreundliche Zensur in deutschen Redaktionen abgedruckt, erscheinen in der Journalismus-Zeitschrift Message.

Besprochen werden Constanza Macras' Choreografie "I'm not the only one" im Prater der Volksbühne Berlin, ein Konzert der altehrwürdigen Techno-Formation "Underground Resistance" auf dem Musikfestival club transmediale in Berlin, und die wieder aufgelegten Betrachtungen über "Das Meer" des Umweltpioniers Jules Michelet.

Und Tom.

FR, 30.01.2007

Im Interview mit Anja Hirsch spricht Wilhelm Genazino über seinen demnächst erscheinenden Roman "Mittelmäßiges Heimweh" und über das Gefühl des wie immer durchschnittlichen Helden, ein Ohr zu verlieren. "Ich bin irritiert und auch beruhigt, dass sehr vielen Lesern, mit denen ich bis jetzt schon gesprochen habe, das Gefühl, dass sie zuweilen ein Körperteil verlieren, dermaßen vertraut ist, dass man es ihnen nicht erklären muss. Der Leser nimmt die Sache als Gefühl auf. Er ist klüger als der bloß den Realismus verfolgende Theoretiker, der immer gleich erklärt haben möchte: Wie soll man das denn jetzt verstehen?"

Weitere Artikel: Daland Segler informiert, mit welchen Großprojekten das ZDF in diesem Jahr junge Zuschauer gewinnen und alte behalten will. Albrecht Lüter resümiert eine Tagung der Rosa-Luxemburg-Stiftung über "Ein weites Feld - Die Linke und Bourdieu". In einer Times mager hofft Mark Obert für das Interview mit den vielleicht bald frei gelassenen RAF-Terroristen Klein und Mohnhaupt tapfer auf einen unprätentiösen Kollegen.

Besprochen werden Richard Wagners "Tannhäuser" in der Inszenierung von Vera Nemirova an der Frankfurter Oper, Ulrich Rasches Dramatisierung von Virginia Woolfs Roman "Die Wellen" am Staatsschauspiel Stuttgart, Viktor Bodos und Andras Vinnais Stück "Pizzicato" am Deutschen Theater in Berlin, sowie der "gelungene" Episodenfilm "Paris je t'aime".

NZZ, 30.01.2007

Ursula Seibold-Bultmann berichtet, wie in Sachsen-Anhalt die Städte der schwindenden Bevölkerung angepasst werden. Susanne Ostwald gratuliert der Schauspielerin Vanessa Redgrave zum Siebzigsten. Besprochen werden zwei Tannhäuser-Inszenierungen in Hannover und Frankfurt am Main und Bücher, darunter Yasmina Khadras Roman "Die Attentäterin" und nachgelassene Aufsätze des Philosophen Donald Davidson (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Abgedruckt ist ein Gedicht von Ranjit Hoskote:

"Kriegsbericht

Kosala, 900 v. Chr.
Der Fluss erstickte an Leichen,
ihren und unseren;
die Eule schläft, Wächterin
schweifender Stunden. Über die Erde recht
eine hellwache Brise, die Hügel sind
eingeebnet unter unseren Erobererfüssen.
..."

Tagesspiegel, 30.01.2007

Documenta-Macher Roger M. Buergel spricht im Interview über die "etwas unentschiedene" Kunststadt Berlin und erklärt sein Motto "Bloßes Leben" für die Documenta XII: "Dieses Thema geht alle an, die gesamte deutsche Mittelschicht, die vom sozialen Absturz oder Abgleiten bedroht ist und sich der Auseinandersetzung nicht stellt. Alter, Tod, Krankheit, Kindererziehung - alle diese Themen konfrontieren mit Unsicherheit. Aber die Menschen denken lieber an Favelas, Palästinenserlager, Kindersoldaten im Kongo, Prostituierte in Bombay. All das darf sein, aber bitte nicht Arbeitslosigkeit in Kassel. Hier kommt die Ausstellung im ganz emphatischen Sinn zu ihrem Recht: Sie affiziert den Gesellschaftskörper."

SZ, 30.01.2007

Den ersten Profiboxkampf in Schweden seit 37 Jahren betrachtet Andrian Kreye als weiteren Schritt weg von der sozialdemokratischen Konsenskultur. "Die Schweden sind keine schlechten Boxer. Sie kämpfen mit sauberen, zielsicheren Kombinationen, die ihre internationalen Gegner an diesem Abend in schwere Bedrängnis bringen. Was kümmert es, dass auf der Scorekarte für Publikum und Journalisten keine Gewichtsklassen aufgeführt sind, dass auf den Monitoren keine Rundenuhr eingeblendet wird oder dass die Kämpfer in den Ecken auf hübschen Ikea-Hockern Platz nehmen müssen. An diesem Abend geht es weniger um stilistisch korrektes Boxen als vielmehr darum, dass sich die Fans ein Stück von jenem großen Traum zurückerobert haben, für den in Gleichheitsidealen der sozialen Marktwirtschaft kein Platz mehr war."

Weitere Artikel: Siggi Weidemann meldet, dass der niederländische Kabarettist Ewout Jansen, Teil des Duos "Ewout & Etienne", vom Sprecher einer Moschee in Amsterdam mit Todesdrohungen bedacht wurde. Bei der Rekapitulation der andauernden Diskussion um die Dresdener Waldschlösschenbrücke wundert sich Ira Mazzoni, mit welcher Nonchalance sich die Lokalpolitiker über den Weltkulturerbestatus hinweg setzen wollen. Mit dem klassischen Fernseher könnte auch das Wohnzimmer verschwinden, prophezeit Gerhard Matzig. Wolfgang Schreiber prüft in einer "Zwischenzeit", ob Uwe Nettelbeck als Nachfolger von Karl Kraus gelten könnte. Fritz Göttler überbringt Vanessa Redgrave Glückwünsche zum Siebzigsten.

Im Medienteil nähert sich Hans Hoff dem Geschäftsführer des Senders Vox, Frank Hoffmann.

Besprochen werden eine "überwältigende" Gesamtschau zu Tintoretto im Prado in Madrid, Claudia Meyers "großartige" Inszenierung des Torquato Tasso im Deutschen Nationaltheater Weimar, und Bücher, darunter Roger Boyes' "ärgerliche" Charakterisierung der Deutschen in "My dear Krauts", Patrick Leig Fermors Reisebericht über einen Fußmarsch nach Konstantinopel sowie ein Band mit Gesprächen zwischen Peter Handke und Peter Hamm, "Es leben die Illusionen" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 30.01.2007

Nachdem die Evangelische Kirche gestern recht schnöde abgebügelt wurde, geraten die Kulturseiten dieser Zeitung heute beim schönsten Mann im Vatikan, dem Privatsekretär des Papstes Georg Gänswein, den Hannes Hintermeier besuchen durfte, in Ekstase: "Traumbild eines Priesters, der die Damenwelt in Verzückung geraten lässt. Ein attraktiver Vertreter seines Geschlechts, die beste Werbung für die Generation fünfzig plus (nun gut, Gänswein ist noch nicht einmal einundfünfzig). Gardemaß, graumeliert, gertenschlank, schwarzer Talar, leuchtend rote Seidenschärpe, Manschetten zum blütenweißen Hemd, eine schlichte goldene Armbanduhr mit Lederband, kein Ring." Und Single.

Weitere Artikel: In der Leitglosse schildert Jordan Mejias einen Auftritt der bisher zurückhaltenden Jane Fonda bei Demonstrationen gegen den Irak-Krieg als Zäsur in seiner öffentlichen Wahrnehmung. Wiebke Huester schreibt zum Tod des Choreografen Glen Tetley. Andreas Kilb annonciert für heute eine Gerichtsentscheidung über das weitere Schicksal des Berliner Flughafens Tempelhof und bemängelt, dass die Stadt noch kein Konzept für das Gelände gefunden hat. Gina Thomas gratuliert Vanessa Redgrave zum Siebzigsten. Alexander Cammann berichtet von einer Feier des Merve-Verlags in Berlin, dessen Verleger Peter Gente sich zurückzieht. Rechtsprofessor Gerd Roellecke extemporiert über die Frage der Gesetzesbindung der deutschen Richter.

Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld von den Scharmützeln um die Christiansen-Nachfolge, in denen der WDR gegen die favorisierte Anne Will immer noch Frank Plasberg in Stellung bringt. Auf der letzten Seite schwärmt Felicitas von Lovenberg vom Hanser-Verlag, der gerade von Buchhändlern zum Verlag des Jahres gekürt wurde. Wolfgang Sandner skizziert ein Porträt des ungarischen Komponisten Peter Eötvös, der im März den Frankfurter Musikpreis erhält. Und Andreas Rossmann meldet, dass das Westfälische Landesmuseum für Kunst und Kultur in Münster einen Neubau des Architekten Volker Staab bekommt.

Besprochen werden die neue CD von Damon Albarn, Virgina Woolfs "Wellen" in Stuttgart, Gemälde von Rolf-Gunter Dienst und Dieter Krieg in Bonn und "Tannhäuser"-Inszenierungen in Frankfurt und Hannover.